„In der Kunst ist bloß ein einziges System gestattet: Systemlosigkeit.“ Dieses großartige Wort schrieb der Geiger Carl Flesch als Fußnote in das Vorwort seines 1926 erstmals erschienenen Skalensystems. Ich zitierte es ausführlich am vergangenen Sonntag in einem Konzert junger Geiger, das im Carl-Flesch-Saal der Universität der Künste stattfand, und versäumte nicht, den Rang dieses Werks, das eine dichtgedrängte Folge von zergliederten Tonleiter- und Akkord-Übungen darstellt, herauszustreichen. Noch wichtiger aber als das systematische Zergliedern, das kraftsparende Pflegen und Stärken der geigerischen Technik ist die persönliche Hinwendung zum eigenen Spiel mit Ohr und Hand. Jeder Geiger muss sich immer fragen: „Will ich das so spielen?“ Und diese ständige Selbstbeobachtung, Selbststeuerung entsteht nur dann, wenn vorher eine verlässliche Lehrer-Persönlichkeit dem Schüler diese Zuwendung, diese Außenbeobachtung geschenkt hat.
Mein eigener hochverehrter Geigenlehrer, Friedrich Schirbel, ehemals Mitglied der Berliner Philharmoniker, später Konzertmeister des Städtischen Symphonieorchesters Augsburg, erzählte mir während der Geigenstunden immer wieder von den Lehren und Erfahrungen dieser großartigen Persönlichkeit, die Carl Flesch war.
Schirbel, der Kindheit und Jugend in Berlin verbrachte, hatte selbst noch bei Flesch Unterricht genommen. „Flesch war unerbittlich im Unterricht. Faule Ausreden duldete er nicht. Aber spieltechnische Probleme, Schwierigkeiten zerlegte er unbestechlich in Elemente, löste schwierige oder unspielbare Stellen in Teilaufgaben auf – und führte uns so Schritt für Schritt weiter zur Vollendung.“
Carl Flesch wurde 1873 in Ungarisch Wieselburg geboren. Bukarest, Wien, Berlin, Amsterdam waren einige Stationen seines Geigerlebens. Er starb 1944 in Luzern. An Flesch liebe ich neben seinen treffenden, auch heute noch unerschöpflichen pädagogischen Handreichungen auch sein hervorragendes, unnachahmliches, bis in den letzten Nebensatz hinein gepflegtes Deutsch, ein im besten Sinne edles Deutsch, das mich in manchem Tonfall, in der Tonart gewissermaßen, an das mit hellsichtiger Seelenfreundschaft wirkende Deutsch eines Sigmund Freud, eines Franz Kafka erinnert.
So schreibt Flesch in seinem Skalensystem:
„Ich habe lange gezögert, ehe ich mich dazu entschloß, das in alle Tonarten transponierte Skalensystem* zu veröffentlichen. Denn bisher bin ich ein Gegner der allzuvielen Ausgaben dieser Art gewesen, die zumeist einander gleichen, wie ein Ei dem anderen, und denen nur selten ein origineller Gedanke zugunde lag.“
Hierzu ergänzt er in der Fußnote:
„Auch den Ausdruck „System“ gebrauche ich nur der Not gehorchend, weil mir eben keine prägnantere Bezeichnung in den Sinn kam. Ich beabsichtige damit bloß die festgefügte praktisch-erprobte Form, jedoch nicht eine starre unelastische Übungsart zu bezeichnen, die dem Wesen echter künstlerischer Freiheit stets entgegengesetzt ist. In der Kunst ist bloß ein einziges System gestattet: Systemlosigkeit.“
Carl Flesch: Das Skalensystem. Tonleiterübungen durch alle Dur- und Moll-Tonarten für das tägliche Studium. Ein Anhang zum I. Bande von „Die Kunst des Violinspiels“. Verlag von Ries&Erler. Berlin 1953 [Erstausgabe: 1926]
Bild: Die Geigen unserer jungen Geiger im Alter von 4 bis 10 Jahren, aufgenommen im Carl-Flesch-Saal vor dem Konzert
Sorry, the comment form is closed at this time.