Jan 072016
 

20160106_125357[1]

Fragt man einen Menschen auf der Straße nach dem „größten deutschen Dichter“, so werden die meisten wohl den Namen Goethes nennen. „Und was wissen Sie sonst noch von ihm, außer der Tatsache, dass er als der größte deutsche Dichter gilt?“ Hier werden die Antworten schon spärlicher ausfallen, der eine oder andere wird sich noch dunkel an das eine oder andere Verslein erinnern, etwa passend zum derzeitigen Wetter:

„Ein großer Teich war zugefroren,
Die Fröschlein in der Tiefe verloren …“

Ansonsten kann man sich heute felsenfest darauf verlassen, dass die Deutschen im allgemeinen wenig oder nichts mehr vom sogenannten größten deutschen Dichter wissen, kennen oder auch nur wissen wollen. Aus dem Geheimen Rat Goethe ist somit ein Geheimer Unrat Goethe geworden, so wie aus Prof. Dr. Immanuel Rath im Blauen Engel der Professor Unrat ward. Weniger geheim ist der Unrath Goethe allerdings in dem Un-Denkmal, das das Goethe-Institut Prag am Masaryk-Ufer in Prag errichten ließ. Dort suhlt er sich inmitten verkohlter Bücher, ausgemusterter CD-Rohlinge und sonstigen Mülls.

Die Verhunzung, Beleidigung oder Verunstaltung Goethes – und damit wohl auch Deutschlands – ist ein offiziöser deutscher Volkssport geworden. Die wenigen Goethe-Aufführungen, denen ich in letzter Zeit an staatsfinanzierten Bühnen beizuwohnen Gelegenheit hatte, beweisen dies sinnfällig. Aber nicht nur der Geheime Unrath Goethe ist betroffen. Eine Reise nach Hannover, wo derzeit an der Staatsoper Carl Maria von Webers „Freischütz“ durch eine vor den Augen des Publikums inszenierte Penis-Amputation, eine Kastration also geadelt wird, glaube ich mir ersparen zu können. Kastration, Selbstmord, Volksverhetzung, Vermüllung, drunter machen sie’s offenbar nicht mehr. Gut und löblich bleibt hervorzuheben, dass in Hannover eine Altersempfehlung „ab 16 Jahre“ ausgesprochen wurde! Wie schlimm wäre dies auch, wenn die Hannoversche Jugend schon vor dem 16. Lebensjahr mit Carl Maria von Webers großartiger Oper von 1822 in Berührung käme! Ihhh!

Mit Goethe, mit Webers Freischütz versucht das offiziöse, staatstragende Deutschland nunmehr offenbar auch das Deutsche schlechthin, die deutsche Sprache schlechthin madig zu machen, endgültig zu entwerten. Wie anders wäre es zu erklären, dass in der deutschen Hauptstadt Berlin über Jahre hinweg – bis vor wenigen Monaten noch habe ich das mit eigenen Augen gesehen und fotografiert – der Schriftzug „Deutschland verrecke“ in diesen Tagen, diesen Jahren auf einem Friedrichshainer Hausdach deutlich zu lesen war? Kein anderes Land der Erde würde eine derartige Volksverhetzung gegen das eigene Volk, gegen den eigenen Staat seelenruhig sichtbar stehen lassen!

Denn wer in sich selbst das Deutsche so haßt, wer sich selbst so haßt, wie das die zweifellos deutschen Verfasser des Schriftzuges an der Revaler Straße tun, der wird mit der größten Seelenruhe seinen Haß auch gegen andere Menschen, gegen andere Völker richten, und umgekehrt: Aus einem Massenmörder kann in größter Bedrängnis jederzeit ein Selbstmörder werden. Und wer sich selbst total entwertet und mörderisch hasst, der wird immer in Versuchung stehen, andere Menschen an seiner Statt zu entwerten und zu ermorden, um den Haß vom eigenen Selbst abzulenken.

Die Objekte des Hasses sind austauschbar. So erkannte es völlig zu recht der große Amateur-Archäologe des klassischen Altertums, der Tiefseeforscher der menschlichen Psyche, der österreichische, deutschsprachige Wiener Arzt mit dem typisch deutschen Vornamen Sigmund: Sigmund Freud.

Die kaum verhüllte Selbst-Psychoanalyse des Selbstmörders, dessen millionenfach verschenkte und gekaufte Autobiographie morgen – wissenschaftlich kommentiert – erneut auf den Markt geworfen wird, wird Freuds Erkenntnisse erneut bestätigen. Ein Buch, das zweifellos neben der überraschend aufschlussreichen Selbst-Psychoanalyse des österreichischen Verfassers viele Einsichten in die Gefühlslage und die machtpolitischen Verhältnisse Österreichs und Europas nach dem Ersten Weltkrieg ermöglicht und das aus diesem Grunde für Historiker und Politologen einen kaum zu überschätzenden Erkenntniswert bereithält. Vor allem aber ist dieses Buch, in den Worten des Historikers Christian Hartmann, des Chefkommentators von Adolf Hitlers Mein Kampf, „ein Entwicklungsroman, bei dem die Liebe fehlt!“

Und so mag denn am Ende dieser heutigen Betrachtung genau dieses Wort des Historikers Christian Hartmann von der „fehlenden Liebe“ im Leben stehen. Die Antwort auf den Haß kann, soll und darf, so meine ich, nicht der Haß auf den Hassenden sein. Die Antwort auf den Selbsthaß und die Selbst-Verhetzung der heutigen deutschen Deutschlandhasser darf nicht die Entwertung oder Abschaffung der deutschsprachigen Kultur oder des Deutschtums schlechthin sein, sondern die stärkere Gegenmacht des Erbarmens und der Liebe gegenüber allen Lebenden und Überlebenden.

Also denn, Freunde, nichts für ungut. Oder, wie der Jude seit Ewigkeiten sagt: לחיים – auf das Leben!

Zitatnachweis für Christian Hartmann:
Süddeutsche Zeitung, 4. Januar 2016, Seite 4

Bild: am Geburtshaus Marlene Dietrichs, Berlin, Aufnahme vom 06.01.2016

 Posted by at 12:41

„Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“

 Europäisches Lesebuch, Haß, Staatlichkeit, Tugend, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für „Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“
Aug 102015
 

Schloss Wusterhausen20150808_173017

Unser denkwürdiger Besuch vorgestern im Jagdschloß Wusterhausen! Die ungelenken Malübungen des Königs, aufgehängt im Festsaal des Schlosses, verfehlten in all ihrer grotesken Übertreibung eine anrührende Wirkung nicht. Man merkt den Bildern an, aus welchen körperlichen und seelischen Schmerzen sie entstanden sein müssen. „Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“, bemerkt der König selbstkritisch einmal. Der König hatte Wassersucht und Gicht, das Malen war seine Ergotherapie. „Nun malte König Friedrich Wilhelm seine Bauern, wie er vordem immer sein Gesinde zu porträtieren pflegte, als sei ein treues Gesicht so rar, daß man es festhalten mußte! Fünf Tage brauchte König Friedrich Wilhelm für ein Bild; und wenn er gar zu große Schmerzen hatte, ließ er sich auch noch die Umrisse vorzeichnen“, schreibt Jochen Klepper in seiner Biographie „Der Vater. Roman eines Königs“.

„Ich muß sagen das ich mich nit Ruinieren kan weitter mein geldt wegzuschmeißen und ich es vor Gott und meine kinder nit verandtworten kan da Preußen mir klug gemachet. graben Bauen viehe kauffen ist aus und werde mit Gottes hülfe kein pfen mer verquaquelen den ich die Risee bin gewehsen von der gantzen Weldt und meine schöne verfassung armée und alles übern hauffen zu gehen sehr sehr nahe gewesen“

So äußerte sich – hier in originaler Schreibung wiedergegeben – König Friedrich Wilhelm I., als ihm eins der kühnsten Infrastrukturprojekte des 18. Jahrhunderts, der Elbe-Havel-Kanal vorgelegt wurde. Die damals nur vorgedachte, durchgehend schiffbare Verbindung zwischen Elbe und Havel wurde erst im 20. Jahrhundert hergestellt.

Man sieht: der Staatsbankrott, die Zahlungsunfähigkeit des Staates waren zu Beginn der Regierung von Friedrich Wilhelm I. nicht nur ein Schreckgespenst, sie waren eine echte Gefahr! Die Mittel gegen den drohenden Staatszerfall, die im Laufe der Jahre 1713-1740 zum Erfolg führten, dürften zum Teil überzeitlich gültig sein: Pflichttreue, Sparsamkeit (beginnend bei der Hofhaltung), drastische Sparmaßnahmen, Landesausbau, Förderung und Ansiedlung der Gewerbe, Ausbildung der Bauern und Bäuerinnen in Haus- und Feldwirtschaft,  Ansiedlungsmaßnahmen in schwachbesiedelten Gebieten – etwa im Oderbruch und im pestverheerten Litauen, gezielte Ansiedlung und Aufnahme von Vertriebenen und Asylanten (15.000 Religionsflüchtlinge aus Salzburg!), Kampf gegen Korruption und Bestechlichkeit, Verwaltungsreformen, Straffung der Administration, Herausbildung einer absolut loyalen Beamtenschaft, Beschneidung der Privilegien der oberen Stände.

Dann aber auch der Haß, das tiefe, unheilbare Zerwürfnis mit dem eigenen Sohn! „- er eigensinniger, böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet!“, schreibt der Vater dem Sohn.  Klepper merkt an: „Der einundvierzigjährige Mann und der siebzehnjährige Jüngling saßen, durch wenige Stufen, Wände und Balken getrennt, am Schreibtisch und klagten sich in Briefen an, als gelte es, aller Welt und künftigen Zeit die Dokumente solcher Erbitterung zu überliefern.“

Die Briefe der beiden sind erhalten. Unfassliche Dokumente des abgrundtiefen Grams, die sich mühelos an die Seite der Gemälde des Königs stellen lassen.  Welches Bild des gequälten, verlassenen,  verworfenen Menschen tritt da hervor?

Quellen:
Jochen Klepper: Der Vater. Roman eines Königs. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 5. Aufl. 1986, hier bsd. S. 488-489, S. 613-614, S. 620-621

„Geschichtsmächtiger Sonderfall der territorialstaatlichen Entwicklung: Brandenburg-Preußen“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 916-920

Bild: Ansicht des Jagdschlosses in Königs Wusterhausen, Aufnahme vom 08. August 2015

 

 Posted by at 17:33
Apr 042015
 

Die gegenwärtige Passionszeit bringt eine erhöhte Häufigkeit an theologischen, pseudotheologischen und kryptotheologischen Aussagen an den unvermutetsten Stellen mit sich. Was Nietzsche seinerzeit einem Hegel, einem Schelling vorwarf, dass sie nämlich keine echten Philosophen, sondern eigentlich „noch“ Theologen oder nur „Halbpriester“ seien, – was freilich Hegel und Schelling nicht als Vorwurf verstanden hätten, – das gilt in noch stärkerem Maße mitunter von den heutigen Historikern.

Was soll man etwa von folgendem Satz halten:
Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.

Ich meine: Dies ist ein rein theologischer Glaubenssatz, der nur vor dem Hintergrund des Johannes-Evangeliums sinnvoll zu verstehen ist (Joh 1,14). So wie in Jesus Christus Gott Fleisch geworden ist, also inkarniert ward, so ward in Deutschland und nur in Deutschland das absolute Böse inkarniert, also „eingekörpert“. Das ist der Dreh- und Angelpunkt so mancher Debatte, die sich damit von jeder Wissenschaftlichkeit entfernt. In solchen Sätzen entspringt die negative antideutsche Ideologie, die Germanophobie, die gerade in diesen Tagen wieder lebhaft beschworen wird.

„Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.“ Mit diesem „Credo in unum malum“ wurde jüngst ein namhafter, bestens ausgewiesener Neuzeit-Historiker von der Universität Freiburg zitiert (SZ, 20.03.2015). Hat er es wirklich so gesagt? Dies zu glauben fällt allerdings schwer. Aber der Satz wird ihm so zugeschrieben.

Wie auch immer: Es wimmelt in den zeitgeschichtlichen und politischen Debatten von derartigen Glaubenssätzen, es werden auf Schritt und Tritt Frageverbote, Tabus und Anathemata aufgestellt, es werden Bannflüche gegen Häretiker und Zweifler erlassen und Einzigartigkeitsthesen in den Raum gestellt, wie sie zu gottgläubigen Zeiten allenfalls an den theologischen Fakultäten noch denkbar waren.

Der deutsche Historikerstreit der Jahre 1986/1987 etwa, der ja um den Begriff der Einzigartigkeit kreiste, war im Grunde eine Art kryptotheologischer Debattierklub, bei dem umfassende Quellenaufarbeitung, vorurteilslose Beiziehung aller verfügbaren historischen Zeugnisse in den 10 oder 12 wichtigsten europäischen Sprachen (darunter auch Italienisch, darunter auch Russisch) fast keine Rolle spielten. Eine wissenschaftliche Bankrotterklärung. Ein Verzicht des historischen Begreifens auf jede Historisierung, ein Verzicht auf Motivationsforschung! Und dafür, für diese Selbstaufgabe der Wissenschaft, kann man bis in unsere Tage wahrlich zahllose Beispiele anbringen.

Wie steht es nun mit der logischen bzw. theo-logischen Kategorie der Einzigartigkeit? Das Eine, das Einzige, gibt es das? Falls ja, welche Aussagen kann man über das Eine sinnvollerweise machen? Ein uraltes philosophisches Problem, das Platon in seinem „Parmenides“ in vortrefflicher, später nicht mehr oder allenfalls bei Hegel erreichter Komplexität durchdenkt und in letztlich nicht auflösbare begriffliche Aporien hineinführt.

Der nicht logische, sondern theo-logische Ausweg aus diesen Aporien, den die berühmten drei monotheistischen Religionen suchten, lautete in etwa: „Es gibt nur eine einzige einzigartige Wesenheit – wir nennen diese singuläre Wesenheit Gott.“ Es gibt nur einen Gott. Ein Gott! Und wenn es nur Einen Gott gibt, so gibt es in der Zeitgeschichte nur Einen Teufel – eben Nazi-Deutschland. So einfach ist das. Sancta Simplicitas! Man kann es aus lauter Verzweiflung nur noch ins Lateinische übersetzen, um sich den versteckten theologischen Hintergrund der aktuellen zeitgeschichtlichen Debatten verständlich zu machen: „Germania nationalis-socialista vere incarnatio diaboli erat.“

Deutschland als Inkarnation des Bösen! Das ist natürlich keine Theologie, keine Historie, es ist keine Wissenschaft, sondern … es ist ein unbeweisbarer und auch unwiderlegbarer Glaube an das absolute Böse, das in Deutschland Fleisch geworden sein und unter uns gewohnt haben soll.

Quelle:
Johannes Wilms: Krieger, Sieger und Besiegte. Elmau, die Tagung: Historiker untersuchen Europas gefährdeten Frieden [=Tagungsbericht zur Elmauer Tagung „A peace to end all peace“]. Süddeutsche Zeitung, 20. März 2015, S. 12

 Posted by at 20:30

Esel, Hund und Affe, oder: „Wie alt möchtet ihr werden?“

 Ey Alter, Haß, Mären  Kommentare deaktiviert für Esel, Hund und Affe, oder: „Wie alt möchtet ihr werden?“
Jul 082013
 

2013-04-24 19.37.39 „Alter Mann, alter Mann, du bist ein alter Opa, und wir hassen dich!“ So sprangen einem alten Mann heute in einem Kreuzberger Hinterhof drei Kinder hinterdrein und äfften ihn kläffend mit Fratzen.  Wie sie auf den Spruch kamen, weiß er nicht. Vielleicht weil er bedächtigen Schrittes das Fahrrad schob, statt jugendlichen Schwunges zwischen den Kindern hindurchzubrausen wie alle anderen Radfahrer?

Der alte Mann wandte sich den Kindern zu: „Ja, ich bin alt, sehr alt. Hasst ihr denn alte Männer?“ Er bekam keine Antwort. „Wie alt möchtet ihr denn werden?“ Schweigen im Walde bei den Kindern! Damit konnten sie nicht rechnen.

Da wandte der alte Mann sich den Kindern zu und fing an eine Geschichte zu erzählen,  die er vor einiger Zeit auf freiem Felde unter dem uralten Standbild des  Herkules in Cassel im Vorübergehn gehört hatte. So ging sie:

Als Gott die Tier und Menschen erschaffen hatte, wies er einem jeden seine Lebenszeit zu. Dem Esel gab er 30 Jahre. Da beschwerte sich der Esel: „Ach, der strenge Müller vergilt mir meine Dienste schlecht. Er lässt mich schwere Maltersäcke schleppen, und wenn die krummen Beine nicht mehr mittun, jagt er mich davon. Erlass mir einen Teil!“ Da nahm Gott dem Esel gnädig 18 Jahre weg. Und deshalb werden Esel 12 Jahre alt.

Dem Hund wies er auch 30 Jahre zu, doch der Hund beschwerte sich: „Tag und Nacht soll ich dem Menschen wachen und Räuber verjagen, aber wenn ich nicht mehr bellen kann, wirft er mit Steinen nach mir. Schenke mir einen Teil der Jahre.“ Da erließ Gott dem Hund 12 Jahre,und deswegen sterben Hunde spätestens mit 18.

Dem Affen bot Gott auch dreißig an. Da beschwerte der sich und sagte: „Die Menschen setzen mir grundlos zu. Drück dich gegen eine Gitterstange, schneide ihnen Fratzen ohne Ende, sie werden dir die Ursache der ständigen Demütigungen des Affenvolkes nicht nennen. Es gibt keinen Ausweg. Ich verlange keine Freiheit von dir. Aber ich habe eine Bitte: Erlass mir einen Teil dieser Leidensjahre!“ Da schenkte Gott dem Affen gnädig zehn Jahre.

„Und wie viele Jahre möchtest du leben?“, fragte Gott den Menschen. „Reichen dir 30 Jahre?“ „Bei weitem nicht!“ erwiderte der Mensch. „Mit 30 stehe ich voll im Saft, habe Haus und Hof, Kind und Korn in der Scheuer, dann möchte ich das Leben genießen bis an ein seliges Ende! Gib mir mehr!“

„So sei es“, erwiderte Gott. „Also sollst du nach deinen 30 ersten Jahren, die du in Saus und Braus verleben darfst,  18 weitere Jahre ackern und rackern für Haus und Hof, für Kind und Korn. Danach darfst du die 12 Hundejahre erleben, in denen du mit Zähnen und Klauen verteidigst, was andere dir wegnehmen wollen. Und zum Schluss, wenn deine Geisteskraft nachlässt, wirst du zehn Jahre des Affen erleben, in denen jüngere Menschen und Kinder sich an deinen lächerlichen Ticks, an deinen Aussetzern und Fehlleistungen ergetzen können.“

Und so, liebe Kinder, geschah es, dass dem Menschen 70 Jahre beschieden sind, wenn es hochkommt.

Und nun frage ich euch: Wie alt seid ihr eigentlich – und wie alt möchtet ihr werden?

„Ich bin 5 Jahre alt und möchte 150 Jahre alt werden“, sagte das erste Kind ohne zu zögern.

„Ich bin 4. Und ich möchte 1000 Jahre alt werden“, sagte das zweite nach einigem Nachdenken.

„Und du? Wie alt bist du?“, fragte der alte Mann das kleinste Kind.

„Ich bin so“ – das Kind hielt ihm zwei Finger entgegen. „Du bist also zwei?“ „Ja, er ist zwei“, bestätigte der 5-Jährige.

„Und wie alt möchtest du werden?“ „So alt!“ Wieder zeigte uns das Kind die zwei Finger. Das Kind war offenbar in diesem Augenblick glücklich!

Der alte Mann und die Kinder kamen überein, dass gerade das zweijährige Kind schon „so gut wie ein dreijähriges“ spricht, läuft und zuhört, und  lobten es dafür. Und sie verabschiedeten sich im besten Einvernehmen. Die Macht des guten gelingenden Wortes hatte sie zu einer Erzählgemeinde zusammengeführt, und man sieht, dasz „die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist“.

Bild: Das uralte Standbild des Herkules zu Cassel-Wilhelmshöhe. Aufnahme vom 24. April 2013

Zitatnachweis für: man sieht, dasz „die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist“: Vorrede der Brüder Grimm vom 17. September 1840. Zitiert nach: „Vorrede“, in: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 15 bis 27, hier S. 26

 

 Posted by at 11:31
Apr 092013
 

2013-03-25 14.01.41

Hassenden läuft der Hass nach, Liebenden kommt die Liebe entgegen. So spricht eine gezettelte Botschaft des Talmud auf der Wilhelmstraße.

Mit einem Lesezirkel hochbetagter, hochweiser Damen und Herren in der nämlichen Wilhelmstraße besprach ich Theodor Fontanes unsterbliches (es wird uns alle überleben!) Gedicht „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Gemeinsam kramend, suchend stöbernd in den Herzkammern des Gedächtnisses, gelang es uns, einen Großteil des Gedichts wiederherzustellen, das früher jedes Berliner Schulkind kannte.

Merkwürdig, ja fast anstößig  ward mir beim Rezitieren folgende Strophe, und in ihr insbesondere die fettgedruckten Zeile:

So klagten die Kinder. Das war nicht recht –
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn‘ ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.

Voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn – eine starke, harte, grob treffende Zeile!

Die Literatur, aber mehr noch die gesamte politische Debatte ist ja heute reich, überreich an Vorwurfsdiskursen der Jungen gegen die Alten. Hier bei Fontane erhebt einmal der Alte einen stillen Vorwurf gegen den Sohn. Könnte es sein, dass einmal, ein einziges Mal in der Weltgeschichte, die Väter bessere Menschen als die Söhne, die Mütter bessere Menschen als die Töchter sind? Ich hege diese Vermutung, ich bin davon überzeugt! Es können durchaus die Väter und Mütter mehr geleistet haben, mehr Bleibendes zum Wohl und Gedeihen der Nachkömmlinge hinterlassen als umgekehrt die Söhne und Töchter schaffen!

Insbesondere die 68er Generation brüstet sich in Teilen bis heute damit, erstmals das Versagen, Verdrängen und Vergessen der Vätergeneration in den Jahren 1933-1945 aufgedeckt zu haben.

Voll Mißtraun gegen den eigenen Vater – das könnte das Motto eines Christoph Meckel, eines Günter Seuren, eines Günter Grass, eines Bernward Vesper, einer Gudrun Ensslin, einer Ulrike Meinhof  und tausender anderer Kämpfer der 68er Generation sein! Diese Geisteshaltung prägt heute große Teile der meinungsprägenden Redaktionen und Feuilletons. All diese Söhne und Töchter bezogen ihre unerschütterliche Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit aus dem wiederholten, ritualisierten, gemeinschaftlich vollzogenen Prozess gegen die eigenen Eltern – einer Art ständig wiederholten symbolischen Hinrichtung der Mörder.

Die ab 1949 vollbrachte Aufbauleistung der Bundesrepublik Deutschland wurde und wird nicht gewürdigt. Sie wird verleugnet. Bis zum heutigen Tag brüsten sich Vertreter der 68er Generation damit, sie hätten den „Muff der Adenauer-Jahre“ beseitigt. Ein großer, ein grotesker  Irrtum, wie ich finde! Die deutsche Literatur der Jahre 1946 bis 1965 bestätigt die satte, selbstverliebte, selbstzufriedene moralische Überlegenheitsgeste der Jüngeren, also der ab 1935 bis 1960 Geborenen, schlechterdings nicht. Die frühen, vielgelesenen  Erzählungen Heinrich Bölls, die 1952 bei der Eröffnung des Mahnmals Bergen-Belsen gehaltene Rede des Bundespräsidenten Theodor Heuss zeigen ebenso wie zahlreiche Reden von Bundeskanzler Adenauer eindeutig, dass – von den Spitzen der Literatur und der Politik ausgehend – ein klares Bewusstsein von deutscher Schuld und Schande zu erwachsen begann.

Die 68er-Generation fiel jäh hinter den schmerzhaften Prozess der Gewissenserforschung der Väter und Kriegsheimkehrer zurück, sie prahlte, drohte, johlte, sie fiel zwar nicht auf Hitler herein, aber sehr wohl auf Mao, Ho Tschi Minh, Lenin, Fidel Castro, Che Guevara, später Ghaddafi  – diese waren aber wie Hitler allesamt Diktatoren, an deren Händen reichlich Blut klebte. Und die 68er – etwa Rudi Dutschke, ebenso Teile der späteren Grünen wie etwa Joschka Fischer oder Hans-Christian Ströbele  – bejahten Gewalt als politisches Druckmittel. Hinhören, Einfühlen, Verzeihen, Gewaltverzicht kannten sie nicht. Sie glaubten nicht an die Liebe, nicht an die Erinnerung, nicht an die Versöhnung.

Mahler, Dutschke, Cohn-Bendit, Günter Grass und viele andere haben damals ein Scherbengericht veranstaltet, mit dessen letzten Hinterlassenschaften wir uns heute herumzuschlagen haben. Die völlige Delegitimation der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, die die 68er-Bewegung versuchte, brachte jahrelang, bringt auch heute noch ein erhebliches Potenzial an Gewaltbereitschaft hervor. „Wehrt euch“. Unser Bild zeigt einen gezettelten Anschlag auf der Ohlauer Straße/Reichenberger Straße, Kreuzberg, aufgenommen heute, direkt vor der besetzten Grundschule, einem der neu entstandenen rechtsfreien Räume.

2013-04-09 17.46.13

 Posted by at 21:35

Brauchen wir wieder eine „Liste der auszusondernden Literatur und der auszusondernden Wörter“?

 Das Böse, Deutschstunde, Haß, Kafka, Rassismus  Kommentare deaktiviert für Brauchen wir wieder eine „Liste der auszusondernden Literatur und der auszusondernden Wörter“?
Feb 262013
 

Ein vierbändiges, wichtiges Werk des Ministeriums für Volksbildung der DDR war die berühmte „Liste der auszusondernden Literatur“. Ich meine: Man sollte diskutieren, ob heute nicht eine „Liste der auszusondernden Wörter“ ebenfalls not täte.

Kürzlich hat es also Astrid Lindgren und ihre Pippi Langstrumpf ereilt.  Nicht nur brachte Lindgren in ihrem Taku-Taka-Land böse, verbotene Wörter in Umlauf, sondern sie beschrieb in Pippi Langstrumpf eine Welt, in der es gruppenspezifische Vorurteile gibt, statt dass alle Menschen, Jungen wie Mädchen, Alt wie Jung, Schweden wie Afrikaner sich einfach nur liebhaben und als gleichwertig anerkennen. „Miep, miep, miep, wir haben uns alle lieb!“, so lautet das Tischgebet der säkularen Kita.

Und kürzlich las ich erneut den spannenden Roman Der Verschollene. Ebenfalls ein schlimmes Buch mit bösen Wörtern. Hört, was der böse Autor schreibt und dem tüchtigen, arg benachteiligten Werktätigen, dem Heizer des Amerikadampfers in den Mund legt:

„Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg Amerika Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff.“

Ein klarer Fall von Rassismus! Erneut ein klarer Fall von gruppenspezifischen Vorurteilen, ja diese Äußerung grenzt schon an Volksverhetzung! Sollte man also diesen Autor, der ebenfalls ein so böses Wort wie Lumpenhund verwendet, ebenfalls auf die Liste der auszusondernden Bücher setzen, oder doch mindestens das Wort „Lumpenhund“ auf die Liste der auszusondernden Wörter setzen? Sollte man den offenkundig rassistischen, offenkundig deutschnationalistischen Verfasser des Romans „Der Verschollene“ auf die Liste der auszusondernden Literatur setzen, zumal er ja eine weitere hellsichtige Darstellung des Rassismus und Antisemitismus geliefert hat – die kleine Erzählung Schakale und Araber?

Ich meine: nein. Gruppenspezifische Vorurteile sind etwas Menschliches. Alle Gruppen – ethnische, konfessionelle, politische, ständische Gruppen – neigen dazu, sich nach außen abzuschließen und die anderen herabzusetzen.  Das gilt für Mehrheiten ebenso wie für Minderheiten.

Der Autor des Romans „Der Verschollene“ ist kein deutschnationaler Rassist, nur weil er ein gewisses Verständnis für die Lage eines deutschen Arbeiters äußert, der sich auf einem deutschen Schiff von einem Ausländer ungerecht behandelt fühlt.

Es wäre falsch, jetzt alle Bücher säubern, alle bösen Wörter ausmerzen zu wollen, nur weil sie die zutiefst menschliche Neigung zur Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen darstellen.

Schaut euch doch die lachende heitere Astrid Lindgren an, diese fröhlichen zuversichtlichen Kinder! Diese stolze, kühne, unbezähmbare Pippi Langstrumpf! Lasst uns doch diese Bücher nutzen, um wieder Kinder zu werden, um mit Kindern einzulernen, dass die Feindseligkeit, die Herabsetzung anderer Gruppen zwar etwa Menschliches ist, – aber nichts Letztes sein darf!

Wir müssen erkennen, dass das Böse nicht in den Wörtern als solchen liegt, sondern in der Abschließung vor dem anderen, in der Zurückweisung und Entwertung des anderen liegt. Dieses Böse aber – liegt in uns. Es gehört zu uns. Der Pole Kolakowski sagt es so: Zło jest w nas – das Böse ist in uns.

„Ma la Madonna – è una negra!“ Die verehrte Mutter ist eine Negerin. Kaum irgendwo besser als in dem Film Basilicata Coast to Coast  können wir diese Überwindung des rassistischen Weltverständnisses erleben. Die bösen Wörter – Neger, Lumpenhund, Schakal usw. – verlieren ihre Bosheit. Im zuvor verachteten, mit bösen Wörtern verspotteten Menschen erblicken wir das Antlitz eines Menschen wie du und ich, der zum Vorbild werden kann.

Quellen:
Franz Kafka: Der Verschollene. Roman in der Fassung der Handschrift. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 13-14.

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/politisch-korrektes-deutsch-verbaende-wollen-soziale-unwoerter-zensieren-12094314.html

Franz Kafka: Schakale und Araber, in: ders., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Herausgegeben von Roger Hermes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 280-284

 Posted by at 23:34

Bitte nicht mit zweierlei Maß messen!

 Das Böse, Haß, Rechtsordnung, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Bitte nicht mit zweierlei Maß messen!
Feb 182013
 

Eine beispiellose Terror- und Mordserie erschütterte ab 2000 die Bundesrepublik. Fast 8 Jahre lang zog eine Gruppe rechter Terroristen plündernd, bombend und mordend übers Land, fand Unterschlupf in Wohnungen, wurde von staatlichen Behörden, deren Versagen auch von höchster Stelle beklagt wird, nicht aufgedeckt. Mindestens 10 Menschen wurden kaltblütig ermordet. Die Verlautbarungen, Videos und Mitteilungen des NSU gehören zum Menschenverachtendsten, was seit 1945 auf deutschem Boden veröffentlicht wurde. In den öffentlichen Nachrichtensendungen wurde das menschenverachtende Video abgespielt. Es ist eine gute Geste des Bundespräsidenten, die Angehörigen der Opfer, die alle einen Namen haben, als Zeichen der Anteilnahme zu empfangen.  Sie haben unser Mitgefühl verdient.
Eine beispiellose Terror- und Mordserie erschütterte ab 1970 die Bundesrepublik. Fast 30 Jahre lang zog eine Gruppe linker Terroristen plündernd, bombend und mordend übers Land, fand Unterschlupf in Wohnungen von Sympathisanten, wurde nachweislich angefüttert und gedeckt von den staatlichen Behörden der DDR, die einigen Mitgliedern der Terrorgruppe auch neue Identitäten beschaffte und sie untertauchen ließ. Mindestens 34 Menschen wurden kaltblütig ermordet. Die Verlautbarungen, Fotos und Mitteilungen der RAF gehören zum Menschenverachtendsten, was seit 1945 auf deutschem Boden veröffentlicht wurde. Die Unterstützerkreise der RAF reichten sehr sehr weit, ja bis in den Bundestag hinein. Viele Morde sind bis heute nicht aufgeklärt, da die Mitwisser im Geiste der unverbrüchlichen Omertà schweigen.

Der namenlos gebliebenen nichtprominenten RAF-Opfer wurde kaum gedacht. Hier wäre es sicherlich ebenfalls eine gute Geste, die Angehörigen der nichtprominenten Opfer, die weitgehend namenlos geblieben sind, einmal einzuladen. Auch sie haben, ebenso wie die Hinterbliebenen der prominenten Opfer, unser Mitgefühl verdient.

http://www.sueddeutsche.de/medien/film-ueber-raf-opfer-vergessen-neben-managern-und-bankern-1.1234087

 Posted by at 17:57

Kafkas Mäuse, oder: Sollte man die Angst und den Hass einfach verbieten? (2)

 Angst, Europäisches Lesebuch, Haß, Hebraica, Kafka, Psychoanalyse, Singen  Kommentare deaktiviert für Kafkas Mäuse, oder: Sollte man die Angst und den Hass einfach verbieten? (2)
Dez 102012
 

Das, was ich gegenüber Mäusen habe, ist platte Angst. Auszuforschen, woher sie kommt ist Sache der Psychoanalytiker, ich bin es nicht.“  So schrieb es Franz Kafka am 4.12.1917 an Max Brod, wie die Süddeutsche Zeitung heute auf S. 11 berichtet: Marbach erwirbt „Kafkas Mäuse“.

„In den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang: Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann.“ Zweifellos eine groteske Übertreibung, was der Prager Autor hier schreibt! Dennoch schlägt der Verfasser mit seiner Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse eine Saite an, die auch heute im Leser widerklingt. Welches Kind in Deutschland kennt und singt beispielsweise heute noch das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius? Das Lied ist noch erhalten, aber es wird  kaum mehr gesungen.

Kafka beschreibt in seiner Erzählung über Josefine, die Sängerin möglicherweise seine Trauer über den Verlust des volkstümlichen Liedsanges.

Das Singen lässt sich nicht befehlen. Die Angst lässt sich nicht verbieten. Eher schon kann man versuchen, Herr über die Angst zu werden, indem man sich in sie hineinversetzt! „Wie wäre es denn, wenn du selbst zu denen gehörtest, vor denen Angst hast?“

Verbring einen  Tag im Leben der Mäuse, und du wirst von deiner Mäuse-Angst, deiner Mysophobie geheilt!

Möglicherweise war diese vermutlich 1924 niedergeschriebene Erzählung ein Versuch Kafkas,  sich von seiner Mäuseangst zu befreien. Ich sage: möglicherweise. Denn vielleicht war es auch ein Versuch, mit der in diesem Jahr diagnostizierten Kehlkopferkrankung Freundschaft zu schließen und den drohenden Verlust der Stimme und letzlich das Sterben vorwegzunehmen.

Welche Deutung ist die richtige: Trauer über den Verlust des volkstümlichen Singens, Versuch der Bewältigung der Mäuse-Angst,  Versuch der Freundschaft mit der Kehlkopferkrankung, Vorwegnahme des eigenen Sterbens?

Die Schrift der Vergangenheit ist unveränderlich. Jede Deutung ist nur ein Versuch, ihr aus dem Hier und Jetzt heraus Sinn einzuhauchen. Sie kann auch Ausdruck der Verzweiflung angesichts der Unabänderlichkeit der Vergangenheit sein.

Quelle:

Franz Kafka: Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. Prager Presse, 4. Jg., Nr. 110 (20. April 1924, Morgenausgabe, Beilage Dichtung und Welt, S. IV-VII). Hier zitiert nach: Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Herausgegeben von Roger Hermes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 518-538, hier bsd. S. 519

 Posted by at 14:39

Sollte man die Angst und den Hass einfach verbieten?

 Angst, Bundestagswahlen, Das Böse, Haß, Islam, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Sollte man die Angst und den Hass einfach verbieten?
Dez 102012
 

Ein merkwürdiger Zusammenklang des Widersprüchlichen ergibt sich im griechischen Phobos. Das Wort bezeichnet Angst, Flucht und Scheu gleichermaßen. Angst hier verstanden als übertriebener, nicht beherrschbarer Fluchtreflex.

Erst im heutigen Englischen ergibt sich der Einklang von Phobie und Furcht. Islamophobie oder engl. islamophobia etwa ist die Angst vor dem Islam. Der Sieg der Seldschuken bei Manzikert im Jahr 1071, die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 dürften  Gründungsereignisse  für diese  Angst der Europäer vor der Überwältigung durch islamische Eroberer sein.

Der heftige Abscheu gegenüber dem Rassismus, gegenüber allen Rassisten, gegenüber der „braunen Pest“ usw. ist – so vermute ich –  getränkt von einer tiefsitzenden Angst davor, auch in sich selbst Keime des Rassismus, Keime der Fremdenangst, Keime der Angst vor Eroberung zu entdecken.

Gegen diese Angst vor dem verschwiegenen Eigenen wird ein heftiger Verbotsreflex in Marsch gesetzt: „Es darf nicht sein, dass auch in mir der Keim des Bösen liegt!“ Und deshalb wird nicht das Böse verboten – denn wer könnte den Hass und die Angst verbieten? -, sondern die Bösen werden verboten.

Wer die Bösen sind? Das wechselt! In den 70er Jahren waren es die Linksradikalen, etwa die KPD oder die DKP, denen man mit Verboten zu Leibe rückte. Heute sind es „die Rechten“.

Beim vorgeschlagenen NPD-Verbot sollte man sich besinnen und sich belehren lassen durch die mannigfachen Verzweigungen und Affiliationen, die der mörderische Terrorismus der RAF seit damals bis in den SDS, ja auch in eine heute zum allergrößten Teil grundgesetzkonforme, „systemtragende“ Bundestagspartei hinein hatte und hat. Mannigfaltige Verbindungen ergeben sich auch zwischen dem Links- und dem Rechtsextremismus, exemplarisch verkörpert in Horst Mahler, dem langjährigen Sozius und Kumpel eines heute im Bundestag sitzenden Abgeordneten der Grünen. Hätte man denn damals gleich die Grünen als Partei verbieten sollen, nur weil Horst Mahler und andere RAF-Terroristen in engeren Arbeits- und Unterstützerbeziehungen zu prominenten Vertretern der Grünen standen, die bis zum heutigen Tag im Geiste einer unerschütterlichen Omertà nichts Böses über die Genossinnen und Genossen von damals aussagen?

NPD-Verbotsantrag? Man sollte es besser lassen. Ich schließe mich den Bedenken eines Teils der Grünen und des Bundestagspräsidenten Lammert an.

Spannender wäre es, der NPD inhaltlich das Wasser abzugraben. Arbeit, Familie, Nation – diese Themenfelder gilt es zu beackern! Am ehesten traue ich das übrigens den Grünen zu.

Wer sagt etwas Substantielles zur deutschen Nation? Wer traut sich da ran?

Man könnte ja auch so anfangen: „Alle deutschsprachigen Schwaben, Sachsen, Tscherkessen, Türken, Schlesier, Niedersachsen usw. usw. gehören zur deutschen Nation, sofern sie sich zu ihr bekennen“? – „Auch die Kurden gehören zur Nation!“ „Auch die in Deutschland lebenden, deutschsprachigen  Kurden gehören zur deutschen Nation, sofern sie dies wünschen und sich der deutschen Nation anschließen!“ „Man kann sehr wohl guter Kurde, guter Tscherkesse und zugleich guter Deutscher sein!“ Was ist davon zu halten?

„Du musst Deutsch können!“ Wer hat diesen national – wo nicht nationalistisch – getönten Spruch als erste im Bundestagswahlkampf 2009 losgelassen? Renate Künast von den Grünen!

Die deutschen Grünen, diese urwüchsig deutscheste aller Parteien, gestehen es mittlerweile offen ein, dass ihre Wurzeln in der deutschen Romantik liegen – Boris Palmer hat es kürzlich wieder einmal hervorgehoben. Einige Programmpunkte der NPD sind denn auch durchaus anschlussfähig ans Programm der Grünen, etwa die Kapitel „Gesunde Heimat – gesunde Natur“ oder auch „Raumorientierte Volkswirtschaft“.

Die deutsche Romantik ist der Ursprung des Nationalismus, Ursprung der Naturschutzbewegung, Ursprung des Gedankens vom „Volkskörper“, der organisch-biologisch im Naturganzen eingebettet ist, Ursprung der bündischen Jugend, Ursprung der biologisch-dynamischen Erzeugergemeinschaften. Man lese doch bitte einmal Fichtes „Reden an die deutsche Nation!“ Auch diese Gedanken sind dann mit dem antimodernen, antikapitalistischen Affekt im Nationalsozialismus zusammengeflossen.

Also, was folgt daraus für den NPD-Verbotsantrag? „Erscht denga, dann schwätza und schreiba!“ Das KPD-Verbot von 1956 halte ich für verfehlt. Der Radikalen-Erlass war verfehlt. Ein Grünen-Verbot wäre falsch gewesen. Verbote bringen wenig. Wenn man jetzt alles nationalistisch-übersteigerte Denken und die einzige, eher kümmerlich dastehende nationalistische Partei Deutschlands verbieten will, dann muss man auch Heinrich von Kleist, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Hölderlin verbieten und aus den öffentlichen Bibliotheken entfernen. Dann muss man auch das Lied „Wann wir schreiten Seit an Seit“ verbieten, das die SPD zum Abschluss ihrer Parteitage singt. Denn ein bekennender Nationalsozialist, das überzeugte NSDAP-Mitglied  Hermann Claudius hat es geschrieben.

Vor allem aber gilt es, Angst und Abneigung als Teil des eigenen Selbst anzuerkennen. Das Perhorreszieren des Fremden, des Abartigen und des Andersartigen führt zum Hass und zur Feindseligkeit auf beiden Seiten.

Besonnene Argumente, die sachliche Auseinandersetzung, der sokratische Dialog, das Werben um Zustimmung für die Ideale der Demokratie, der Humanität und der Rechtsstaatlichhkeit sind bessere Mittel im Kleinhalten der rechtsextremen Parteien und im Bekämpfen der nationalistischen Bewegungen, als Verbote und Verteufelungen dies je sein könnten.

 Posted by at 00:27
Jun 042012
 

Direkt in meiner Nachbarschaft reißt der Wahnsinn viele Kinder und Erwachsene in den Abgrund. Ein Ehemann ermordet seine Frau, zerstückelt die Leiche und wirft sie vom Dach des Hauses in den Hof. Ich kenne einige Familien aus der Siedlung, halte mich immer wieder mal dort auf und plaudere. Die Kinder wirken alle sehr aufgeweckt. Gewalt und Schläge der Männer sind selbstverständlicher Teil des Alltags für viele Kinder und Frauen im Viertel. Sozialarbeiter sind hier seit langem überfordert. Der Staat schaut weg, teilweise haben die meisten Politiker noch nicht einmal im Ansatz begriffen, wie die Zusammenhänge sind. Der Tagesspiegel, der direkt daneben residiert, berichtet nichts über seine Nachbarschaft, ebensowenig wie die andere gutbürgerliche Presse.  18 Monate lange hat einer meiner Söhne die Grundschule in diesem Kiez besucht. Dann meinten wir dies nicht mehr verantworten zu können. Die schöne Architektur aus den IBA-Zeiten erinnert an die würfelförmigen Kasbahs im Maghreb.

Gute Initiative – zu der nicht nur türkische Männer, sondern auch kurdische, deutsche, arabische, palästinensische und überhaupt Männer kommen sollten! Lies:

Kundgebung “Türkische Männer protestieren gegen Gewalt und Barbarei”


Nach dem barbarischen Mord eines Türkei stämmigen Mannes an seiner Ehefrau in der Nacht zum 04.06.2012 in Berlin-Kreuzberg ruft die Türkische Vätergruppe  des Vereins Aufbruch Neukölln zu einer Kundgebung unter dem Motto “Türkische Männer protestieren gegen Gewalt und Barbarei” auf.

Redner: Kazim Erdogan

Ort: Köthener Str. 37, 10963 Berlin (Tatort)
Datum: 05.06.2012
Uhrzeit: 19.00 Uhr

Auf der Kundgebung werden T-Shirts mit der Aufschrift “Männer gegen Gewalt” verteilt.

 

 Posted by at 22:31

Das vor dem Jüdischen Museum sah nicht nur wie eine kleine Bombe aus –

 Haß, Hebraica, Rechtsordnung  Kommentare deaktiviert für Das vor dem Jüdischen Museum sah nicht nur wie eine kleine Bombe aus –
Mai 012012
 

010520121703.jpg

„A- A anticapitalista!“ So endet der antikapitalistische 1. Mai in Kreuzberg.

Großes Hubschraubergebrumm gegen Abend! Ein Gang durch die Nachbarstraßen führt mich vorbei an singenden Männern:

Wißt ihr noch wie das wa a a r

damals in Roo – stock!

Die Polizisten sammeln sich, ständig fahren Mannschaftswagen vorbei. Ich gehe weiter bis zum Jüdischen Museum. Dort steuere ich auf das Wachhäuschen zu. Alle Scheiben des Wachhäuschens sind zertrümmert.  2 Meter daneben glimmt noch ein gewaltiger selbstgebastelter Sprengsatz vor sich hin. In einem gewaltigen Kasten von etwa 1,50 mal 1 Metter Seitenlänge ragen verkohlte Röhren in die Luft. Versengte Pappe und halb verbranntes Sprengpulver schwängert die Luft.

Das Schlimmste scheint vorbei. Hier sieht es nicht nur so aus, als wäre eine Bombe explodiert – das war auch eine kleine Bombe Marke Eigenbau. Mir fällt auf, dass die vielen Kristallsplitter, dass viel zersprengtes Material wirklich vor dem Jüdischen Museum gehäuft liegt – schon 20 Meter weiter findet man in der Lindenstraße nur einzelne Splitter.

Viele Polizisten hängen an den Handys, geben Berichte durch. Gut, dass wenigstens dem Gebäude selbst nichts geschehen zu sein scheint. Die Polizeimannschaftswagen stehen in zwei Reihen davor, sie haben offenbar niemanden zum Gebäude selbst durchgelassen. Dafür kann Deutschland den Polizisten dankbar sein. Ich bin ihnen dankbar.

Hier in Kreuzbergs Straßen hat am Abend ein Furor geherrscht, wie ich ihn eher aus Geschichtsbüchern über die 30er Jahre in Deutschland kannte. Ich lese laut den Titel der aktuellen Ausstellung, die am Museum beworben wird.

Es ist auffällig, dass auch damals, in den frühen 30er Jahren, ein unbändiger Hass auf das System der parlamentarischen Demokratie, ein Hass sondergleichen auf den kapitalistischen Staat herrschte.

Hier könnt ihr die Szene sehen:

 Posted by at 23:19

„Rassismus schadet bereits in geringsten Mengen!“

 Friedrichshain-Kreuzberg, Haß, Rassismus  Kommentare deaktiviert für „Rassismus schadet bereits in geringsten Mengen!“
Mrz 212012
 

210320121639.jpg

Der arme Kreuzberger Blogger schloss sich heute einer Demo gegen Rassismus durch den Mehringdamm und die die Obentrautstraße an. „Was ist Rassismus?“, fragte ich eine Teilnehmerin vor dem Finanzamt Kreuzberg am Mehringdamm.

„Wenn man gegen Menschen etwas hat, nur weil sie anders sind, zum Beispiel weil sie eine andere Religion, andere Sprache, andere Hautfarbe haben.“

„Gut, dagegen bin ich auch!“, erwiderte ich. Ich bin in der Tat entschieden dagegen, dass man gegen Menschen etwas hat, nur weil sie anders sind, zum Beispiel weil sie eine andere Religion, andere Sprache, andere Hautfarbe haben!

Nun bog der Zug in die Obentrautstraße ein. Ich war neugierig, wollte mehr lernen und stellte eine zweite Frage zu dem bekannten Wandspruch im Aufgang eines Mietshauses in eben dieser Straße:

„Haltet ihr den Spruch „Yuppies raus“ für rassistisch?“

„O nein, hier geht es doch nur um den Kampf für ein lebenswertes Umfeld“, bekam ich zur Antwort. „Außerdem – wer legt fest, wer ein Yuppie ist? Du, ich, wir alle?“

„Und Juden raus? Ist das Rassismus? Und Němci ven – Deutsche raus?  Und Ausländer raus? Sind das rassistische Äußerungen? “

Ich erhielt keine Antwort, der Zug zog weiter.

Mit meinen Fragen blieb ich alleine.

Da sprach mich ein älteres Ehepaar an: „Setz dich zu uns. Es hat keinen Sinn zu streiten.“

 Posted by at 20:46
Mrz 132012
 

Der eine oder andere gütig geneigte Leser mag sich noch an jene Aufzählung von Pflichten und Verboten erinnern, die das früher einmal christliche Europa als die „Zehn Gebote“ kannte. Man findet sie bei einigem Suchen noch in der Hebräischen Bibel, also auch in dem Alten Testament der Christen. Die zehn Gebote sind noch nicht ganz außer Mode, auch wenn sie jeden Tag hunderttausendfach übertreten werden.

Die zehn Gebote, die teilweise Ergebnisse von Lebensweisheiten sind, richten sich an den einzelnen Menschen. Beispiele, an die manche der älteren Leser dieses Blogs sich noch erinnern mögen, sind: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“, „du sollst nicht morden“, „du sollst nicht  stehlen“, „du sollst nicht Falsches gegen deine Nächsten aussagen“, „du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“  usw. usw.

Biblischer Glaube besagt: Würdest du diese hier aufgezählten wenigen Gebote und Verbote einhalten, dann ginge es dir und den deinen besser. Wer diese Gebote verletzt, schadet anderen und letztlich auch sich selbst. Wenn niemand mordet, lügt und stiehlt, geht es dir und den deinen besser. Wenn du Vater und Mutter pflegst und hegst, geht es dir und den anderen besser.

Biblischer Glaube besagt: Nicht das Eigentum ist böse, sondern das Stehlen des Eigentums. Nicht das menschliche Leben ist böse, sondern die Vernichtung des menschlichen Lebens, der Mord. Nicht das Privateigentum ist böse, sondern der Diebstahl.  Nicht die Sprache ist böse, sondern das Reden in der Absicht, anderen zu schaden, die Lüge.

Eine andere Ethik, man könnte sie Kollektivethik nennen, predigt John Lennon in seinem bekannten Lied IMAGINE.  Das Lied wurde kürzlich im Konzerthaus auf dem Festakt der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt gespielt. Ein klares Bekenntnis Deutschlands zum Gedanken der Kollektivethik?

Lennon stellt sich eine gute Welt vor, eine Welt ohne Staatsgrenzen, ohne Eigentum, ohne Religion, ohne den Himmel der Werte. Dann – so predigt John Lennon – wird alles gut. Nicht der menschliche Wille wählt für  John Lennon das Böse, sondern die Trennung in Länder, die Trennung in Mein und Dein, die Religion. Staatlichkeit, Religion, Besitz sind die Ursachen des Bösen. Durch Abschaffung von Staatlichkeit, Religion und Besitz entfällt der Grund zum Bösen. Das Paradies kann anbrechen. So ähnlich dachte wohl auch John Lennon persönlich.

Man darf weiterdenken: In einer John-Lennon-Welt ohne Eigentum, ohne Religion, ohne Nationalitäten werden die Menschen gut sein. Es wird keinen Mord, keinen Raub und keine Lüge geben.

Durch die Abschaffung von Eigentum, Religion, Nation und Staatlichkeit bricht das Reich des ewigen Friedens an. Es gibt keinen Grund mehr, irgendetwas Böses zu tun. Alles wird gut.

JOHN LENNON lyrics – Imagine
Imagine there’s no heaven
It’s easy if you try
No hell below us
Above us only sky
Imagine all the people
Living for today…

Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion too
Imagine all the people
Living life in peace…

 Posted by at 16:51