Die lernende Gesellschaft hat einen lebendigen Kanon

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Okt. 202011
 

Bildungsgipfel: Gesucht: Die „Bildungsrepublik“ – Wissen – Tagesspiegel
Die öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung und Forschung sollten bis zum Jahr 2015 auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen: In der Bildung von 6,2 Prozent auf sieben Prozent, in der Forschung von 2,4 Prozent auf drei Prozent.

Unter vorwiegend quantitativen Kriterien bemisst sich Erfolg oder Scheitern des ehrgeizigen Projekts der „Bildungsrepublik Deutschland“. Alle hacken jetzt schon darauf herum, weil die rein fiskalisch, monetär und statistisch gesetzten Ziele wohl nicht zu erreichen seien. Der Mehrjahresplan droht wegen Nichterreichung zu scheitern.

Das Projekt der Bildungsrepublik ist zwar im Ansatz hochlöblich. Die vorrangige Ausrichtung an quantitativen Zielwerten bei gleichzeitiger völliger Unbestimmtheit der Bildungsinhalte halte ich jedoch für einen nur mit großen Anstrengungen zu behebenden Mangel. So kann es etwa kein sinnvolles Ziel sein, die Quote der Studienanfänger auf 40% zu steigern, wenn zugleich Lehrstellen unbesetzt bleiben, wenn Handwerksbetriebe verzweifelt nach geeigneten Kandidaten suchen, während die Universitäten – vorübergehend – einen Studentenwellenberg zu bewältigen haben!

Ich würde vorschlagen, dass das Programm der „Bildungsrepublik Deutschland“ eingebettet würde in ein umfassenderes Leitbild der lernenden Gesellschaft. Diese Gesellschaft bemisst sich nicht an Zahlen, sondern an inhaltlichen Werten, an den Grundhaltungen des beständigen Lernens, Veränderns und Bildens. Das Leitbild verfügt über einen lebendigen Kanon an Werten,Werken, Erfahrungen und Riten.

Lerne und arbeite! Dies könnte das Leitwort der Lernenden Gesellschaft sein.

 Posted by at 23:34
Okt. 152011
 

Die üblichen Forderungskataloge zur Bildungspolitik sind heute meist kulturell völlig entkernte Gerippe. Man kann dies Satz für Satz nachweisen. So wird immer wieder „Sprachkompetenz“, „Lesekompetenz“ usw. gefordert, „Sprachstandsmessungen“ zuhauf, eine ganze Bildungs-Vermessungs-Industrie gruppiert sich um Organisationen wie etwa UNESCO. Eine solide Bildungsstudie ist unter 200.000 Euro nicht zu haben! Wie viele männliche Erzieher könnte man dafür einstellen?

Ein „Mindestwortschatz“ von 4000 Wörtern in der Landessprache für Viertklässler wird gefordert. Akribisch werden Häufigkeitsmessungen durchgeführt.

Demgegenüber vertrete ich die Meinung, Kitas und Schulen müssten viel stärker  „kulturelle Leitwerke“ pflegen und die Kinder dadurch bewusst auf ein pädagogisches Leitbild hin erziehen. „Schüler sollten so frühzeitig wie möglich mit kulturellen Leitwerken bekanntgemacht werden“, schrieb es auf Antrag der CDU Kreuzberg-West die Berliner CDU in ihr Wahlprogramm (Punkte 21, Seite 41).

Was sind kulturelle Leitwerke?

Ein Beispiel eines kulturellen Leitwerkes für die frühe Kindheit (ab etwa 2 Jahren) ist der folgende Fingerspielreim:

„Das ist der Daumen,
Der schüttelt die Pflaumen,
Der hebt sie auf,
Der trägt sie nachhaus,
Und der kleine Wuziwuzi isst sie alle auf.“

Hier werden auf idealtypische Weise

  • Sprechen
    akustische Lautbilder
    motorische Fertigkeiten
    Innervationsbahnen der Hand und des Armes
    soziale Fertigkeiten der Kooperation zwischen Gruppenmitgliedern
    Zählen bis zur Zahl 5
    Themen  der sozialen Gerechtigkeit

angesprochen und bildhaft erfahrbar gemacht. Unbedingt müsste man dieses Werk „Das ist der Daumen“ und andere volkstümliche Merkverse in den deutschen Bildungskanon aufnehmen!

Die volkstümlichen Kinderverse, Abzählreime, Kinderlieder, Volkslieder und Grimms Volksmärchen sind kulturelle Leitwerke ersten Ranges. Wir – Eltern und Lehrer – müssen sie wieder unterrichten, singen, erzählen, spielen.

„Zu mir kommen Kinder in die erste Klasse, die wissen nicht, dass sie fünf Finger haben, geschweige denn, wie sie heißen“, vertraute mir einmal eine West-Berliner Grundschullehrerin an.

Kulturelle Leitwerke für die Größeren wären:

Tierfabeln (ab Klasse 1)
Goethes Kindergedichte (ab Klasse 1)
Schillers Balladen (ab Klasse 3)
die biblischen und koranischen Erzählungen, etwa die über Josef/Yussuf (alle Altersstufen)
die Gleichnisse des Neuen Testaments (alle Altersstufen)
gesungene Kanons
ein Grundbestand an etwa 300 Gedichten deutscher Sprache aus 4 Jahrhunderten
weitere Volkslieder
Wanderlieder wie etwa Das Wandern ist des Müllers Lust
sicherlich auch möglichst viele von Goethes Werken in ausgewählten Beispielen und altersgerecht zubereiteten Fassungen
Mythen und Sagen der griechisch-römischen Antike
Klassiker der Kinderliteratur wie etwa Emil und die Detektive oder Gullivers Reisen. 

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Brauchen wir mehr Meister Eckart oder mehr Hirnforschung in der Pädagogik?

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Okt. 142011
 

Recht treffend fand ich die Einwände, die Bildungsministerin Schavan vor wenigen Tagen im Konrad-Adenauer-Haus gegenüber den bildungspolitischen Grundsatzdebatten in die Runde warf. Sie sagte nämlich,

– es gebe viel zu wenig Debatten über Sinn und Inhalt von Bildung

– dabei hätten wir in Deutschland seit Meister Eckart eine reiche Tradition des Bildungsdenkens

– wir müssten und sollten also auch über den Kanon und Kanonbildung nachdenken.

Alle drei Einwände treffen meines Erachtens noch weit stärker zu, als eine aktive Politikerin dies aussprechen darf. In dem ganzen Gerede und Gestreite über Strukturen, Curricula, Quantensprünge der Didaktik, „gehirngerechtes Lernen“ ist in der Tat fast völlig aus dem Blick geraten, wohin wir die Kinder „ziehen“ oder erziehen wollen.

Es fehlt ein Leitbild der Erziehung. Es ist durch normgerechte „Kompetenzen“ ersetzt.

Es fehlt in Deutschland ein Kanon. Deshalb wachsen viele Kinder in der kulturellen Steppe auf. Gerade bei uns in Kreuzberg ist dieses kulturelle Niemandsland mit Händen greifbar.

Die reiche, prägende, vorbildhaft weisende Tradition des europäischen Bildungsdenkens seit den Tagen eines homerischen Achilles, eines Odysseus, eines platonischen Sokrates, eines Jesus Christus, eines Cicero droht verlorenzugehen. Diese kulturellen Tragwerke Europas drohen vergessen zu werden. Die Wüste wächst!

Armes Kreuzberger Blog » Blog Archive » Stop the war!

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Printed in China: Deutsche Volkslieder, Publishing house: 7Hill

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Okt. 012011
 

Das deutsche Volkslied behauptet sich prachtvoll in den Wogen der Globalisierung.

In China lernen derzeit etwa 5 Millionen Kinder Klavier, sie lernen auf diese Weise Namen wie W.A. Mozart, J.S. Bach oder J. Brahms kennen.

Das Buch, das ich gestern auf der Notenstütze der russischen Pianistin sah, trägt ebenfalls den Vermerk „Printed in China“. Umfang 351 Seiten. Titel: „Deutsche Volkslieder“. Die Chinesen wissen natürlich längst, dass neben dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, dem berühmten BGB, das in der Tat als Muster des Zivilrechts in China gilt, noch einiges andere Nachahmenswerte aus Deutschland kommt, eben eine hochentwickelte Kultur des Singens, des Komponierens und Musizierens.

Ich habe das Buch vor wenigen Wochen in Berlin zum Neupreis von 9,95 Euro gekauft. Die Klavierbegleitung ist leicht spielbar. Ich empfehle das Buch allen Miteltern – anstelle von Ritalin.

Deutsche Volkslieder, 9783833157028, 383315702X
Publishing house:
7Hill Publishing
Other primary creator:
Tamás Zászkaliczky
Adapted by:
István Máriássy
Number of pages:
351

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Ist alles Müll, was vor 1980 entstanden ist?

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Mai 132011
 

Etwa 1980 scheint mir eine Grenzlinie zu sein, die in der heutigen Pädagogik die Genze zwischen gut und böse darstellt. Ein Blick in Schulbücher bestätigt mir das immer wieder. Das gesamte kulturelle Erbe, das vor 1980 entstanden ist, steht unter Verdacht. Warum? Nun, ganz einfach: Die Menschen wussten ganz offenbar vor 1980 noch nicht, was böse und gut ist! Etwa ab 1980 zogen Wahrheit und Weisheit in die Welt ein, und zwar über die deutschen Universitäten und Proseminare.

Früher hingegen war es schlimm! Da kam ein strickendes, mit Puppen spielendes Mädchen vor – raus damit, es könnte den Gender gap verstärken! Da wurde das Wort Neger erwähnt – raus damit, es ist ein rassistisches Wort! Da erschien ein folgsames Kind – raus damit, es entmündigt die benachteiligten Kinder aus patriarchalischen Familienstrukturen! Da wurde von fleißigen Handwerkern gesungen – raus damit, es hindert die Kinder am Bildungsaufstieg zur Universität! Da erschien eine Familie mit Papa, Mama und mehreren Kindern – hau weg den Müll, es ist ein traditionelles Rollenverständnis! Da kam das Wort Gott in einem Lied vor – weg damit, es ist eine unzumutbare nervliche Belastung für Kinder aus atheistischen Elternhäusern! Da erschien ein spindeldürrer Schneider in einem Märchen – weg damit, es ist diskriminierend!

Meine ganz bescheidene Anmerkung dazu: Ich halte es für maßlos überheblich und töricht, wenn so getan wird, als wäre alles, was außerhalb Deutschlands oder was vor 1980 geschrieben, gesagt und gedacht worden ist, Schrott und Gerümpel, nur weil es die höheren Weihe des Gender Mainstreaming und der political correctness nicht erhalten hat.

Bild: Landschaft am S-Bahnhof Warschauer Straße

 Posted by at 11:09

„Bitte alle 7 Strophen noch einmal!“

 Deutschstunde, Kanon, Kinder, Rilke, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für „Bitte alle 7 Strophen noch einmal!“
März 212011
 

u1_978-3-596-90327-6343324.jpg„Guter Mond, du gehst so stille“ – dieses Lied sang ich gestern in allen 7 Strophen für meinen kleinen Sohn, wie es einst unser eigener Vater auch sang. Nach einem anstrengenden Tag entfaltete das Singen des Liedes eine unglaublich befreiende, lindernde Wirkung. Der Sohn sagte dann: „Jetzt singe das ganze Lied noch einmal!“ Ich traute meinen Ohren nicht.

Ich schüttelte alle Sorgen ab und schlief den erquickenden Schlaf.

Das Buch „Die schönsten Volks- und Wanderlieder“ hatte ich nahezu druckfrisch von meinem Besuch der Buchmesse Leipzig mit nachhause genommen und schon im ICE leise zu singen angefangen.

Die Kinder von heute lernen diese Lieder, die teilweise über mehrere Jahrhunderte weitergegeben worden sind, nicht mehr in der Schule. Ich wiederum kenne keine Lieder, die meine Söhne in der Schule gelernt hätten. Die Lieder im Musikbuch sind mir alle unbekannt. Keines bleibt haften. Rilke stellte im Malte Laurids Brigge fest: „Dass man erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.“ Mir scheint: „Dass man die Kinder singen lehrte, das war vor unserer Zeit.“

Ich denke: Es wäre doch schön, wenn die Kinder in Kita und Schule Lieder sängen –  nebenbei würden sie auch eine gute deutsche Aussprache erlernen. Mir fällt auf, dass die Aussprache des Deutschen sich bei Kindern und Jugendlichen in Berlin schon sehr zu wandeln beginnt. Die Kinder verschlucken immer mehr Laute, die Vokale werden immer farbloser, Quantitäten verschwimmen, oft habe ich das Gefühl, die Berliner Kinder „kriegen die Kiefer nicht mehr auseinander“. Es wird vieles verhuscht und vernuschelt, die Satzmelodie ändert sich. Tausende und abertausende Berliner Kinder verlassen die Schulen jedes Jahr mit rudimentären Deutschkenntnissen. Vielleicht eine Folge dessen, dass fast nicht mehr gesungen wird?

Die schönsten Volks- und Wanderlieder. Texte und Melodien. Herausgegeben von Günter Beck. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, März 2011, 304 Seiten, € 8.-

Fischer Klassik

 Posted by at 22:10
Aug. 302010
 

Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.“ Wo steht denn das? Hebräische Bibel, Koran, Adenauer, Neues Testament?

Einen Heidenspaß bereitet es mir, immer wieder in Gespräche und in Texte dieses Blogs wörtliche Zitate aus Talmud und Hadithen, aus hebräischer Bibel und Faust, aus Aristoteles, Konrad Adenauer, Neuem Testament  oder Platon einzuweben.

Der Mediengestalter Oliver Wurm meint: In der Bibel steht eigentlich gutes Zeug drin. Deshalb druckt er die ihn anrührenden Stellen groß in einer Zeitschrift ab. Was ihn kalt lässt, druckt er klein. So berichtet es der aktuelle SPIEGEL auf S. 53. Genau so geschieht Kanonbildung. Genau so haben es die Kirchen zu allen Zeiten gemacht. Das Wichtige wird tausendfach wiederholt, ausgewählt, ausgemalt. Das weniger Wichtige wird nicht verkündet oder murmelnd überhuscht.

Selbst der Koran muss wohl so entstanden sein.  Kennt man hebräische Bibel und Neues Testament nicht, wird man den Koran und die Hadithe nicht verstehen können. Der Koran ist für uns nur verständlich als eine Fortschreibung älterer Traditionen, in die er hineingeschrieben ist.

Kennt man aber hebräische Bibel und Neues Testament nicht, wird man auch Karl Marx oder die Partei Die Grünen nicht verstehen können. Denn in der hebräischen Bibel (dem Alten Testament) wird erstmals klar und eindeutig der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Gedanke der Schonung natürlicher Ressourcen, der Gedanken des Klima-, Boden- und Naturschutzes dargelegt.

Wem dieser Gedanke neu ist, dem empfehle ich Lamya Kaddors Kinderkoran. Da kann man dies alles leicht fassbar nachlernen.

Und das eingangs zitierte Gebot der Fremdenliebe? Steht in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament der Christen. Moses.

 Posted by at 10:02
Juli 202010
 

Ein harter Brocken, was hier in der Überschrift steht! Dennoch gefällt mir dieser philosophisch-theologische Brocken. Immer wenn ich, der sehr schwach praktizierende, der sehr schlechte Knecht des Christentums mit Muslimen spreche oder mit ihnen bildhaft gesprochen zusammenrumple, wird mir das sofort klar, ebenso auch beim Studium der Hadithe, des Talmud oder der paulinischen Briefe.

Mehr oder minder zufällig finde ich daneben immer wieder Bundesgenossen in dieser Sicht, so etwa seit Jahren in Jacques Attali, oder neuerdings (?) auch in Angelika Neuwirth.

Angelika Neuwirth (FU Berlin) hat sich nämlich aufsehenerregend bei der Tagung „Beyond tradition“ in Münster hervorgetan.  Thema „Aufgeklärte islamische Theologie möglich in Deutschland?“ (FAZ, 16.07.2010, S. 34). Sie sagt,

der Koran sei sowohl in seiner überlieferten Textform als auch in seiner mündlichen Vorform vor allem als „europäisches Vermächtnis, als Auslegung und Neuformulierung bereits bekannter biblischer und nachbiblischer Traditionen zu betrachten. Inhaltlich handle es sich um eine ergebnisoffene Mitschrift von Diskussionen zwischen dem Propheten Mohammed und seinen Hörern. Es gelte demnach, den Koran als europäischen Grundtext in die (westliche) Spätantike-Vorstellung aufzunehmen.

Wow! Das entspricht genau meinem Empfinden, das entspricht genau meinem bildungspolitischen Programm für Berlins Grundschüler. Koran ist also Bestandteil der europäischen Überlieferung ebenso wie frühchristliche Literatur, da sowohl Christentum wie später Islam aus der
Verschmelzung von „Jerusalem“ und „Athen“ hervorgehen.

Welch ungeheure Chance böte sich den Berliner Grundschulen, wenn sie altgriechische, jüdische, islamische und christliche Geschichten in ihren Lesestoff aufnähmen! Ulysses meets Mohammed. THAT is IT. Sie, die Berliner Stadtgesellschaft, erwürbe sich nahezu ewigen Ruhm, wenn sie die unselige Spaltung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen („christlichen“) Kindern überwände.

Aber sie tut es nicht. Sie scheut die Grundtexte der europäischen Überlieferung wie der Teufel das Weihwasser.

Koran kann gelesen werden wie die Vorlesungsmitschriften etwa des Aristoteles. Und in der Tat gab es im 11. bis 12. Jahrhundert eine Hochblüte arabischer Gelehrsamkeit, die genau das versuchte – die Synthese koranischen und aristotelischen Wissens.

Spannend, spannend … aber noch nicht Allgemeingut.

Bild: Sowjetisches Ehrenmal für den „Ewigen Ruhm“ in russischer Sprache, Ort: Erkner, Neu-Zittauer Straße.

 Posted by at 11:35

Leipzig lockt. Eine Stadt aus dem alten Europa

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Juli 182009
 

15072009.jpg Das Wochenende werde ich privat in Leipzig verbringen. Gestern überraschte mich beim Blättern im Reiseführer von Susann Buhl und Tobias Gohlis der Name des Verlags Teubner. Teubner ist ein Leipziger Verlag. Obwohl ich selbst meist die Oxford Classical Texts bevorzuge, – etwa wenn ich Plato lese -, liegt doch immer wieder ein Band der Teubnerschen Ausgaben in meiner Hand. Blau für Latein, Rot für Griechisch. Aber welche gewaltige Entfernung liegt vor einem Kind der ersten Klasse, ehe es irgendwann diese grundlegenden Texte von Vergil und Plato, von Ovid oder Homer lesen kann! Wird es in 50 Jahren noch Menschen geben, die wissen, was eine gute Teubner-Ausgabe bedeutet? Wirklich? Ich denke mir das manchmal, wenn ich in die Fanny-Hensel-Schule gehe. Nicht nur Mendelssohn Bartholdy oder Mozart, nicht nur Goethe und Shakespeare, sondern eben auch Homer, Aischylos, Aristoteles und wie sie alle heißen – diesen Bestand von etwa 200 bis 300 Autoren, der grundlegend geworden  ist für unser Selbstverständnis, den müssen wir pflegen und weitergeben.

Ich meine: von Grundschulklasse 1 an.  Jedes Grundschulkind sollte auf altersgemäße Weise an die großen, alles überstrahlenden Werke und Namen Europas herangeführt werden. In Übersetzungen. Sie sollen imstande sein, sich zu definieren auch über das, was sie wissen. Wenn sie erst mal 15 sind, werden sie neue Herausforderungen zu bewältigen haben: das massive Angebot der Medien, Sex und nochmals Sex, eine milliardenschwere Unterhaltungsindustrie, die gerne den Jugendlichen das Geld aus der Tasche zieht. Und: Kinder von 11 bis 13 Jahren sitzen heute im Durchschnitt 100 Minuten vor dem Fernseher. Täglich! Was lernen sie da? Was sehen sie da? Womit werden ihre Köpfe angefüllt? Irgendwann definieren sich die Jugendlichen dann vorwiegend über das, was sie besitzen: das iPhone, einen iPod, die schicken Klamotten. Ich meine: bereits vorher müssen wir sie bekanntmachen mit dem, was wirklich zählt. The right stuff: Aristotle, Plato and Company.

Gespannt bin ich auf das Konzept der autoarmen Innenstadt. Mit dem ICE dauert es nur 1 Stunde von Berlin nach Leipzig!  Und das erwartet uns:

Autoarme Innenstadt in Leipzig: Informationsaktion mit Hinweisen für Rad- und Autofahrer startet
# Die City soll zum Flanieren einladen, aber auch von Radfahrern durchquert werden können – einige Hauptfußgängerbereiche sowie das Barfußgäßchen, die Klostergasse und die östliche Kleine Fleischergasse ausgenommen.
# Autos dürfen nur fahren, wo dies nicht durch Beschilderung untersagt ist. Parken können sie ausschließlich auf eigens gekennzeichneten Flächen.
# Andererseits muss die Innenstadt auch für Anlieferfahrzeuge erreichbar sein, Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge müssen sich ungehindert bewegen können.
# In der gesamten Innenstadt gelten Tempo 20 und eingeschränktes Halteverbot – für den Kfz- ebenso wie für den Radverkehr.
# In den Fußgängerzonen, in denen das Anliefern und Radfahren erlaubt ist, gilt Schrittgeschwindigkeit.
# Für Fahrräder stehen in der Leipziger Innenstadt derzeit rund 730 Anlehnbügel zur Verfügung. Die Stadt plant, weitere solcher Bügel aufzustellen. Insgesamt soll es davon künftig mehr als tausend in der City geben. Zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit sollten Räder nur an Anlehnbügeln abgestellt werden.
# Rettungswege und Blindenleitstreifen müssen unbedingt freigehalten werden.

 Posted by at 08:04
Apr. 132009
 

Vorgestern nannten wir, gestützt auf unsere Gespräche mit türkischen, arabischen und deutschen Jugendlichen, diese Generation eine Generation der verlorenen Söhne. „Ich ficke deine Mutter“, „hey du Schlampe“, „du Opfer“, „du Jude“ und ähnliches sind einige jener häufigen Kraftausdrücke und Flüche, wie sie mittlerweile an deutschen Schulen, in deutschen Schwimmbädern gang und gäbe sind. Ich habe sie selbst oft gehört. Ungelöste Nöte mit der eigenen Sexualität, traditionelle Judenfeindschaft, Verachtung für die Schwachen, eine Verachtung der als allzu freizügig empfundenen westlichen Gesellschaften, eine Verachtung des eigenen Selbst, panische Angst vor Homosexualität,   – dies und vieles mehr drücken sich darin aus. An der Wurzel scheint eine völlige Orientierungslosigkeit, eine nüchterne Einsicht in die eigene Chancenlosigkeit zu stehen, ein hilfloses Suchen nach Halt, nach einem wie immer gearteten männlichen Vorbild, – und vor allem möchte man der Dominanz der Mütter und Schwestern entkommen.

Die deutsche Schule reagiert darauf offenkundig nicht oder nur ungenügend. Sie ist überfordert. Die Politik schaut ohnmächtig zu. Welches kulturelle Angebot können wir den türkischen und arabischen, den deutschen Jungmännern machen? Gibt es in der deutschen Kultur ein Werk, das diesen muslimisch geprägten Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Selbstbild ermöglicht? Ich sage: Ja! Ich schlage dazu vor ein Werk eines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Autors, den aber noch die Generation meiner Tanten (die nur die Volksschule besucht hatten), auswendig kannte. Er gehörte früher einmal zu den Dichtern, die die Deutschen kannten und liebten.

Heute kennen die Deutschen ihre Dichter nicht mehr, lesen sie nicht mehr an der Schule, lernen sie nicht im Kindergarten kennen, und folglich können sie auch nicht wissen, was sie zu verlieren drohen. Man vertreibt sich die Zeit mit Einheitsbrei, mit Fernsehsülze und Dudelmusik. Im Deutschunterricht wird heute offenbar nichts Wesentliches aus der Vergangenheit mehr gelesen. Folglich wird den türkischen und arabischen Jungdeutschen auch kein brauchbares Identifikationsangebot gemacht.

In Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“ können türkisch-deutsche und arabisch-deutsche Jugendliche eine taugliche Folie finden, in denen sie ihre eigenen Nöte wie in einem fernen Spiegel erkennen.

Zunächst einmal: In dem Stück wird kräftig und ausdauernd geflucht und geschimpft, es sind pubertäre Ergießungen, die den Kreuzberger Jungdeutschen im Prinzenbad sicherlich das Wasser reichen können. Und es wird geplündert und gebrandschatzt, dass die linksautonomen Brandstifter, die reihenweise Autos in Friedrichshain-Kreuzberg anzünden, ihre helle Freude hätten! Eine ganze böhmische Stadt wird durch die Räuber in Schutt und Asche gelegt – da können selbst unsere Jungs aus dem schwarzen Block nicht mithalten. Was den Schillerschen Räubern, den Jugendgangs aus Neukölln und dem schwarzen Block der Kreuzberger deutschen Linksautonomen gemeinsam ist: Jede individuelle Verantwortung wird abgelehnt, man versteckt sich im Dunklen, im schwarzen Block, im türkisch-arabischen Gruppen-Ich, das jede Selbstbefreiung verhindert. Man steht nicht zu dem, was man tut, sondern schiebt die Schuld auf andere.

Die Frauen werden  regelmäßig als Hure oder Metze bezeichnet – dies entspräche dem Ausdruck Schlampe im heutigen Neuköllner Männerbewusstsein. Der Räuberhaufen rühmt sich auch mit besonderer Inbrunst, wie er ein Frauenkloster überfällt, plündert und die Nonnen dann einer Massenvergewaltigung unterwirft. Grausamkeiten, wie sie viel später in deutschen KZs an der Tagesordnung waren, werden in Schillers Stück bereits vorweggenommen. So erzählt das Gang-Mitglied Schufterle, wie er ein Kleinkind in den Feuertod stürzt:

Armes Tierchen, sagt ich, du verfrierst ja hier, und warfs in die Flamme.

In der Gestalt des Banditen Spiegelberg wiederum haben wir das Zerrbild eines Juden vor uns, wie ihn die düsterste Phantasie eines rabiaten Berliner Antisemiten auf einer Al-Quds-Demo nicht besser ersinnen könnte.

Meisterhaft schildert Schiller sodann die Selbstrechtfertigung des Karl Moor: Seine Verbrechen rechtfertigt Moor damit, dass die Herrschenden, also die Gerichtsherren, die Fürsten, die Pfaffen erbarmungslos das Volk ausplünderten und bis aufs Blut aussaugten! Das ist leidenschaftlich erregte Kapitalismuskritik,  wie sie „im Buche steht“. Karl Moor sagt:

„Mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“

Exakt dieses Grundmuster werden wir dann ab 1977 im deutschen Herbst wiederfinden. Die RAF – etwa Andreas Baader, Ulrike Meinhof und alle die anderen – hing bekanntlich ebenfalls dem pathologischen Wahn an, sich an der herrschenden Klasse rächen zu müssen für all das, was die herrschende Klasse dem Volk angetan hatte – auch in den Jahren 1933-1945. Was für eine Verblendung, was für eine Wiederkehr des Gleichen macht Schiller hier sichtbar!

Ein erster Titel, den Schiller für sein erstes Drama wählte, lautete übrigens: „Der verlorene Sohn oder die umgeschmolzenen Räuber“. Welches Stück könnte besser auf unsere verlorenen Söhne passen!

Ich nehme an, dass dieses Stück von Friedrich Schiller an Berliner Schulen ebensowenig gelesen wird wie die Gedichte Hölderlins oder Bismarcks Lebenserinnerungen, ebensowenig wie das Kommunistische Manifest, der Koran, der Talmud oder das Neue Testament. Kein Kleist, kein Sigmund Freud, kein Goethe. Kein Nazim Hikmet. Keine Hadith.

Dabei bieten Schillers Räuber ein ideales Laboratorium der unfertigen, mit sich selbst mühsam ins Reine kommenden Männlichkeit. Würden Hauptschüler sich damit auseinandersetzen – etwa indem sie dieses Stück selbst erarbeiten und dann auf die Bühne bringen – sie hätten die riesige Chance, einen vergessenen Schatz der deutschen Kultur dem Vergessen zu entreißen. Und zugleich würden sie in einer Art Probehandeln die eigenen, zutiefst destruktiven Impulse beherrschen und umwandeln lernen. Sie könnten sich selbst gewissermaßen – wie im urspünglichen Titel angedeutet – „umschmelzen“.

Sie würden durch die praktische Theaterarbeit endlich auch eine gute, akzentfreie deutsche Aussprache lernen. Denn selbst das bringen die Berliner Schulen unseren Kindern nicht bei. Ich höre bei den arabischen und türkischen Jungdeutschen viel Nuscheln, Durch-die-Zähne-Sprechen, Stottern, Stammeln, Lallen.

Ich bin überzeugt: Durch die intensive Befassung mit Friedrich Schillers „Die Räuber“ könnte ein Beitrag zu dem geleistet werden, was Necla Kelek die „Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“ nennt.

Die Boote liegen zur Abfahrt bereit.

Um mehr zu erfahren: Besucht das Prinzenbad und das Spreewaldbad in Kreuzberg! Sprecht mit den Jungs, hört ihnen zu!

Lest mehr dazu in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte. Dramen I. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 8., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1987, darin: Die Räuber. S. 481-638

 Posted by at 18:03