„… verwerflich wie eine Gotteslästerung“: Rosa Luxemburg und Vera Lengsfeld

 1917, Krieg und Frieden, Rosa Luxemburg, Sozialismus  Kommentare deaktiviert für „… verwerflich wie eine Gotteslästerung“: Rosa Luxemburg und Vera Lengsfeld
Jan 112009
 

11012009002.jpg Heute fand wieder der Gedenkmarsch zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts statt. Zwar ging ich nicht hin, sondern ergötzte mich lieber durch Schlittenfahren auf dem Teufelsberg. Aber ich beging den Gedenktag doch im stillen für mich, indem ich in den Schriften Rosa Luxemburgs und Vera Lengsfelds las. Ist das verwerflich wie eine Gotteslästerung, zwei so unterschiedliche Autorinnen hintereinander zu lesen?

Suchen wir doch das Gemeinsame, statt immer nur das Trennende zu sehen! An diesen Frauen bewundere ich gleichermaßen ihre Unbeugsamkeit, ihren Mut. Rosa Luxemburg trat im Taumel der nationalen Begeisterung gegen die Kriegskredite für das Deutsche Reich ein. Sie widersetzte sich der wilhelminischen Obrigkeit. Sie war eine der wenigen Stimmen, die sich gegen den verheerenden, selbstzerfleischenden Krieg der alten Mächte erhoben, den wir heute als Ersten Weltkrieg bezeichnen. Sie beschuldigte den Kaiser Wilhelm öffentlich der Unwissenheit:  „Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen.“ Sie wurde allein schon wegen dieser Äußerung ins Gefängnis gesteckt. Und in dieser antimilitaristischen und antimonarchistischen Haltung findet Rosa Luxemburg meine volle Bewunderung und Sympathie. Solchen Mut bringen nur wenige auf.

Nach dem Rodeln las ich noch einmal Luxemburgs postum veröffentlichten Aufsatz über die Russische Revolution – und dann Vera Lengsfelds Bericht über ihre Verhaftung bei der Luxemburg-Demo im Jahr 1988. Vera Lengsfeld wurde ins Gefängnis gesteckt, weil sie sich nicht scheute, gegen die Obrigkeit Position zu beziehen. Sie plante, auf der Luxemburg-Gedenkversammlung ein Transparent mit dem Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“ zu entrollen. Doch dazu kam es nicht. Sie wurde verhaftet. „Versuchte Zusammenrottung und Rowdytum“ – so lautet die Anklage in dem gegen sie geführten Prozess. Wir können das heute bequem im Wohnzimmer nachlesen. Die drei Kapitel „Luxemburg-Demo“, „Verhaftung“ und „Verhandlungen“ halte ich für das eigentliche Kernstück in Lengsfelds autobiographischen Erinnerungen „Von nun an ging’s bergauf …“ Diese Zeit im Stasi-Knast scheint für sie die entscheidende Wende gewesen zu sein, denn vorher ist immer noch ihr Bemühen erkennbar, gemeinsam mit anderen Oppositionellen die DDR „von innen her zu verbessern“. Die Abschiebung in die Bundesrepublik lehnte sie selbst im Gefängnis noch ab: sie wollte ihre Staatsbürgerschaft behalten, fühlte sich gegenüber dem Staat in der Verantwortung, in dem sie lebte. Erst in der Isolation der Haft wurde ihr mit Lug und Trug, mit den eingespielten Machenschaften des Staatsapparates heimgeleuchtet, dass es in der DDR für sie keinen gangbaren Weg  mehr gab.

Gestern fragten wir uns in diesem Blog, ob Rosa Luxemburg in den Terror der Bolschewiki in Russland eingeweiht war. Die erneute Lektüre ihres Aufsatzes „Zur russischen Revolution“ ergibt einen eindeutigen Befund: Sie, die in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie im russisch besetzten Teil Polens aufgewachsen war, nahm lebhaftesten Anteil an allen Phasen der Revolutionen im Februar und Oktober und war offenkundig bestens informiert darüber, dass die Bolschewiki zur Durchsetzung ihrer Ziele ein hohes Maß an Terror gegen andere revolutionäre Strömungen und gegen die „Bourgeoisie“ einsetzten. Den gesamten Aufsatz durchziehen sogar Überlegungen über Sinn und Zweck des Terrors in Revolutionen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten: Die Rechtfertigung des Terrors ist ein Hauptanliegen der Schrift. Luxemburg erklärt ihn als den besonderen Umständen in Russland geschuldet – eine Bilderbuchdemokratie sei den Genossen in Russland nicht abzuverlangen, denn die deutsche Okkupation und das Versagen des deutschen Proletariats hätten die Bolschewiki in eine Lage versetzt, in der man die bloß äußerlichen Errungenschaften der bürgerlichen Scheindemokratie – etwa gleiches allgemeines Wahlrecht, und ich füge hinzu: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – hintanstellen müsse. Die Diktatur des Proletariats – so Luxemburg – ist nötig und unvermeidlich als Übergang:

Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.

Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen.

Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung, und zwar namentlich in der letzten Periode vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat auf den deutschen Gesandten. Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.

Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern.

Salopp verkürzt, scheint Luxemburg sagen zu wollen: „Das wird sich schon einrenken. Jetzt werden Ströme von Blut vergossen, aber sobald die Massen erkannt haben, dass sie nach der Revolution endlich eigenständig erkennen können, was für sie das Beste ist, wird der Terror überflüssig sein.“ Dann wird auch das Reich der Freiheit anbrechen – und für diese Zeit – geraume Zeit nach der Revolution – fordert Luxemburg dann auch jene Freiheit des Andersdenkenden ein, deretwegen sie so vielfach zitiert und missverstanden worden ist:

„Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von Stufe zu Stufe.“ Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffenlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müßte man annehmen, daß die Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins: Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!)

In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der „Gerechtigkeit“, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die „Freiheit“ zum Privilegium wird.

Ich muss den Aufsatz Rosa Luxemburgs zur vollständigen Lektüre empfehlen! Atemlos geschrieben, gleichsam rednerisch aufzählend, voller Wucht, voll offener Aggressionen gegenüber allen, die innerhalb der sozialistischen Bewegung anders als Luxemburg denken, ein belehrend-hochgelehrtes Werk, ersichtlich nur für eingeweihte Theoretiker geschrieben, gespickt mit Anspielungen, mit Zitaten,  und doch aus dem Gefängnis der kommunistischen Glaubensgemeinschaft heraus geschrieben: ein verzweifelter Versuch, zu retten, was zu retten ist! Ein Begriffsnebel, hinter dem doch eines hervortritt: das Bemühen, Freiheit und Diktatur zusammenzudenken. Ich bin überzeugt: Rosa Luxemburg wusste bestens bescheid, sie wusste vieles, was wir – die breite Masse – erst ab 1990 erfahren konnten.

Ich würde gerne einmal Vera Lengsfeld fragen, was sie von diesem Aufsatz hält. Aber vielleicht genügt es, als knappen Kommentar zu Luxemburgs Anstrengungen einen Abschnitt aus Lengsfelds Lebensbeschreibung zu setzen. Zum „Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ schreibt sie:

Dass sich die menschliche Gesellschaft um Regeln bemühte, die ein gleichberechtigtes, freies Zusammenleben ermöglichten, war in Ordnung. Dass sie ein gemeinsames Ziel haben müsse, das über allem stand und für das Opfer verlangt und als gerechtfertigt bezeichnet wurden, war mir suspekt. Ich hatte schon als Kind nicht verstanden, warum es >>heldenhaft<< gewesen sein sollte, dass sich eine junge Sowjetarbeiterin mit der sicheren Ausssicht zu ertrinken in einen reißenden Fluss warf, um einen Balken zu retten.

Dieses gemeinsame Ziel – wenn es denn eines geben soll, wer legt es fest? Die Partei? Eine Partei, viele Parteien? Das heutige Lumpenproletariat, von dem die hochgebildete Tochter der Bourgeoisie Rosa Luxemburg nur mit Verachtung spricht und für dessen Bändigung ihrer Meinung nach nicht einmal der Terror ausreicht? Die später einmal gebildeten Massen, die dank der Revolution endlich erkennen können, was sie wollen? Fragen über Fragen … auf die ich bei Luxemburg keinerlei Antworten finden kann. Bei aller Hochachtung vor der Lebensleistung und dem Mut Rosa Luxemburgs, bei allem Abscheu vor dem hinterhältigen feigen Mord an ihr: Ich selbst versage ihr jede Zustimmung, wenn sie anderen vorschreiben will, was sie zu wollen haben … da ist keine Freiheit  möglich, sondern das ist die Rechtfertigung des Terrors – als Dauerlösung.

Ich schlage mich da eindeutig auf die Seite Vera Lengsfelds. Auf die Seite der Zweifler, der Nicht-Überzeugten, der Sucher und der Vorsichtigen, derjenigen, die den Mut haben zuzugeben, dass sie keine letzten Gewissheiten haben.

Unser Foto zeigt einen Gleitschirmflieger beim beständig wiederholten Versuch, die Freiheit des Fliegens zu finden. Aufgenommen heute auf dem Teufelsberg in Berlin

Nachweise:

Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution. In: Rosa Luxemburg: Politische Schriften, Band 3, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. Main, 1968, Seite 106-141. Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen Manuskript aus dem Nachlaß. Hier zitiert nach: http://www.glasnost.de/klassiker/luxem3.html

Vera Lengsfeld: Von nun an ging’s bergauf. Mein Weg zur Freiheit.  Mit 17 Abbildungen. 2. durchgesehene Auflage, LangenMüller Verlag, München 2007, hier speziell: S. 87; S. 240 (Zitat Kramnitzer)

Das Zitat „Verwerflich wie eine Gotteslästerung“ stammt von Heinz Kramnitzer und stand im Neuen Deutschland. Es bezog sich auf die geplante Aktion Vera Lengsfelds bei der Luxemburg-Demo 1988

 Posted by at 22:37

Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg

 1917, Kinder, Lenin, Rosa Luxemburg, Russisches, Sozialismus, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg
Jan 102009
 

Diese Überschrift lese ich heute in einer Ausgabe des Kämpfers. Das Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk Ruhrgebiet, liegt druckfrisch vor mir. Ein Foto zeigt „unseren toten Führer Lenin als Kind“: ein heller, aufgeweckter Bub von etwa 6 Jahren blickt uns da an. Fröhlich schaut er nicht drein, sondern eher gesammelt, aber doch mit einem unleugbaren Charme ausgestattet! Wir merken gerührt: Auch die großen Männer der Weltgeschichte waren einmal Kinder wie du und ich.

Der Artikel im Jungen Pionier, der Jugendbeilage des Kämpfers, rühmt Lenin, Liebknecht und Luxemburg mit folgenden Worten:

„Wladimir Iljitsch Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren drei große Führer der Arbeiterklasse. Sie setzten ihr Leben ein im Kampf um den Sozialismus. Sie kämpften für die Befreiung der Arbeiter und Bauern aller Länder.  Ihre Namen und ihre Taten sind unvergeßlich und werden nie verlöschen, solange Menschen auf Erden leben. Genosse Iljitsch schuf mit den russischen Arbeitern und Bauern die Partei der Bolschewiki, die unter seiner Führung im Kampf um den Roten Oktober, die Fahne mit Hammer und Sichel für immer auf dem Kreml zu Moskau setzte.“ 

So weit zitieren wir aus dem Kämpfer, der Zeitung der KPD vom 30. Januar 1933. Höchst verdienstvoll ist das verlegerische Unternehmen, eine ganze Reihe von Zeitungen aus dem Jahren 1933-1945 nachzudrucken. Die Reihe heißt ZEITUNGSZEUGEN. Heute fand ich die erste Sammelausgabe am Kiosk. Sie enthält je eine unveränderte Ausgabe des kommunistischen Kämpfers, der gemäßigt-konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung und des nationalsozialistischen Angriffs.

Ihr habt vielleicht bemerkt, dass ich mich kürzlich vor dem Lenin-Mausoleum und dem Kreml fotografieren ließ und dieses Foto am 31.12.2008 in dieses Blog setzte. Schaut genau hin! Die Fahne mit Hammer und Sichel weht entgegen der Vorhersage des Kämpfers nicht mehr auf dem Kreml, sondern sie wurde mittlerweile durch die neue Staatsflagge der Russischen Föderation ersetzt. Das Mausoleum mit dem einbalsamierten Leichnam Lenins wird aber weiterhin mit der gleichsam sakralen Würde für Besucher offengehalten, wie dies in den Jahren der Sowjetunion geschah.

Bei meinen Diskussionen mit deutschen Kommunisten hörte ich des öfteren ungefähr folgende Auffassung: „Der Stalinismus beging grobe Fehler. Gewisse Verbrechen in den dreißiger Jahren kann man nicht leugnen. Aber der Ansatz Lenins war gut. Leider nahm die UDSSR nach seinem Tod einen anderen Gang, als er gewollt hatte.“ Im Klartext: Lenin gut – Stalin böse. Der Stalinismus wird als Fehlentwicklung und Verirrung gesehen. Lest bitte beispielhaft hierzu den Artikel im Neuen Deutschland vom heutigen Tage. Besprochen wird darin eine neue vierbändige Gesamtdarstellung:

Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität 1918/19 bis 1946. 4 Bände. Hg. v. Klaus Kinner (mit Elke Reuter, Ruth Stoljarowa, Günter Benser, Hans Coppi, Gerald Diesener, Wladislaw Hedeler u. a.). Karl Dietz Verlag, Berlin

Wir zitieren aus der Rezension im Neuen Deutschland:

Diese Geschichtsdarstellung bricht radikal mit dem Stalinismus in der Parteigeschichtsschreibung. Damit wird endlich eine alte Aufgabe erfüllt. Es geht nicht ohne Schmerzen ab, wenn der Leser präsentiert bekommt, welche furchtbaren Wirkungen der Stalinismus auf die deutsche Arbeiterbewegung hatte, wie er diese strategisch völlig fehlorientierte, wie er viele ihre Kader verfolgte, moralisch verlumpte und ermordete. Der Abschnitt über den Hitler-Stalin-Pakt 1939 lässt die Haare sträuben.

Stalin, so erfährt heute jeder Moskau-Tourist, wurde aus dem Mausoleum entfernt und an einen weniger ehrenvollen Platz in die Kremlmauer umgebettet. Wie sieht nun die heutige russische Sicht auf Lenin aus?

Ich ziehe hierzu das mir vorliegende, vom russischen Bildungsministerium empfohlene  Lehrbuch Istoria Rossii, 5., überarbeitete und ergänzte Ausgabe, Moskwa 2008, heran. Autoren: A.A. Danilow, L.G. Kosulina, M.Ju. Brandt.

Mein Gesamteindruck: Dieses Schulbuch wendet sich entschieden von einer personalisierenden Geschichtsschreibung ab. Zwar wird die Rolle einzelner Politiker durchaus gewürdigt, doch herrscht insgesamt eine funktionale Sicht auf historische Abläufe vor. Eine der Grundfragen scheint zu sein: Welchen Weg nahm Russland, um von einem rückständigen, agrarisch geprägten Reich mit unzureichenden Entwicklungschancen für die Industrie zu einem modernen Nationalstaat zu werden? Wie verlief die Modernisierung Russlands? Zahlreiche Einzelphänomene, die aus sowjetischer Sicht bis 1990 geleugnet oder ausgespart wurden, werden von den Autoren ausdrücklich erwähnt, so etwa der Rote Terror ab 1918 auf ausdrückliche Anordnung Lenins, die massive Repression unter Stalin – und der GULAG. Vor einer einseitig moralisierenden Darstellung hüten sich die Autoren jedoch bei diesen Darstellungen ebensosehr wie vor einer dämonisierenden oder heroisierenden Schilderung des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland.  Abkehr von Personalisierung, von Heroisierung und Dämonisierung – Hinwendung zu einer funktionalen Analyse mit besonderer Berücksichtigung des Problems der gewaltsamen Modernisierung – mit diesen Formeln fasse ich meinen Gesamteindruck von diesem und anderen Büchern zusammen.

Als Beispiel sei herausgegriffen das Kapitel über den Roten Terror ab 1918, auf S. 113. Am 30. August 1918 wurde Lenin bekanntlich bei einem Attentat schwer verletzt. Die Sowjetmacht griff daraufhin verstärkt zum Mittel der systematischen Einschüchterung der Bevölkerung – zum Roten Terror. Wir zitieren wörtlich aus dem Schulbuch: „Der Terror war massiv. Allein als Reaktion auf den Anschlag auf Lenin erschoss die Petrograder Tscheka nach offiziellen Feststellungen 500 Geiseln.“

Der bereits unter Lenin einsetzende Rote Terror wird an anderer Stelle, nämlich durch die russische Wikipedia so definiert und durch entsprechende Fotos dokumentiert:

Кра́сный терро́р — массовые репрессии как против ряда деятелей аристократии, офицерства, буржуазии, интеллигенции, священников[1], деятелей оппозиционных партий, лиц сочувствовавших и причастных Белому делу, так и против мирного населения проводившиеся большевиками в ходе Гражданской войны в России. Согласно Постановлению СНК РСФСР от 5 сентября 1918 «О красном терроре», красный террор ставил перед собой задачу освобождения республики от «классовых врагов» и, согласно документу, физического уничтожения, «расстрела всех лиц, прикосновенных к белогвардейским организациям, заговорам и мятежам»

Wir fassen unsere Einzelbeobachtungen zusammen:

1. Die in Deutschland mitunter noch vertretene Meinung, erst unter Stalin sei der systematische Terror mit Massenhinrichtungen, willkürlichen Verfolgungsmaßnahmen und Straflagern zum offiziellen Mittel der kommunistischen Politik geworden, wird unter Historikern in Russland selbst nicht mehr aufrechterhalten. Richtig ist vielmehr: Bereits unter Lenin wurde Terror in der Sowjetunion systematisch eingesetzt und auch schriftlich als Parteidoktrin verkündet. Damit wird auch die Meinung, der Stalinismus sei eine Verirrung, eine tragische Fehlentwicklung gewesen, die erst nach dem Tode Lenins eingesetzt habe, kaum mehr zu rechtfertigen sein. Soweit die großen Führer der Arbeiterklasse ab 1918 in Deutschland der russischen Sprache mächtig waren und Kontakt nach Moskau hielten, werden sie diese Tatsachen schwerlich übersehen haben.

2. Von einer übertriebenen Personalisierung historischer Abläufe scheint die heutige russische Geschichtsschreibung zugunsten einer eher funktionsorientierten Interpretation geschichtlicher Abläufe abzurücken.

3. Die in der heutigen deutschen Presse mitunter erhobenen Vorwürfe, in Russland sei derzeit eine Verharmlosung oder Leugnung der Verbrechen des Stalinismus im Gange, halte ich für irreführend. Sie lassen sich mit Verweis auf die tatsächlich in Russland geführten Diskussionen widerlegen.

 Posted by at 23:23