„Worum geht es eigentlich in der Dalinda?“ (Teil 1)

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Mai 122023
 

Tja, was wird hier in dieser bisher nie aufgeführten Oper eigentlich gespielt? Ich versuche mir die Handlung der Oper vor der Uraufführung der Berliner Operngruppe zurechtzulegen:

ATTO I
N.1 Introduzione
Volksfest in den Gärten Emessas (=Homs in Syrien). Bunt geschmückte erleuchtete Pavillons. Die Abendländer („Franchi) und die Muslime („Sarazenen“) überbieten sich in Höflichkeiten. Buntes Treiben, man tanzt, raucht, schmaust  nach Herzenslust. Syrer, Hebräer, Armenier beider Geschlechter bezeugen so den interreligiösen Frieden, den Frieden unter Mann und Frau.

Scena I:

Nr. 1 Introduzione:

In ausgelassener Heiterkeit betreten Corboga, Ubaldo, Ugo, Garniero, Ridolfo, Guglielmo die Bühne, später auch Ildemaro, der sich vor lauter Müdigkeit abseits der anderen auf einem Hocker ausruht.

Die Männer preisen und rühmen den Frieden, freuen sich auf ein noch bombastischeres Friedens- und Versöhnungsfest in Alamut (Iran).

Corboga verkündet die unheilvolle Anwesenheit Dalindas in Alamut. Der Männerchor erschrickt und schmäht Dalinda, die Tochter des Alten vom Berge, als Ausbund an Bösartigkeit (Takt 105 ff.)

Ugo bietet an, die Geschichte Dalindas zu erzählen.

Ildemaro winkt ab und kündigt an, die Erzählung Ugos zu „verschlafen“.

Ugo erzählt: „Nach dem Friedensschluss zwischen Richard Löwenherz und Saladin herrscht eitel Freude zwischen dem Abendländer und dem Sarazenen, als Gipfel der Ehrerbietung wurde sogar eine Frau als Prämie verschenkt.“ Der Chor fällt ein: „Ja, wir erinnern uns daran – toller Erfolg!“ (Takt 140ff.). Ugo erzählt weiter: „Auf dem Rückweg tauchte mitten im Wald von Saron der König Konrad III. als bluttriefendes Gespenst auf und kündigt das weiterhin todbringende Wirken Dalindas an.“ „Auch er war ein Opfer [Dalindas]!“, stimmt der Chor ein (T. 166). „Aber nicht mit uns – nein – nein -nein!“

Vivace:

Die Kapelle lädt zum Tanz ein. Der Chor verwirft die düsteren Prophezeiungen als eitel Schreckgespenst: „Lasst uns fröhlich feiern, der Alte vom Berge, Rashid ad-Din Sinan, der fundamentalistische Hauptfeind des weisen Sultans Saladin hat ja dem Friedensvertrag zugestimmt, der kann uns mit seinen Satellitenkönigen nichts anhaben! Hurra, wir sind sicher vor den Dolchen der Daiden (Takt 200-430)“!

Alle außer Ildemaro verlassen die Szene, um sich in einem der Festzelte weiter zu vergnügen.

Nr. 2 Romanza, Duetto e Finale Primo

Scena II: Dalinda in armenischer Verkleidung betritt vorsichtig die Bühne in Begleitung eines Dais, der ebenfalls als Armenier gekleidet ist. Ildemaro schläft weiterhin. Sie schickt den Dai mit einer Handbewegung weg und nähert sich dem schlafenden Ritter, in wohlgefälliges Betrachten versunken. Corboga kehrt zurück.

Dalinda gerät singend in Entzückung beim Anblick des schlafenden Ildemaro. Dann bemerkt sie Corboga, der sie vor ihren überall lauernden Feinden warnt. Sie erwidert: „Wirklich, überall werde ich verachtet – könnte ich doch wenigstens offenbaren, dass  Ildemaro mein Sohn ist. Dann vergäße ich in meinem Sohn alle Missetaten (jenes unwürdigen Erzeugers). Und jetzt lass mich allein!“ Corboga tritt ab.

Scena III: Dalinda und der schlafende Ildemaro. Während Dalinda sich dem Ritter nähert, bemerkt sie nicht, dass ihr Gemahl Acmet und Elmelik, ein Dai des Alten vom Berge, in täuschender Verkleidung maskiert ihr hinterherspionieren.

Dalinda besingt Ildemaro als Ausbund aller Wonnen und wünscht ihm alles nur erdenkliche Gute. „Möge er nicht dazu verleitet werden, mich zu verachten wie alle Welt sonst!“

Unterdessen befragt der in Eifersucht entbrannte Acmet den Dai Elmelik, wer der Liebhaber seiner Gemahlin sei, und fordert ihn auf, alle erdenklichen Beweise gegen sie zu sammeln, sie auzuspionieren und ihm Bericht zu erstatten.

Dalinda besingt noch einmal in höchsten Tönen und Koloraturen (mehrfaches hohes B!) ihre Liebe zu Ildemaro und schickt sich an abzutreten. Da kehrt sie noch einmal zurück und küsst zärtlich seine Hand. Dadurch erwacht Ildemaro. Auf den ersten Blick verliebt er sich in die ihm unbekannte Dame.  In beiden erwacht stürmisch eine unnennbare Leidenschaft, die sie einander sofort eingestehen.

Doch warnt Ildemaro seine neue Liebe, es gebe da eine Objekt seiner Zuneigung, das er noch mehr liebe als sie – seine Mutter!  „Liebe deine Mutter!“ erwidert Dalinda.

Larghetto.  Ildemaro erzählt, er sei als Ziehsohn eines unedlen Fischers (Di pescator ignobile) herangewachsen, habe seine Mutter nie kennengelernt, nur ein Schreiben ihrer Hand sei ihm von einem unbekannten Krieger übergeben worden. Dieses Schreiben trage er stets an seiner Brust. „Meine Mutter schrieb mir, sie sei Opfer eines schrecklichen Unglücks geworden und bete jeden Tag für mich. Nur eines hat sie mir aufgetragen: Ich dürfe sie nie befragen, was ihr Name sei und woher sie stamme.“

Dalinda fällt ihm ins Wort: „Möge irgendwann doch deine Mutter dich an ihre Brust drücken.“

Aus den Festzelten treten plötzlich verschiedene Personen hervor, darunter Ugo mit seinen Freunden. Dann bilden sie ein dichtes Gedränge.  „Da kommen Leute! Ich muss dich hier allein lassen…!“, verabschiedet sich Dalinda.

Scena V.

Ugo: „Ja, wen sehen wir denn da?“ Ildemaro hält Dalinda fest und bestürmt sie: „Hiergeblieben! Wer bist du? Sag es endlich!“

(Fortsetzung folgt)

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Sep. 302016
 

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Spätes Eintreffen am Abend in Schöneberg! An der Hauptstraße halte ich und bestelle bei einem arabischen Kiosk einen Falafel-Teller. Halblaute Gespräche in deutscher, türkischer und arabischer Sprache umgeben mich. Ich setze mich ans Trottoir und verzehre den Falafel-Teller mit größtem Behagen und betrachte dabei die Passanten im lauen Spätsommerabend.  Und dann trinke ich mir Mut des Lebens aus dem türkischen Milchgetränk: trinke zwei Becher lauen Ayran. Die Mühsal der Flugreise fällt von mir ab. Da „quillt laue Milch, sie steht bereit für Kind und Lamm“, so steht es ja im Faust. Ich muss hierzu entschuldigend sagen, dass die gewaltige Fabel vom Faust, wie sie Goethe gedichtet hat, mich in diesen Tagen auf Schritt und Tritt begleitet. Bei vielen, auch bei den unmöglichsten Anlässen fallen mir Verse aus Goethes Faust ein. Wem mag es sonst noch heute noch so gehen? Früher war diese Marotte häufiger, zum Beispiel flocht Konrad Adenauer immer wieder Zitate aus Goethe und Schiller in seine Reden ein. Er schämte sich Goethes und Schillers nicht.

Dann komme ich zuhause an. Der erste Mensch, dem ich in meinem Haus begegne, ist ein türkischer Nachbar. Das erste Gespräch in Schöneberg  führe ich mit ihm. Wir begrüßen uns  mit einem herzhaften İyi akşamlar. Wir sprechen über die Situation in der Türkei an der Grenze zu Syrien. Sie ist nicht so, wie sie in der Zeitung steht.

Zuhause in der Wohnung angekommen, lese ich die frische Nachricht eines mir nahestehenden über 80 Jahre alten Mannes, der mir aus Hessen folgendes schreibt:

„Ich möchte noch länger leben und gegen den aufkommenden Nationalismus kämpfen. Diese Pest hat unter deutscher Führung im 20. Jahrhundert Europa zerstört. Wir hatten 60-70 Jahre Frieden und Fortschritt und jetzt erhebt dieses Unheil wieder den Kopf! Ich habe viele Länder erlebt und geliebt und fand überall als überzeugter Deutscher gute Aufnahme. Die Europäische Union ist der größte politische Fortschritt und muß erhalten bleiben. Nationaler Egoismus sägt an seinem Bestand. Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi waren weise Politiker. Sie haben die Grundlagen gelegt. Merkel hat es gewagt, nach christlichen Grundsätzen politisch zu handeln, und wird jetzt von Kleingeistern, die ihr nicht das Wasser reichen können, gescholten.“

Beachtenswerte Worte, die mir ein guter Deutscher und überzeugter Europäer übersandt hat! Ich gebe sie hier gerne wieder.

Doch wollen wir dieser abendlichen Stunde hohes Gut nicht durch den gefährlichen, wieder aufkeimenden europäischen Nationalismus eintrüben lassen! Schließen wir doch diese kleine Betrachtung eines Heimkehrers mit einem Blick auf die Eichen des Kékes, und rufen wir uns ein paar Verse aus dem Faust, diesem Schicksalsbuch der Deutschen, mutmaßlich dem größten und bedeutendsten Werk der deutschen Dichtung ins Gedächtnis; sie finden sich in der Tragödie zweiten Teiles drittem Akt, im inneren Burghof, von wo sich der Blick mählich zum schattigen Hain weitet, zu einem herrlich gemalten Arkadien hin:

Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,
Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.
Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche
Siehst Wollenheerden ausgebreitet ziehn.

Vertheilt, vorsichtig, abgemessen schreitet
Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand,
Doch Obdach ist den sämmtlichen bereitet,
Zu hundert Höhlen wölbt sich Felsenwand.

Pan schützt sie dort und Lebensnymphen wohnen
In buschiger Klüfte feucht erfrischtem Raum,
Und, sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen,
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Goethe, Faust, Verse 9542-9554

Bild: In den Eichenwäldern auf dem Kékes-Berg, Aufnahme von gestern

 

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„Ich spreche viele Sprachen, aber Deutsch ist meine Lieblingssprache“. Auf die Frage: Was ist deutsch?

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Juli 052016
 

O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!
Welche neue Welt bewegest du in mir?
Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

Diese deutschen Verse des aus dem schwäbischen Urach stammenden Eduard Mörike sind schön, sie klingen heiter sangbar, sie haben die Leichtigkeit des Andante cantabile in F-Dur aus Mozarts Streichquartett in C-dur, KV 465, datiert Wien, 14. Januar 1785. Sie sind im besten Sinne typisch und unverwechselbar deutsch. Ich murmele und summe sie manchmal vor mich hin, wie ich auch gerne die eine oder andere Stelle aus Mozarts C-Dur-Streichquartett KV 465 für mich hinsumme und mit anderen zusammen hinfiedele (so etwa gestern abend).

„Aber was ist denn typisch deutsch?“ Antwort: „Deutsch“, das sollte – so meine ich – in heutigen Zusammenhängen im Wesentlichen das sein, was es der Grundbedeutung nach von Anfang an war: eine Sprachbezeichnung. Theodisk, tiudisk, todisk und wie auch immer … das ist seit den Zeiten des Althochdeutschen bis heute jemand, der als Haus- und Heimatsprache jene Sprache verwendet, die in eben dieser Sprache als „theodisk, tiudisk, tütsch, dytsch, daitsch“  usw. bezeichnet wird, also das, woraus sich das heutige Deutsche in all seinen Spielarten entwickelt hat. „Deutsch“ ist seit etwa dem Symboljahr 842, also der Zeit der Straßburger Eide, im Kern kein politischer Begriff, sondern zunächst einmal ein rein sprachlicher.

Dass Sprachzugehörigkeit unverbrüchlich auch politische Zugehörigkeit bedeuten solle, kam später.  Es ist eine Idee von „1789“ bzw. „1813“. Erst durch die Französische Revolution von 1789 und die europäischen Nationalbewegungen (vgl. etwa die preussisch-russische Koalition von 1813, den Startschuss der Befreiungskriege im Norden Europas) wurde die Deckungsgleichheit von Volk, Staat, Sprache und Boden verkündet. „Ein Volk, eine Sprache, ein Land“ – das ist die typische Gleichung dafür, wie sie übrigens bis zum heutigen Tage nicht nur in vielen europäischen Staaten, sondern auch im Nationalstaat Türkei von allen Bergeshängen, auf Plätzen und in Hymnen, in Gedichten und Zeitungsartikeln und Verlautbarungen des Landesvaters verkündet wird.

Wir vertrauen heute dieser damals revolutionären, neuartigen, ab den Symboljahren 1789 und 1813 gut belegten, historisch gewachsenen Gleichsetzung von Boden, Volk, Staat, „Blut und Gut“, Politik und Gesellschaft mit gutem Grund nicht mehr.

Und deshalb treffen Adornos und Bassam Tibis Liebeserklärungen an die deutsche Sprache gerade heute im besten Sinne den Kern der Sache!

Linkspopulisten, Rechtspopulisten, Mittepopulisten oder überhaupt irgendwelche Isten oder Ister – wie etwa die  trotzistischen Brexiteristen – sind Tibi und Adorno dabei sicher nicht! Die heute bei den Deutschen, insbesondere bei den deutschen akademischen Jungspunden in Deutschland so weit verbreitete Missachtung und Geringschätzung der deutschen Sprache ist Tibis und Adornos Sache nicht! Bei vielen Akademikern und auch Kulturschaffenden gehört es – wie wir alle wissen – zum guten Ton, in Deutschland lieber Grotten-Englisch (Globalesisch, wie dies Jürgen Trabant nannte) zu schreiben und zu sprechen als einigermaßen verständliches Deutsch.

Der aus Frankfurt am Main in Hessen stammende Theodor W. Adorno hatte bekanntlich nach dem 2. Weltkrieg erklärt, die deutsche Sprache sei ein Hauptgrund für seine Rückkehr nach Deutschland gewesen. Der aus Damaskus in Syrien stammende Bassam Tibi wiederum erklärt soeben in einem sehr lesenswerten Interview Deutsch nach reiflicher Überlegung zu seiner Lieblingssprache. Und der hier Schreibende nutzt verschiedene Spielarten des Deutschen ebenfalls als einige seiner Lieblingssprachen. Das Bairische und das Alemannische (etwa jenes des aus dem schwäbischen Urach stammenden Cem Özdemir oder jenes eines Eduard Mörike) mit all ihren Spielarten sind unter allen Spielarten des Deutschen wiederum die eigentlichen Heimat-, Herkunfts- und Haussprachen des hier Schreibenden. Ich darf dankbar sagen: Das Bairische und das Alemannische und zunehmend auch das Fränkische gehören unter den mannigfachen Spielarten des Deutschen zu meinen Lieblingssprachen.

Genug des tiefschürfenden Nachdenkens! Beschließen wir diese morgendliche Besinnung mit ein paar wunderschönen, typisch deutschen, nur im laut schallenden,  klingenden Vortrag sich erschließenden  Versen von Eduard Mörike, dem Sohne des Horaz und einer feinen Schwäbin:

Einem Kristall gleicht meine Seele nun,
Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;
Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,
Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen,
Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft
Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.

 

Quellenangaben:
Eduard Mörike: An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang. In: Deutsche Gedichte. Herausgegeben von Hans-Joachim Simm. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 3. Auflage 2013, S. 699-700

Andrea Seibel: „Heute sieht Göttingen aus wie ein Flüchtlingslager“. Interview mit Bassam Tibi. Die Welt, 04.07.2016 (online-Ausgabe)
http://www.welt.de/debatte/article156781355/Heute-sieht-Goettingen-aus-wie-ein-Fluechtlingslager.html

Jürgen Trabant: Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen. C.H. Beck Verlag, München 2014

W.A. Mozart: Quartett in C. KV 465. In: Die zehn berühmten Streichquartette. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Urtext der Neuen Mozart-Ausgabe. Violino I. Bärenreiter Verlag Kassel, 15. Auflage 2013, S. 48-55, hier bsd. S. 48 und S. 51

 

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„Legalize it!“ Das tauglichste Mittel gegen das Schlepperwesen

 Flüchtlinge, Migration, Süddeutsche Zeitung, Syrien  Kommentare deaktiviert für „Legalize it!“ Das tauglichste Mittel gegen das Schlepperwesen
März 022016
 

Guter Beitrag heute auf S. 7 in der Süddeutschen Zeitung! Autor Thomas Kirchner zeichnet unter dem Titel „Beflügelte Branche“ den enormen Aufschwung der Schlepper-Industrie nach. Er benennt den syrischen Bürgerkrieg von 2011 als eigentlichen Auslöser der gestiegenen Migration nach Europa. Erst durch diesen Anschub sei dauerhaft eine lebhafte Nachfrage nach Transportmöglichkeiten nach Europa entstanden. Die Dienstleister böten gegen entsprechende Bezahlung den wohlhabenderen unter den Ausreisewilligen die gewünschten Services an: Verpflegung, Transport, Herstellung der gefälschten Dokumente, Bestechung der Behörden. Neben Syrien erlebten seither Nigeria, Senegal, Gambia, Eritrea, Somalia sowie einige andere Länder einen starken Anstieg der Migration nach Europa, obgleich die Lage sich in einigen Ländern nicht verschlechtert, ja teilweise sogar verbessert habe.

Grenzschließungen seien das untauglichste Mittel zur Eindämmung des höchst lukrativen Menschenschmuggels. Sie böten, so der Autor, den später strandenden und in Seenot geratenden Menschen keine Hilfe, denn die Schlepper würden rasch, flexibel und effizient auf Veränderungen der Politik reagieren, zumal jederzeit unterschiedliche Routen denkbar seien, sollte einmal die „Balkanroute“ geschlossen werden. Sollte es also zu einer Übereinkunft mit der Türkei kommen, böte sich sofort der Weg über Libyen als erneute Ausweichroute an.

Wie kann man den Schleppern das Leben schwer machen? Der Autor zieht den Schluss, man solle die Migration legalisieren. Am einfachsten wäre es zweifellos, den Grenzübertritt über alle Staatsgrenzen hinweg universal allen Menschen freizustellen.
Wir zitieren aus dem letzten Absatz des Artikels:

Das tauglichste wäre wohl eine vollständige Legalisierung der Migration. Berlin will in diese Richtung gehen durch eine großzügige Umsiedlung aus der Türkei.

http://www.sueddeutsche.de/politik/menschenschmuggel-befluegelte-branche-1.2886917

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„Aucune guerre ne peut mettre fin aux guerres“: endet nie des Irdischen Gewalt?

 Gemeinschaft im Wort, Krieg und Frieden, Syrien, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für „Aucune guerre ne peut mettre fin aux guerres“: endet nie des Irdischen Gewalt?
Dez. 012015
 

„Kein Krieg kann den Kriegen ein Ende setzen.“ Dies ist die Quintessenz aus 818 Seiten detaillierter historischer Analyse, wie sie uns im Jahre 2011 Prof. Henry Laurens, Inhaber des Lehrstuhles für „Zeitgeschichte der arabischen Welt“ am Collège de France schenkt. „Aucune guerre ne peut mettre fin aux guerres.“ Das ist die Bilanz der Jahre 1967-1982, das ist die Bilanz aus 818 Seiten genauester diplomatisch-historisch-militärischer Analyse.

Ein vortrefflicher Satz! Die Vorstellung, man könne mit einem wirklich endgültigen, mit dem wirklich allerletzten Krieg endlich im gesamten Ringen und Rechten der Völker des Nahen Ostens (in Palästina, Israel, Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten, Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Irak, Afghanistan usw. usw.) Frieden schaffen, erweist sich seit 1948, oder vielleicht schon seit 1792, wieder und wieder als trügerischer, törichter Wahn.

Ich habe mir ein paar Stunden Zeit genommen und in des Pariser Historikers monumentaler mehrbändiger Geschichte der Palästinafrage gelesen: Ein reiches Reservoir an wiederkehrenden Figuren, wütenden Beschwörungen, iterativen vergeblichen Formen der Gewalt, und wieder und wieder dem Anheizen der Gewalt und des Terrors! Wann fing es an? Wer brach den Streit vom Zaun? Fing alles mit Napoleon an? Mit dem Türken? Mit den Briten? Mit dem Holocaust oder mit der Shoah? Mit Lord Balfour? Mit Kain und Abel? Mit Sara und Agar? Mit Isaak und Ismael? Wer weiß es, wer kennt die Zahlen alle, nennt die Namen alle? Irgendwie hängt ja alles mit allem zusammen.

Man denkt sich fassungslos: Irgendwo haben sie irgendwie früher oder später doch irgendwann recht.
Schließlich – unterbrach ich ermattet die Lektüre. Der Spruch des Friedrich Leopold Freiherrn von Hardenberg, entnommen aus seinen gewaltigen Hymnen an die Nacht, erhellte mir das Bewusstsein:

Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt?

Gewaltige Hymnen an die Nacht! Gewaltiger Novalis! Können Worte gewaltig sein? Ich denke ja! Worte können gewaltig sein! Sie sind stärker als die Gewehre und Bomben.

Waffen alleine können der Gewalt der Waffen kein Ende setzen.

Es muss zum Waffenstillstand und zum Friedensschluss in jedem Falle der Gewaltverzicht im Wort hinzukommen. Alle beteiligten Seiten müssen erkennbar und verlässlich der Gewalt der Waffen abschwören, ehe sie den Stift unter ein Abkommen setzen. Keiner darf als Verlierer aus der Walstatt davon gehen.

Nur das verbindliche, das gute verbindende Wort kann Kriege beenden. Daran fehlt es erkennbar.

Zitatnachweis:

Henry Laurens: La question de Palestine. Tome quatrième. 1967-1982. Le rameau d’olivier et le fusil du combattant. Librairie Arthème Fayard, Paris 2011, hier v.a. Seite 818

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„Faut-il frapper du glaive?“ – „Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“

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Nov. 272015
 

„Tous ceux qui prennent le glaive, périront par le glaive.“ – „Alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen.“

Eine klare Absage an die Gewalt! Ausgesprochen an einem bedeutenden Wendepunkt der Geschichte, ausgesprochen vor etwa 2000 Jahren, nur wenige Suchoi-Bomber-Flugsekunden vom syrischen Azaz im Nordwesten Aleppos entfernt.

Ganz unabhängig davon, ob man nun Jesu Aufruf zum Verzicht auf Gewalt folgt oder nicht folgt, gilt es doch – so meine ich – bei jedem Einsatz militärischer Gewalt Sinn und Zweck der Maßnahme zu befragen. Auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen und die große Frage nach dem politischen Danach gilt es zu bedenken.

Hier eine Gesamtbilanz der (in diesem Fall russischen) Luftangriffe im Regierungsbezirk Aleppo im Monat Oktober, wie sie das „Institut syrien pour la Justice“, eine aus Aleppo stammende, nach Gaziantep exilierte Vereinigung bietet, die von der Zeitung Le Monde heute als verlässlich eingeschätzt wird:

128 Luftangriffe gegen militärische Ziele
110 Luftangriffe gegen Wohngebiete
Unter den Zielen der Luftschläge waren nach Angaben der Monde (heute S. 4) auch:
16 Fabriken, 6 Krankenhäuser, 3 Schulen, 3 Moscheen
Todesopfer der Luftschläge im Monat Oktober im Bezirk Aleppo: 180 Zivilisten und 20 bewaffnete Kämpfer

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Nov. 122015
 

Herrliche, tiefe Gespräche führe ich immer wieder mit Männern aus verschiedenen Ländern in Afrika und Syrien und aus Libanon und aus Jordanien! Zentrale Themen sind in unseren Gesprächen – Familie, Kinder und Religion! Hurra, Kinder, Religion und Familie, drei zentrale Fragen! Und immer wieder höre ich in verschiedenen Variationen folgende zwei Fragen:

„Warum glaubt ihr Deutschen nicht an Gott?“
„Warum habt ihr Deutschen nur so wenige Kinder?“

Ich versuche dann immer, in ganz schlichten, leicht fasslichen Worten zu antworten, so gut ich kann.

Zunächst die zweite Frage, ein Gefährte aus Homs stellte sie mir: „Ich habe sechs Kinder. Und du?“ Ich nannte die Zahl meiner Kinder. Rückfrage: „Warum habt Ihr in Deutschland so wenige Kinder?“

Meine Antwort: „Für uns in Deutschland steht der Einzelne ganz im Mittelpunkt. Das Ich ist der King. Jeder und jede sucht sein größtmögliches Glück, Geld und Gesundheit. Kinder gelten in Deutschland oft als hinderlich. Eins oder zwei kriegt man meist noch mit Müh und Not unter, aber oft fehlt halt einfach in Deutschland das Geld für Kinder. Und der Job geht vor. Für mehr Kinder fehlt uns Deutschen oft das Geld. Und es fehlt oft der sichere Job.“

Meine Antwort stößt auf Zweifel, Staunen, Fassungslosigkeit bei den Menschen aus Homs, aus Lagos, aus Damaskus. Für sie sind Kinder mit das Schönste. „Ohne Kinder ist das Leben nur halb so schön.“ Nicht zuletzt stiften die Blutsbande ein unzerreißbares soziales Netzwerk. Über viele Länder hinweg reicht das Netzwerk. Jeder hilft jedem, das Wohlergehen der gesamten Familie steht im Mittelpunkt, selbst wenn ein Mitglied der Familie oder ein Teil der Familie nach Deutschland ausreist, wird doch stets materiell und auch finanziell die Verbindung in die Heimat gehalten.

Dagegen soll in Deutschland jeder einzelne Mensch ein Höchstmaß an Wohlstand, beruflichem Erfolg, gesellschaftlicher Anerkennung, körperlicher Fitness, politischer Partizipation, politischer Macht und sozialer Gleichstellung und körperlicher Schönheit erzielen. Und Kinder sind dabei in der Tat eher hinderlich. Das gilt insbesondere auch für Frauen. Die deutsche Politik legt sich mächtig in die Ruder, damit keine Frau sich gegen Kinder entscheiden muss, weil das Geld und der sichere Job fehlen. Viele deutsche Kinder wachsen dennoch in Armut auf. Aber der Sozialstaat hilft, so gut er kann. Viele sagen: Deutschland ist nicht kinderfreundlich.

Also Kinderlosigkeit bei den Deutschen aus Geldmangel! Kinderlosigkeit bei den Deutschen wegen des hohen Armutsrisikos in Deutschlands! Staunen, Fassungslosigkeit, Lachen bei den Flüchtlingen.

Was für Länder wie Syrien, Nigeria oder Jordanien das unzerreißbare, grenzüberschreitende Netz der Verwandtschaft, das ist für uns in Deutschland das unzerreißbare Netz des Sozialstaates. Er trägt und hält uns alle. Er ist der gute, der fürsorgliche Leviathan. Er ist der „sterbliche Gott“, wie ihn Thomas Hobbes genannt hat.

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Müssen die Staaten eigentlich die Souveränität der anderen Staaten achten?

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Nov. 102015
 

Souveränität nach außen, Legitimität nach innen, Territorialität des Anspruchs auf das Gewaltmonopol – diese drei Kennzeichen glaubten wir vor einigen Tagen im Anschluss an Hobbes, Machiavelli und Pufendorf als unabdingbar für moderne Staaten feststellen zu können. Innerhalb ihres Territoriums behaupten Staaten das Gewaltmonopol, sie verlangen von allen Menschen auf diesem Territorium die Anerkennung der Legitimität dieses Anspruchs, und sie setzen diesen Anspruch nach außen durch.

Grundsätzlich müssen die Staaten diese drei Ansprüche auch bei allen anderen Staaten anerkennen, wollen sie nicht die Bedingungen der Möglichkeit des eigenen Daseinsanspruchs in Frage stellen. Von hierher ergibt sich völkerrechtlich zwingend das für Staaten geltende Verbot, gezielt auf den gewaltsamen Umsturz der Machtverhältnisse in anderen Staaten („regime change“) hinzuarbeiten. Dieses Verbot haben die großen auswärtigen Mächte im Nahen und Mittleren Osten in den vergangenen Jahrzehnten vielfach verletzt.

Insbesondere die vier großen Siegermächte des 2. Weltkrieges (USA, UK, F, UDSSR/RU) sowie auch die regionalen Mittelmächte des Nahen und Mittleren Ostens haben in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt mit Waffengewalt in die inneren Verhältnisse verschiedener Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika eingegriffen. Die großen Machtkonstellationen vom Ende des 2. Weltkrieges sind paradoxerweise immer noch da. Sie haben das Ende des Kalten Kriegs überdauert. Die vier genannten Mächte waren es vor allem, die ohne hinreichende Legitimation ihr Militär mehrfach für den Sturz unliebsamer Unrechtsregime eingesetzt haben.

Eine nicht enden wollende Serie von Stellvertreterkriegen ist die Folge dieser fortgesetzten Verletzungen des Völkerrechtes durch die militärisch starken Staaten dieser Welt – zu denen, nebenbei bemerkt, auch zwei EU-Mitgliedsstaaten gehören. Flucht und Vertreibung sind zu großen Teilen die Folgen der Intervention ausländischer Staaten in Ländern wie Irak, Libyen, Afghanistan und Syrien und der gezielten Destabilisierung der Machtverhältnisse.

Sinnvoll wäre es, das Nichteingriffsrecht ausländischer Staaten in die inneren Verhältnisse anderer Staaten durch wirksame Bündnisse durchzusetzen.

Und die berüchtigten Unrechts-Regime? Darf man die denn einfach so an der Macht lassen? Hier meine ich: In der Tat, es gibt grundsätzlich keine Berechtigung für Staaten, in anderen Staaten die tatsächlichen oder vermeintlichen Unrechtsregime durch Waffengewalt zu beseitigen oder zu ersetzen. Staaten handeln insoweit „verantwortungslos“ oder „gewissenlos“ gegenüber den Angehörigen der anderen Staaten.

Sehr wohl aber haben Menschen und Staaten das Recht, sich für das Wohlergehen der Bürger in anderen Staaten zu verwenden, etwa durch gute Worte, durch Spenden, durch praktische Hilfe, durch diplomatischen Druck, durch Meinungsäußerungen, durch Handelshemmnisse, durch Waffenembargos, durch Flugverbote, – die Liste der zulässigen Maßnahmen ist lang; selbst Gebete (sofern man dran glaubt) sind ratsam, wenn sonst gar nichts mehr hilft.

Im Anschluss an Salomo könnte man beten: Herr, schenke ihnen (gemeint sind: den ungerechten Machthabern der anderen Staaten) ein hörendes Herz.

 Posted by at 14:25

„Grenzen sind nichts Schlimmes“. Der berechtigte Einwurf des Rafik Schami

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Nov. 012015
 

http://www.derwesten.de/kultur/autor-rafik-schami-grenzen-sind-nichts-schlimmes-id11234193.html

Erstaunlich, dass in all dem aufgeregten Durcheinander fast nie diejenigen zu Wort kommen, die mit arabischen Bürgerkriegsflüchtlingen seit vielen Jahren auf engem Raum zu tun hatten und zu tun haben – wie etwa der hier Schreibende, wie vor allem die Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen in den mehrheitlich oder wesentlich arabisch geprägten Schulklassen und Stadtvierteln.

Die ganze Debatte hat in Deutschland in höchstem Maße hysterische Züge angenommen. Am ehesten stimmt das, was immer wieder einmal der aus Syrien stammende Autor Rafik Schami zur Flüchtlingsthematik sagt, mit dem überein, was auch ich seit vielen Jahren und so auch in diesen Tagen mit den aus arabischsprachigen Gesellschaften teils regulär und teils irregulär Zuwandernden erlebe.

Auch fragt niemand die Flüchtlinge: Wollt Ihr hierbleiben, auch wenn wieder Friede in Euren Herkunftsländern einkehrt? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Was seid ihr bereit zu tun? Seid Ihr bereit, Pflichten zu übernehmen?

Im wesentlichen stellt Deutschland tatsächlich eine Art Paradies dar. Hier gibt es den Rechtsstaat, nur hier in Deutschland ist man auf Lebenszeit vor ungerechter Verfolgung, vor Willkür, vor Hunger und Elend geschützt.

Damals, und das ist der Unterschied zu heute, damals in den 90er Jahren wanderten in einem Jahr etwa 200.000 Menschen als arabischsprachige Bürgerkriegsflüchtlinge mit diesen berechtigten Erwartungen eines irdischen Paradieses zu, damals überwiegend aus bzw. über Libanon. Heute ist es ein Vielfaches davon, und zwar aus vielen Ländern.

Man sollte sich sehr genau durchlesen, was Rafik Schami sagt.

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An Syriens Grenzen

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Okt. 082015
 

Ein großes Vorbild und Muster europäischer Flüchtlingspolitik bietet zweifellos Aischylos in seiner Tragödie  Schutzsuchende (Ἱκέτιδες). Wir erleben 50 asylsuchende Frauen aus Ägypten, die sich der Zwangsverheiratung widersetzen, verfolgt von der Männer Wut, von Mordgeschrei und Kriegsdrohung. Bomben und Kanonen gab es damals nicht. Heute sind es junge Männer, damals waren es junge Frauen. Aber die geographische Herkunft ist dieselbe, nämlich Syrien und Ägypten samt den das Mittelmeer säumenden Nachbarländern, der Nahe Osten eben, die Levante.

So tragen die Asylbewerberinnen gleich zu Beginn bei Zeus ihre Herkunft so vor:

Ist ja sein das Land auch
An Syriens Grenzen, aus dem wir entflohn

Das Problem war bei Aischylos damals im 5. Jh. v.d.Z. im wesentlichen dasselbe wie heute in der Europäischen Union .

„Sollen wir die Masse Asylsuchender aufnehmen, auch wenn unser Gemeinwesen dadurch erheblichen Schaden erleidet? Ist die Aufnahme sittlich und rechtlich geboten, auch wenn es unserem Staate nicht nützt?“

Zitatnachweis:

Aischylos: Die Schutzsuchenden. In: Aischylos. Die Tragödien.  Übersetzungen mit Anmerkungen von Emil Staiger und Walther Kraus. Nachwort von Bernhard Zimmermann. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2002, S. 237-279, hier S. 237

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„Jedes Volk lebt nach einer Werteskala“

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Sep. 052015
 

Sand 20150905_131042Einer unserer besten Reiseerzähler in die faszinierende Welt der Völker oder Volksgruppen Syriens, die in diesen Tagen und Wochen als ganze Gemeinden und Verbände nach und nach in die EU, vor allem nach Deutschland umsiedeln, ist unser guter deutscher Landsmann, der 1946 im syrischen Damaskus geborene  Suhail Fadél, besser bekannt als Rafik Schami. Er weiß genau, wo und in welcher Moschee das Grab Johannes des Täufers liegt, das Grab des Yahya, wie ihn die muslimischen Mhallami hier um die Ecke in Kreuzberg auf Arabisch nennen. Sein Roman „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ führt uns nach Damaskus, in die Stadt, in der Paulus von Tarsos (früher Saulus genannt) sich einige Zeit vor seinen Häschern versteckte.

Schami schreibt in seinem höchst lesenswerten Buch  „Die dunkle Seite der Liebe“:

„Jedes Volk lebt nach einer Werteskala. Bei dem einen steht die Eroberung neuer Gebiete für das Vaterland an erster Stelle, bei dem anderen das Glück der Familie, beim Dritten ist es die Ehre der Frau.“

Entscheidend ist hier der Volksbegriff! Für die syrische Gesellschaft ist die Volkszugehörigkeit zentraler Teil der Identität der Person. Die Eroberung neuer Gebiete für das eigene Volk ist eine zentrale Triebkraft hinter den militärischen Konflikten und den Migrationsbewegungen. In welchem Volk und in welcher Religion man geboren ist, bleibt für das ganze Leben in Syrien von entscheidender Bedeutung. „Wir in unserem Volk sind alle Christen“, sagte mir einmal eine assyrische Friseuse aus Hamburg beim Haareschneiden, ehe sie mir beibrachte, wie man in der Sprache Jesu Christi – also Aramäisch – Frohe Weihnachten sagt.

Nun überlegt selbst: „Wir in unserem Volk sind alle Christen“, das würde doch in Deutschland niemand sagen! Oder? Kein Deutscher würde sagen: „Wir in unserem Volk sind alle Christen“, „wir sind ein christliches Land“, schon einfach aus dem Grund, weil die öffentlich bekennenden Christen in Deutschland wie in den meisten anderen europäischen Ländern mittlerweile eine Minderheit sind.

In Syrien, Irak, Ägypten, Israel, Libanon, Palästina hingegen ist das klare Bekenntnis zu einer Religion und zu einem der Völker unerlässlich, es prägt Lebensgeschichten und Persönlichkeiten.

„Mit Religion habe ich nichts am Hut, die Religion kann mir gestohlen bleiben“, sagte mir hingegen einmal ein  alawitischer Moslem aus Syrien. Er ist zwar weiterhin nominell Moslem, aber er „praktiziert“ nicht, er ist Atheist. Er darf sich jedoch nicht vom Islam lossagen, denn dies würde ihn und die Seinen großer Gefahr an Leib und Leben aussetzen.

Die Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Libanon, Palästina und alle anderen wird man nur verstehen, wenn man sie aus ihrem jeweiligen Volk und der jeweiligen Religion zu verstehen versucht.  Sie werden zwar jederzeit gern nach Deutschland übersiedeln, in ein Land, das ihnen endlich Frieden, Brot und ein sicher Dach bietet – was Länder wie Syrien oder Irak immer weniger leisten wollen und leisten können.  Denn diese Länder werden zerrissen von uralter, neu angefachter Uneinigkeit und Zwietracht zwischen Völkern, Religionen, Sippen und Machtverbänden.

Aber die Flüchtlinge werden ihre Identität als dieses oder jenes Volk bewahren. Sie werden beispielsweise weiterhin in der Regel Angehörige des eigenen Volkes und derselben Religion heiraten, sie werden enge Kontakte zu den in der Heimat gebliebenen Sippenangehörigen und Verwandten halten und beim Heiraten einem Partner aus der alten Heimat meist den Vorrang geben. Auf keinen Fall beabsichtigen sie, in Deutschland ihre Identität als Assyrer, Kurden, Palästinenser, Jesiden, Alawiten usw. aufzugeben und Deutsche wie andere Deutsche auch zu werden. Insoweit sollte man sich vom Gedanken einer wirklich umfassenden kulturellen Integration recht bald verabschieden, ehe es zu bitteren Enttäuschungen kommt.

Lesehinweise:
Rafik Schami: SOPHIA oder Der Anfang aller Geschichten. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2015

Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 20., durchgesehene und erweiterte Auflage, Philipp Reclam jun. Stuttgart 2014; zu Rafik Schami: S. 519-522, hier bsd. S. 521

Bild:

Schuhe, Sand, Spuren. Aufnahme vom Badeschiff am Spreeufer. Heute. Berlin, 5. September 2015, 13.10 Uhr

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„Une politique étrangère vague et hasardeuse“ – Wohin treiben die EU-Außenpolitiken?

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Sep. 012014
 

Pierre Lellouche, der französische, Paris vertretende Abgeordnete, geht in der Monde vom 25. August 2014 (S. 15) mit der Außenpolitik Frankreichs und indirekt auch mit den Außenpolitiken  der EU sehr hart ins Gericht.

Angesichts der Waffenlieferungen verschiedener EU-Staaten an die Kurden fragt er, welches politische Konzept dahinter stehe. Man, also die französische Außenpolitik, wechsele jetzt im Schlepptau der USA die Fronten. Zu spät, ohne politisches Konzept, ohne echte Kenntnis der beteiligten Gruppierungen, ohne Blick auf die Zukunft unterstütze man den Widerstand gegen die IS, ohne im Gegenzug von den Empfängern der Waffenlieferungen auch nur einen verbindlichen Plan, geschweige denn Zusagen zum erwünschten Gebrauch der Waffen erhalten zu haben. Lellouche fragt in seinem rhetorisch brillanten Beitrag:

Quelle résistance, quelles armes et pour quels résultats?

Lellouche findet keine Antwort auf seine bohrenden Fragen. Nicht zuletzt dürfte ihm noch erinnerlich sein, dass eine andere bewaffnete Widerstandsgruppe, die in Afghanistan mit westlichen Waffen ausgerüstet wurde, die Taliban, sich nach einigen Jahren mit aller Macht und kraftvoll gegen die eigenen Waffenlieferanten gewandt hat. Lellouches  Fazit: Frankreich betreibe seit langem eine unklare, glücksspielartige Hasardeur-Außenpolitik. Fast alle militärischen Afrika-Einsätze der Franzosen seien mehr oder minder gescheitert, hätten nie das erwünschte Resultat gezeitigt, sagt der Abgeordnete.

Nun, auch der Deutsche Bundestag, die deutsche Bundesregierung müssen sich diese Fragen gefallen lassen, wenn sie sich anschicken, mit Waffen in einen laufenden militärischen Konflikt einzugreifen.

Wie schaut das Ganze aus der Kreuzberger Sicht aus? Wir haben ja hier in Kreuzberg eine sehr starke kurdische Bevölkerungsgruppe; ich bin mit einigen kurdischen Familien bekannt.  Die Kurden erfreuen sich darüber hinaus im herrschenden linksalternativen Milieu, aber auch auf den diversen interreligiösen Kalendern in Kreuzberger Kitas größter Beliebtheit. Kurdische Väter, kurdische Ehemänner haben es immer wieder in die Spalten unserer Berliner Tageszeitungen gebracht. Wie sind die Waffenlieferungen an die Peschmerga aus Kreuzberger Perspektive zu beurteilen?

Ich will es kurz machen: Die Vorstellung, dass die Kurden im Irak, in Syrien, in der Türkei die deutschen Waffen ausschließlich zur Verteidigung gegen die IS einsetzen würden, offenbart eine erhebliche Unkenntnis der kurdischen Gruppierungen,  Strategien und der kurdischen Kulturen. Die Peschmerga werden die deutschen Waffen zur Erreichung ihrer Ziele, derzeit sicherlich vor allem zum Zurückschlagen der IS einsetzen. Was aber kommt danach? Darauf muss eine Antwort verlangt werden. Niemand kann diese Antwort geben.

Wichtig ist auch zu wissen: Die Kurden haben im Durchschnitt eine andere, kulturell geprägte  Einstellung zur Gewalt und zum Gebrauch von Waffen als wir.  Für uns sind Waffen etwas Schreckliches.  Wir wollen Waffengebrauch auf ein Minimum reduzieren. Die meisten Kurden dürften das anders sehen. Dazu brauchen die Waffen auch nicht „in falsche Hände zu gelangen“, wie es immer wieder heißt. Es genügt schon ein „Seitenwechsel“. Und der Seitenwechsel der bewaffneten Gruppierungen ist nun einmal Normalität im gesamten Nahen und Mittleren Osten! Er ist seit Jahrzehnten Routine.

So haben die USA oder der „Westen“ lange die Aufständischen, also gewollt oder ungewollt auch die islamistischen Milizen  in Syrien unterstützt. Man wollte die amtierende säkulare syrische Regierung weghaben, man wollte den Regimewechsel von außen befördern. Jetzt stellt sich heraus, dass die IS eine echte Bedrohung für die säkulare amtierende syrische Regierung sind, dass also letztlich diese Regierung wieder durch den Westen unterstützt werden muss. Alles andere würde militärisch überhaupt keinen Sinn ergeben. „Rin in die Pantoffeln, raus aus den Pantoffeln“ – das ist keine Strategie, das ist das berühmte Stochern im Nebel der EU-Außenpolitiken.   Mit der Waffenlieferung an die Peschmerga reiht sich Deutschland also konfliktbefeuernd letztlich – ob es will oder nicht will – auf einer Seite in die Frontlinien der verschiedenen bewaffneten Konfliktlinien im Nahen und Mittleren Osten ein. Und es gibt weder in der EU noch in Deutschland eine außenpolitische Doktrin, über die man wenigstens streiten könnte. Es gibt nur die verschiedensten Außenpolitiken. Wohin treiben sie uns?

Der deutsche Bundestag hat heute eine große Verantwortung. Er muss die bohrenden Fragen, die ein Pierre Lellouche von der UMP stellt, ebenfalls stellen!

Beleg:
Pierre Lellouche: M. Hollande malmène son „domaine réservé“. Une politique étrangère vague et hasardeuse. Le Monde, 25. August 2014, Seite 15

 

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Fanny und Felix bei Lukas aus Syrien

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Nov. 172009
 

Unser nächstes Konzert findet in der St.-Lukas-Kirche statt. Der heilige Lukas stammt der Überlieferung nach aus Antiochia im damaligen Syrien – also aus dem heutigen Antakya in der heutigen Türkei. Wie gut trifft es sich, dass die meisten Kinder unserer Schule aus der Türkei und aus Libanon stammen – dem antiken Syrien! Wenn sie die Lukaskirche besuchen, ist es also eine Art Heimkehr zu den Wurzeln ihrer kulturellen Überlieferung, die weit hinter den Islam zurückreichen.

Folgende Einladung habe ich soeben gebosselt:

Eltern der Fanny-Hensel-Grundschule laden ein:

 

 

Das geheimnisvolle Band

 

Fanny Hensel und ihr Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy

 

Konzert mit Werken von Fanny Hensel, Felix Mendelssohn Bartholdy, Mozart und anderen

 

St. Lukas-Kirche

Bernburger Str. 3-5

Berlin-Kreuzberg

 

Dienstag, 24. November 2009, 10.00 Uhr vormittags

 

Es spielen Kinder im Alter ab 4 Jahren

 

sowie:

Irina Potapenko, Alt

Johannes Hampel, Violine

Natalia Christoph, Klavier

Lala Isakowa, Klavier

 

 

Eintritt frei

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