„Der Anfang ist gesetzt, aber Europa ist größer.“ Unter diesem Titel veröffentlichte mein Vater im Jahr 1984 einen Aufsatz über die Notwendigkeit, ein gemeinsames Europa zu bauen. Er schrieb damals:
„Es ist höchste Zeit, daß die Europäer ihren Kontinent – in dem Wort steckt continere, zusammenhalten – als einen Raum des Friedens, der Menschenrechte und der Freiheit träumen, der vom Atlantik bis zum Ural, vom Nordkap bis zum Mittelmeer reicht. Die Visionen der jüdischen Propheten, die Bergpredigt Jesu, die Inspirationen klassischer Philosophie, Entdecker- und Erfindergeist der Wissenschaft, politische Kultur, dem Gedanken der Zähmung der Macht verpflichtet, nahmen hier Gestalt an und wurden immer wieder zerstört durch menschliche Dummheit und Hybris.“
Europa – ein Raum der Freiheit, des Rechts und des Friedens! Das ist ein Gedanke, der bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Politikern wie Gustav Stresemann und Aristide Briand vorgedacht wurde. Das Mittel zum Erreichen des Zweckes waren die verschiedenen weltumspannenden oder auch europäischen Vertragswerke und Gemeinschaften (Verträge von Locarno, Völkerbund, zahlreiche bilaterale Nichtangriffsverträge, später UNO, Montanunion, EURATOM, EWG, EG, heute die EU).
Freiheit, Recht und Einigkeit – diese Werte stehen auch an der Wurzel der deutschen Wiedervereinigung, die am 3. Oktober 1990 gefeiert werden konnte. Die deutsche Wirtschafts- und Währungsunion stand von Anfang an ausschließlich im Dienste dieser übergeordneten Ziele.
Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird auch als das wesentliche Ziel der Europäischen Einigkeit angegeben (Art. 3,2 des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992). Ihm dienen die Freizügigkeit in Wirtschaft und Handel, ihm dienen die gemeinsame Aufsicht über die Einhaltung der Menschen- und der Minderheitrechte, ihm dienen gemeinsame Anstrengungen wie etwa die europäische Gerichtsbarkeit, die Währungsunion (der Euro), das europäische Zivilverfahrensrecht, der Europarat, das Europäische Parlament.
Am heutigen Tag erinnere ich mich dankbar der Leistungen unserer Großeltern und Eltern: sie haben mir und meiner Generation alle Bausteine in die Hand gegeben, um diesen Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit kräftig auszubauen und zu sichern.
Wir haben es in der Hand, dieses Geschenk weiter zu hegen und zu pflegen.
Es lebe der Raum des Rechts und der Freiheit, der Gedanke des Friedens vom Atlantik bis zum Ural, von Sizilien bis Lappland!
Ein Anfang ist gesetzt, die Europäische Union ist viel mehr als der Euro, Europa ist mehr als die Europäische Union!
Blüh im Glanze des Glückes, es blühe Europa, es blühe die Einigkeit in der Vielfalt der europäischen Nationalstaaten! Ich zitiere noch einmal meinen Vater:
„Ein freies, sich nach dem Willen seiner Völker bildendes Europa würde rasch das Erbe des Chauvinismus hinter sich lassen. Dazu bedarf es aber stärkerer Motive als nur ökonomischer.“
Quelle: „Der Anfang ist gesetzt, aber Europa ist größer„, in: Christ und Bildung, 30. Jg., Heft 5, Mai 1984, S. 102-103. Zitiert nach: Johannes Hampel: Von Troppau bis Czernowitz. Vermächtnisse eines Mitteleuropäers im 20. Jahrhundert. Festschrift zum 70. Geburtstag. Bukowina-Institut Augsburg 1995, S. 121-123
Bild: Straßenschilder in meiner jetzigen Heimat Friedrichshain-Kreuzberg: In Köthen wirkte Johann Sebastian Bach von 1720-1723. Gustav Stresemann (1878-1929) bewirkte 1926 als Außenminister maßgeblich die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund.
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