Jun 112014
 

An Pfingsten, dem „lieblichen Fest“  versuchte ich einige Seelen für einen Besuch bei Kain zu gewinnen. Und bei mir vor der Kreuzberger Haustür tobte zeitgleich der Karneval der Kulturen mit offiziell 740.000 Besucher*innen. Beste Gelegenheiten!

Ein glühender Hauch hing über der Stadt Berlin, es war das heißeste Pfingstfest seit Beginn der Aufzeichnungen. 

 

Ich wartete bis 15.58 Uhr und murmelte der steinernen, geduldigen Königin Luise ein paar Verslein aus dem Purgatorio und aus dem Faust II zu. 

 

Das Warten in der sengenden Hitze Arkadiens half, denn ich fand dadurch das ganz große entscheidende Thema heraus, nämlich die Frage des Umgangs mit Schuld und Scheitern, auch die Frage des Verzeihens.

μειζων η αιτια μου του αφεθηναι με.

„Meine Schuld ist zu groß, als dass sie mir vergeben werden könnte.“

So sagte es laut der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, Kain, der Brudermörder, nachdem Gott ihm auf die Schliche gekommen war. Kain erkannte die Schwere seiner Schuld. Sie schien ihm untragbar und unverzeihlich.

Was mochte Königin Luise wohl zum Kains-Thema denken? Für Königin Luise gab es ja den Vertreter des Bösen schlechthin, das moralische Scheusal, den Kain in moderner Gestalt. Sie begegnete ihm am 6. Juli 1807 in Tilsit. Zweifellos änderte sie bei dieser persönlichen Begegnung ihr vorgefasstes Bild vom Menschen Napoleon. Sie vermenschlichte ihn gewissermaßen, sie entdämonisierte ihn, wie wir zweifelsfrei aus ihren Äußerungen schließen dürfen.   Wäre sie bereit gewesen ihm zu verzeihen?

 

Als krönenden Schlussstein des Gedankenganges erreichte ich schließlich das Evangelium nach Johannes von Pfingsten:

 ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς, ἄν τινων κρατῆτε κεκράτηνται.

„Nehmt den heiligen Hauch. Wenn ihr die Verfehlungen irgendwelcher vergebt, sollen sie ihnen vergeben werden. Wenn ihr sie verfestigt, sollen sie verfestigt sein.“

 

Die Nachfolger Jesu haben – so die Ansage des Johannes in Joh 20, 21-23 – die Gabe und den Auftrag, Sünden zu vergeben.  

Verzeihung der Schuld, das ist also laut Jesus keine Gnade, kein Wunder, keine Leistung der Flüsse Lethe und Eunoe, keine Leistung des Vergessens (Lethe) oder des Wohlwollens (Eunoe), sie ist keine überpersönliche Einwirkung der arkadischen Natur, wie das Goethe zu Beginn des Faust II, wie es Dantes Matelda in Purgatorio XXVIII verkündet, sondern eine persönliche Erfahrung  der vom Geist angeleiteten Begegnung zwischen Menschen in Fleisch und Blut.

Diese Verzeihung erfolgt aus der Freiheit des Entscheidens. Sie ist weder an einen Ritus und noch viel weniger an ein bestimmtes Gottesbild geknüpft. Sie ist an den Geist und an den Menschen geknüpft. Sie ist zweifellos an sprachliches Handeln geknüpft. Sie vollzieht sich im Medium des in Freiheit gesprochenen Wortes.

 Posted by at 23:39

Sorry, the comment form is closed at this time.