Sep 302016
 

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Spätes Eintreffen am Abend in Schöneberg! An der Hauptstraße halte ich und bestelle bei einem arabischen Kiosk einen Falafel-Teller. Halblaute Gespräche in deutscher, türkischer und arabischer Sprache umgeben mich. Ich setze mich ans Trottoir und verzehre den Falafel-Teller mit größtem Behagen und betrachte dabei die Passanten im lauen Spätsommerabend.  Und dann trinke ich mir Mut des Lebens aus dem türkischen Milchgetränk: trinke zwei Becher lauen Ayran. Die Mühsal der Flugreise fällt von mir ab. Da „quillt laue Milch, sie steht bereit für Kind und Lamm“, so steht es ja im Faust. Ich muss hierzu entschuldigend sagen, dass die gewaltige Fabel vom Faust, wie sie Goethe gedichtet hat, mich in diesen Tagen auf Schritt und Tritt begleitet. Bei vielen, auch bei den unmöglichsten Anlässen fallen mir Verse aus Goethes Faust ein. Wem mag es sonst noch heute noch so gehen? Früher war diese Marotte häufiger, zum Beispiel flocht Konrad Adenauer immer wieder Zitate aus Goethe und Schiller in seine Reden ein. Er schämte sich Goethes und Schillers nicht.

Dann komme ich zuhause an. Der erste Mensch, dem ich in meinem Haus begegne, ist ein türkischer Nachbar. Das erste Gespräch in Schöneberg  führe ich mit ihm. Wir begrüßen uns  mit einem herzhaften İyi akşamlar. Wir sprechen über die Situation in der Türkei an der Grenze zu Syrien. Sie ist nicht so, wie sie in der Zeitung steht.

Zuhause in der Wohnung angekommen, lese ich die frische Nachricht eines mir nahestehenden über 80 Jahre alten Mannes, der mir aus Hessen folgendes schreibt:

„Ich möchte noch länger leben und gegen den aufkommenden Nationalismus kämpfen. Diese Pest hat unter deutscher Führung im 20. Jahrhundert Europa zerstört. Wir hatten 60-70 Jahre Frieden und Fortschritt und jetzt erhebt dieses Unheil wieder den Kopf! Ich habe viele Länder erlebt und geliebt und fand überall als überzeugter Deutscher gute Aufnahme. Die Europäische Union ist der größte politische Fortschritt und muß erhalten bleiben. Nationaler Egoismus sägt an seinem Bestand. Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi waren weise Politiker. Sie haben die Grundlagen gelegt. Merkel hat es gewagt, nach christlichen Grundsätzen politisch zu handeln, und wird jetzt von Kleingeistern, die ihr nicht das Wasser reichen können, gescholten.“

Beachtenswerte Worte, die mir ein guter Deutscher und überzeugter Europäer übersandt hat! Ich gebe sie hier gerne wieder.

Doch wollen wir dieser abendlichen Stunde hohes Gut nicht durch den gefährlichen, wieder aufkeimenden europäischen Nationalismus eintrüben lassen! Schließen wir doch diese kleine Betrachtung eines Heimkehrers mit einem Blick auf die Eichen des Kékes, und rufen wir uns ein paar Verse aus dem Faust, diesem Schicksalsbuch der Deutschen, mutmaßlich dem größten und bedeutendsten Werk der deutschen Dichtung ins Gedächtnis; sie finden sich in der Tragödie zweiten Teiles drittem Akt, im inneren Burghof, von wo sich der Blick mählich zum schattigen Hain weitet, zu einem herrlich gemalten Arkadien hin:

Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,
Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.
Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche
Siehst Wollenheerden ausgebreitet ziehn.

Vertheilt, vorsichtig, abgemessen schreitet
Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand,
Doch Obdach ist den sämmtlichen bereitet,
Zu hundert Höhlen wölbt sich Felsenwand.

Pan schützt sie dort und Lebensnymphen wohnen
In buschiger Klüfte feucht erfrischtem Raum,
Und, sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen,
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Goethe, Faust, Verse 9542-9554

Bild: In den Eichenwäldern auf dem Kékes-Berg, Aufnahme von gestern

 

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