„Vom Schwung des Vormärzes oder von späteren Erfolgen der Emanzipation etwa spürt man eigentlich gar nichts; in dieser deutschen Geschichte ist außerdem kein Dürer, kein Melanchthon weit und breit, keine Weimarer Klassik (nur „ein besonders lebendiges intellektuelles Klima“ im 18. Jahrhundert), kein Kant, kein Hegel, kein Marx oder Heine, kein Nietzsche, kein Thomas Mann. „
Ein guter Einwand, den Johan Schloemann heute in der Süddeutschen Zeitung sehr gezielt gegen die bei den Deutschen herrschende Sicht auf die deutsche Geschichte erhebt! Denn was er da über Andreas Fahrmeirs neues, auf 120 Seiten gerafftes Destillat der deutschen Geschichte sagt, das gilt mit endlosen, ermüdenden Variationen auch für die Grundhaltung, welche die Reden zum 3. Oktober prägt. Das Gute, das Schöne und das Wahre kommt in der deutschen Geschichtserzählung nicht mehr vor, die Guten, die da gewesen sind, werden nicht mehr gepflegt, sie kommen einfach nicht mehr vor. Es wird fast alles überschattet von dem berühmten Dodicennio, den berühmten alles überstrahlenden 12 Jahren. Darin hat Höcke recht. Leider.
Teurer europäischer Freund! Du fragst nach den Feierlichkeiten, ich antworte Dir: Da ist keine Freude an der Geschichte bei den Deutschen, keine produktive Aneignung mehr zu spüren; ein raunendes graues Gespinst aus Scham, Schuld und immerwährender Verantwortung ist mittlerweile in deutscher Sicht Synonym für die deutsche Geschichte überhaupt geworden. Alles, wirklich alles andere darf wegfallen, aber die immerwährende Verantwortung dafür muss jede und jeder höchstpersönlich einfach übernehmen. Drunter geht es absolut nicht.
Eine zweite Stimme sei gerade heute zitiert:
Warum vermag Deutschland heute keinerlei machtvollen, zukunftsträchtigen Impulse zur Gestaltung Europas, geschweige denn zur Bewältigung der schwierigen geostrategischen und militärischen Herausforderungen beizusteuern?, fragt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Berman im Gespräch mit der italienischen Journalistin Viviana Mazza. Dahinter schwingt die stumme Frage mit: Warum ist Deutschland so zukunftsabgewandt, so verstrickt in sein vergangenes Dodicennio? Seine Antwort lautet: „È un grande Paese con la qualità di un vulcano spento.“ Deutschland, so sagt es Paul Berman, ist „ein großes Land mit der Qualität eines erloschenen Vulkans“.
Nachweise:
Johann Schloeman: Erbe kaputt. Deutsche Geschichte – was heißt das genau jetzt und heute? Andreas Fahrmeir hat auf knappstem Raum eine Gesamtdarstellung gewagt. Pathosfrei vergegenwärtigt er eine Entwicklung ohne Ziel, ohne Telos. Süddeutsche Zeitung 2./3. Oktober 2017, S,. 11. [=Rezension von: Andreas Fahrmeir, Deutsche Geschichte. C. H. Beck, München 2017]
http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-erbe-kaputt-1.3690697
Zitat Paul Berman im Gespräch mit Viviana Mazza: La Repubblica, venerdì 7 Luglio 2017, Seite 4
Foto: Statue der Hl. Katharina von Alexandrien, Dom zu Magdeburg, 13. Jahrhundert
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