Опять двойка – Wieder Note 2. Wieder ein Fall von Volksverhetzung

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Okt. 222009
 

 

Eins der bekanntesten Gemälde des Sozialistischen Realismus ist „Wieder eine Zwei?“ von  Reschetnikow, das ich selbst vor wenigen Jahren in der Moskauer Tretjakow-Galerie hängen sah. Die sehr schlechte russische Schulnote Zwei entspricht unserer deutschen Fünf. In der Seemannssprache würde man sagen: Gefahr im Verzug, alle Mann an Deck! Wie staunte ich aber, als ich dieses Bild in einer sehr gut gemachten Kopie kürzlich in der Berliner Galerie Jeschke-Van Vliet erblickte! Ich war erschöpft, schloss die Augen, und versuchte ein wenig auszuruhen … Irgendetwas weckte mich, ich schlug die Augen auf und näherte mich neugierig, um das Bild ins Auge zu fassen, und wie es der Zufall wollte, wurde ich in ein lebhaftes Gespräch mit drei Betrachtern hineingezogen:

„Dieses Bild zeigt eindeutig den Wert der Freundschaft! Nur bei einem Hund findet der enttäuschte Junge Anerkennung und Liebe, die Menschen wissen ja gar nicht, welches Drama sich in der Brust des Jungen abspielt!“, versicherte ein soignierter Herr, der an seinem singenden Tonfall eindeutig als Italiener erkennbar war. „Wir können alle aus diesem Bild lernen: Auf die Freundschaft kommt es an, Freundschaft ist das Höchste“, fuhr der Italiener fort.

„O nein“, widersprach ihm ein Deutscher. „Gefühle können eine objektiv vorhandene Diskriminierung nicht ausgleichen. Das Bild zeigt offensichtlich einen sozial benachteiligten Grundschüler. Es könnte ein Tschuktsche sein, der aufgrund seines Migrationshintergrundes den Anschluss an die hohen Leistungsanforderungen des sowjetischen Schulsystems verpasst hat. Das Bild ruft offenkundig dazu auf, ihm jede erdenkliche Förderung zu verschaffen: Ganztagsschulen, Förderunterricht in russischer und tschuktschischer Sprache, wahrscheinlich mehr Geld für Bücher und Lehrmittel, interkulturelles Training für die Grundschullehrerinnen, kleinere Klassen! Wir können alle aus diesem Bild lernen! Kein Kind darf zurückbleiben, kein Kind darf im Gefühl belassen werden, es sei selbst an den schlechten Noten schuld!“

Der Deutsche – ich glaube, es war ein Berliner – steigerte sich danach in einen Hymnus auf die kompensatorische Pädagogik hinein, den ich hier weglasse, da er die Lesefähigkeit eines Internet-Lesers überstiege.

„Was redet ihr da für Unsinn!“, schaltete sich mit deutlichem russischem Akzent eine weitere Betrachterin ein. „Ich komme aus der Sowjetunion. Ich habe das ganze Schulsystem der Sowjetunion durchlaufen. Über dieses Bild mussten wir alle, alle, einen Aufsatz schreiben. Von Wladiwostok bis nach Kiew.  Die Botschaft war eindeutig: Du musst lernen! Ausreden gab es nicht. Dieses ständige Lernenmüssen, dieser beständig fühlbare Leistungsdruck hat uns allen sehr gut getan. Wer nicht genug lernte und nicht mitkam, erhielt schlechte Noten. Die schlechten Noten waren ein Ansporn, mehr zu lernen. Euer weichliches Verständnis-Gedöns über ach so benachteiligte sozial Schwache gab es nicht. Stundenlanges Fernsehen war von den Eltern verboten. Es gab jeden Tag Hausaufgaben. Die Hefte mussten peinlich genau geführt werden. Und das alles – wisst ihr was? Es hat uns nicht geschadet! Wir haben – auch als Akademikerfamilien – zu viert oder fünft in Ein-Raum-Wohnungen gelebt, in den sogenannten Komunalnajas.  Nach euren Maßstäben waren wir alle sozial schwach. Aber wir haben alle unsere Abschlüsse geschafft. Wir haben das Abitur gemacht und dann an den Universitäten studiert. Wir haben in der zweiten Klasse im sowjetischen Schulsystem einen weit höheren Leistungsstand gehabt als ihr Berliner in der vierten Grundschulklasse. Und das wohlgemerkt mit über 120 ethnisch verschiedenen Völkerschaften! Die haben alle perfekt Russisch gelernt, jeder Georgier, jeder Tschuktsche, jeder Turkmene konnte dank eigener Leistung aufsteigen und Minister oder Wissenschaftler werden. Hört mir doch auf mit eurem Gejammer von sozial Schwachen! Wo ist euer Selbstbewusstsein? Wart ihr Deutschen nicht mal eine Kulturnation? Wo ist diese Kultur eigentlich geblieben? Kennt ihr noch Schumann, Goethe und Heine? Freud, Marx? Alles vergessen? Kant? Habt ihr euch denn alles vom Hitler vermiesen und zerstören lassen?

O ihr Deutschen! Ihr seid nicht ganz bei Trost! Ihr müsst euren türkischen, arabischen und sonstigen Völkerschaften eines ganz deutlich einschärfen: Lernt richtig Deutsch, studiert, arbeitet, setzt euch auf den Hosenboden, dann erledigt sich das Problem des mangelnden Aufstiegs von selbst. Es wächst sich aus!“

Mein gutes deutsches sozialrealistisches Herz krampfte sich zusammen. Das war ja ein Albtraum! So ein Geschimpfe! Das grenzte ja an Volksverhetzung. „Ihr seid nicht ganz bei Trost!“ Dass ich nicht lache!  Volksverhetzung gegen die Deutschen. Mitten in Deutschland! In Berlin Mitte! Aus dem Mund einer Russin! Durfte man so reden? So herzlos, so voller sozialer Kälte wie diese Russin? Ich wurde nachdenklich. Ich beschloss, diesen kleinen Dialog aufzuschreiben. Denn bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Ganz zuletzt beschlich mich ein Zweifel: Vielleicht hat diese Russin ja recht. Ich bin diesen Zweifel bis heute nicht losgeworden.

Das Bild hängt derzeit in der Galerie Jeschke – Van Vliet: Hinter dem Eisernen Vorhang. Die Kunst des Sozialrealismus. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Bis 30. November 2009, täglich von 11 bis 20 Uhr. Eintritt frei. Krausenstraße 40, Berlin Mitte. Öffnungszeiten täglich von 11 bis 20 Uhr (Dienstag geschlossen).

Der International Herald Tribune bringt heute auf S. 13 eine halbseitige große Besprechung:

Return of a Soviet-Era Genre Lost to Perestroika – NYTimes.com
So in a strange twist of history, just as the avant-garde art banned by the Soviet regime was viewed again, Socialist Realism, discarded so quickly in the late ’80s, may be going though its own renaissance. At least, that is the hope of the Jeschke-Van Vliet Art Gallery, located where the Berlin Wall once stood 20 years ago. For the first time, more than 300 paintings, created between the mid-’20s and the early ’80s have been brought under one roof.

Neben der New York Times und dem International Herald Tribune berichtet sogar die Berliner Morgenpost:

Warum Lenin jetzt mitten in Mitte posiert

Und der Corriere della sera:

 Non solo Lenin, il Realismo socialista visto da Cusani

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Aug. 112009
 

Den dreißigsten Juli, früh neun Uhr stahl ich mich aus dem heimischen Berlin weg, weil das Gefühl einer unauflöslichen Verknüpfung mich sonst nicht fortgelassen hätte. Manche Tage blieb dieses Blog verwaist. Doch werde ich nunmehr, soeben nach Berlin zurückgekehrt, den bislang vernachlässigten Berichtspflichten eifrig nachkommen und euch durch allerlei Denk- und Merkwürdiges zu unterhalten suchen. Das flache Land um Berlin herum, welches dem Auge erst beim näheren Hinsehen manche Anregungen bietet – hier ein aufsteigender Habicht, dort ein stillgelegtes Mühlenwerk -, ließen wir bald hinter uns. Brandenburg, Sachsen, Thüringen stiegen nach und nach ins Bewaldet-Bergichte auf. Wir durchquerten das Land rasch von Nord nach Süd.

Unsere erste Etappe war Augsburg. Nach längerem Fortbleiben bot sich die Vaterstadt dem Auge des Heimkehrers mit manchen überraschenden Einzelheiten dar.

NEMO OTIOSUS las ich auf dem Deckenmedaillon des Goldenen Saales im Rathaus: „Niemand sei müßig!“. Der Goldene Saal bietet eine deutliche Bildersprache dessen an, was die bürgerliche Gesellschaft dieser Stadt einst zusammenhielt: Ein Kanon an Grundhaltungen, das Gefühl einer unleugbaren Zusammengehörigkeit und das unausgesetzte Bemühen, an einem gemeinsamen Werk zu schaffen. Klare, einprägsame Botschaften, allegorisch verschlüsselt, aber eben darum auch über das Individuum hinausgreifend.

„Niemand gebe sich dem Müßiggang hin!“ Diese unbedingte Hochschätzung der Vita activa scheint  mir ein Grundzug der erfolgreichen Handelsstädte der frühen Neuzeit zu sein: Venedig, Augsburg, Antwerpen, Brügge, Krakau: Mit allen stand Augsburg in regem Austausch, diente als Umschlagplatz und Börse.

Wenn es keine Arbeit gab, dann wanderte man aus oder man suchte sich welche. Man bewegte sich!

Und genau unter diesem Motto stand auch die Aktion „Deutschland bewegt sich“.  Dieses Foto entstand bei den Aufbauarbeiten, die ich am 31. Juli beobachtete.

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Juli 272009
 

Diese Frage stellte mir ein siebenjähriges Kind, dessen Vater Deutscher, dessen Mutter Russin ist, vor einigen Tagen bei einem lockeren Geplauder. Das Kind besucht eine unserer Kreuzberger Regelschulen. In seiner Klasse gibt es eine türkische Mehrheit, eine arabische Minderheit und ein oder zwei binationale Kinder mit ein oder zwei deutschen Elternteilen. Interessant! Die Kinder fangen also etwa in der ersten Klasse an, sich gemäß dem Aussehen nach Nationalitäten zu sortieren – wobei naturgemäß die stärkste Landsmannschaft, nämlich die Türken, den Ton angibt. Continue reading »

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Juli 222009
 

Verblüffend einfacher Vorschlag des CDU-Landesvorsitzenden Henkel zur Schulreform: Wenn man einfach nicht mehr weiterweiß, – dann lasse man zunächst einmal alles, wie es ist. Man tue nicht so, als hätte man die Ursachen der Misere erkannt und könnte sie mit Maßnahmen ändern.

Schulreform – Berliner CDU-Chef schlägt Bildungsgipfel vor – Berlin – Berliner Morgenpost
„Die Verunsicherung muss ein Ende haben“, sagte der CDU-Fraktions- und Landesvorsitzende. „Wir benötigen kein rot-rotes Geschacher, sondern eine gesellschaftliche Debatte.“ Ziel sei ein zehnjähriges Moratorium zur Schulreform. „Wir wollen, dass der Schulstreit für die nächsten zehn Jahre beigelegt wird und in der Zeit auch keine Veränderungen erfolgen“, so Henkel.

Dieser Vorschlag Frank Henkels gefällt mir sehr. Ich meine, er findet breitesten Rückhalt bei Lehrerinnen und Lehrern, bei Schülern und auch bei Eltern. Ich kenne schlechterdings keinen Lehrer, der seine Hoffnungen auf eine Strukturreform setzen würde. Sie wollen RUHE. Sie wollen verschont werden von Bemäntelungen der Ratlosigkeit. Aber nahezu alle sagen: Das Hauptproblem ist die falsche Einstellung bei Eltern und Schülern. Es fehlt an den grundlegendsten Tugenden für sinnvolles Lernen: Fleiß, Beharrlichkeit, Zuverlässigkeit, Höflichkeit. Es fehlt an Ernst, es fehlt an Verantwortung, es fehlt an grundlegendsten Sprachkenntnissen.

Lassen Sie uns überlegen: Wenn alle die richtige Einstellung hätten –  würde die Schule dann unter diesen strukturellen Bedingungen gelingen, zu guten Ergebnissen führen? Ich behaupte laut und deutlich. Ja, ja! Ich empfehle, den Vorschlag Frank Henkels anzunehmen.


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„Die deutschen Tugenden haben uns zum Sieg getragen“

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Juli 052009
 

Immer wieder versuche ich, durch das bloße Betrachten von Menschen zu erfühlen, wie es in ihnen aussieht. Was erleben sie? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Meine Vermutungen kleidete ich unmittelbar nach dem Abpfiff des U21-Endspiels in Worte und vertraute sie am 30.06. diesem Blog an. Zwei Tage später äußerte sich Kapitän Andreas Beck in ganz ähnlicher Weise. So wie ich die Mannschaft erlebt hatte, so scheint es tatsächlich auch gewesen zu sein:

„Die deutschen Tugenden haben uns zum Sieg getragen“
Wie wichtig waren die unterschiedlichen Typen für die Stimmung im Team und seinen Erfolg?

Das war das Besondere an dieser Mannschaft. Wir hatten Spieler aus den unterschiedlichsten Teilen Deutschlands und aus vielen Kulturen und Ländern dabei. Trotz dieser Mischung haben wir als Team die sogenannten deutschen Tugenden gezeigt. Wir hatten den absoluten Siegeswillen, jeder ist für den anderen gelaufen. Diese Eigenschaften haben uns durchs Turnier getragen. Die Stimmung war toll, und unser Erfolg ist der Beweis, dass der DFB gut integriert.

So was ist natürlich Klasse! Bitte mehr solche Teams, mehr solche Erfolge, mehr solche Tugenden!

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Juni 302009
 

Gestern verfolgte ich das Endspiel der U21-Europameisterschaft am Fernsehen. Klasse herausgespielt, dieser Sieg! Die Verteidigung stand verlässlich, sie war einfach herausragend eingestellt. Sie hielt Özil den Rücken frei, er konnte so seine spielerische Klasse entfalten. Völlig richtig, dass Hrubesch ihn endlich wieder zum echten Stürmer machte und nach links vorne stellte. Das 4-1-4-1-System hat mich überrascht, wahrscheinlich ebenso sehr wie die Engländer!

Wer hätte das gedacht, dass wir Deutschen einen derart klug disponierten Gesamtansatz hinbekommen. Das muss doch auch in der A-Mannschaft möglich sein.

„Er staucht uns zusammen und holt uns gleich danach wieder aus dem Dreck.“ So rühmen die Spieler ihren Trainer. „Wir machen das, was der Trainer sagt, und deshalb haben wir Erfolg.“ Fleiß und Gehorsam in Kombination mit Selbstbewusstsein und Mannschaftsgeist – diese alten Tugenden werden durch Spieler wie Özil, Boateng, Dejagah, Khedira, Castro und Aogo nach Deutschland gebracht. Es sind importierte Werte, oder re-importierte?

Özil, Boateng, Dejagah, Khedira, Castro, Aogo sind unsere Vorzeigedeutschen – sie verkörpern den Willen zum Erfolg. Und dieser Erfolgswille bringt den Erfolg hervor.

Mesut Özil ist der Star der Deutschen. Völlig richtig, dass er zum Spieler des Tages gewählt wurde.

Mein Bruder Muck, langjähriger A-Spieler beim TSV Firnhaberau (Augsburg), kommentierte bei der Geburtstagsfeier am Sonntag, als wir über Migranten in Kreuzberg diskutierten: „Im Fußball klappt Integration schon lange.“ Er hat recht: Der Fußball ist ein Paradebeispiel, dass jeder seine Chance erhält. Fleiß, Disziplin, Einsatzfreude, Teamwork, Einordnung in eine Gruppe, Identifikation mit einem gemeinsamen Ziel: diese Tugenden kann man kaum so gut vermitteln wie im Sport.

„Wir haben Erfolg.“ So betitelte Kerstin Finkelstein ihr Buch über erfolgreiche muslimische Frauen.

Wann kommt ein solches Buch auch über Männer?

Lest hier einiges über unsere bunt zusammengewürfelte Multi-Kulti-Truppe aus der Süddeutschen Zeitung:

U-21-Nationalelf – Multi-Kulti ist normal – Sport – sueddeutsche.de
Andreas Beck wurde in Sibirien geboren, Sebastian Boenisch in Polen, Ashkan Dejagah in Teheran und Marko Marin in Bosnien, Jerome Boateng hat einen ghanaischen Vater, Sami Khedira einen tunesischen und Dennis Aogo einen nigerianischen, Mesut Özil hat türkische Eltern und Gonzalo Castro spanische. Die deutsche Nachwuchsmannschaft ist so international wie noch nie, aber das ist intern nicht mal ein großes Thema. „Wir kennen es aus unseren Klubs nicht anders“, sagt Dennis Aogo.

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Apr. 292009
 

Gutes Interview über Protestbewegungen mit Roland Roth in der heutigen taz! Der Sozialwissenschaftler beklagt den mangelnden Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Jede Schicht sorgt für sich selbst, spricht mit sich selbst, kämpft für sich selbst. Und über die anderen schimpft man, lästert man, man schmeißt auch mal aus dem Schutze der anonymen Menge heraus Steine oder fackelt Autos ab. Aber dieses Man ist nicht zur Mitarbeit bereit. Dieses in sich zerklüftete Gefüge können wir die Verinselung des gesellschaftlichen Bewusstseins nennen. Innerhalb der Inseln herrscht Windstille – die Bewohner dieser Inseln halten sich wie eine Gesellschaft Stachelschweine gegenseitig warm und richten nach außen ihre starrenden Stacheln. Aber die Verantwortung für das Ganze zu übernehmen – dazu sind nur sehr wenige bereit. Im Gegensatz zum Bürgertum, das 1789 die Macht anstrebte, bringen die radikalen Protestbewegungen heute keinerlei Ethik mit, sie erheben keinen moralischen Anspruch an die Einzelnen. Sie sehen sich nicht als künftige Träger der Macht. Es herrscht eine Art Ohne-mich-Mentalität. Bester Beleg: Der Spruch „Wir zahlen nicht für eure Krise.“

Bei denen, die nicht protestieren, sondern stillhalten, herrscht hingegen weithin eine Mitnahmementalität: Bankenrettungsschirm, Umverteilung von unten nach oben, und ebenso auch Umverteilung von oben nach unten, Abwrackprämie, Staatsbürgschaften, staatliche Allmachtsphantasien, Erhöhung der Grundsicherung … man will immer das Beste für sich und für seinen Nachwuchs mitnehmen und begibt sich in eine Empfängerposition, statt selbst etwas zu schaffen.  Dieses Geflecht an wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen durchschaut Roth meines Erachtens zutreffend. Aber lest selbst – Hervorhebung durch Fettdruck von mir:

Protestforscher über 1. Mai: „An Wut mangelt es nicht“ – taz.de
Aber könnte es nicht so kommen wie bei der französischen Revolution? Dort wurde die unangreifbar scheinende Monarchie quasi über Nacht zertrümmert.

Das ist völlig unwahrscheinlich. In der französischen Revolution gab es mit dem aufstrebenden Bürgertum einen Stand mit einem starken Klassenbewusstsein: Für die damaligen Unternehmer, die Gewerbetreibenden standen auf der einen Seite die Adligen – dekadente Schmarotzer, die in Luxus schwelgten ohne jede Moral. Auf der anderen Seite stand man selbst – arbeitsam, sittsam und moralisch integer. Man empfand sich selbst als die eigentlichen Träger der Gesellschaft. Warum sollte man weiter diese prassenden Höflinge alimentieren?

Genau die gleiche Frage ließe sich heute auch stellen.

Teile des Mittelstands wurden mit dem Konjunkturprogramm ruhig gestellt. Diese Schichten glauben nahezu pathologisch an die selbstheilende Kraft des Marktes. Und wenn der es nicht schafft, muss ihm eben der Staat wieder auf die Beine helfen. Die Vorstellung eines anderen Gesellschaftsmodells existiert nicht. Natürlich stößt viele so genannte anständige Bürger das dekadente Verhalten der Finanzbranche und mancher Firmenbosse ab. Aber das bleibt folgenlos.

Warum?

Weil ihr Verhalten nicht öffentlich geächtet wird. Medien und Politiker warnten vorsorglich vor einem Manager-Bashing. Der Begriff „Bankster“ wurde bei uns nicht heimisch. In den Talkshows sitzen noch immer die alten Figuren mit den immergleichen Parolen. Auch der Chef der Deutschen Bank hat schon verkündet, man mache weiter wie bisher. Die Situation erinnert sehr an Walter Benjamin: dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.

Dann hoffen wir also mit Karl Marx aufs Proletariat?

Nicht hier. Da müssen wir schon nach Lateinamerika schauen, wo Arbeiter bankrotte Fabriken übernommen haben. Das wäre selbst nach dem Abzug von Nokia aus Bochum nicht denkbar gewesen. Es fehlt die Kultur des „Wir schaffen das auch selbst“. Weder bei den Bürgern noch bei den Arbeitern existiert das Selbstbewusstsein, die tragende Schicht der Gesellschaft zu repräsentieren.

Was brauchen wir? Nun, schon seit Wochen verfolge ich in diesem Blog einen neuen Begriff von Bürgerlichkeit. Nicht in dem läppischen Sinne, wie ihn heute manche noch vertreten, wonach zur Bürgerlichkeit ein eigenes Häuschen, ein VW Golf, eine Lebensversicherung und jährlicher Flugurlaub gehören. Ebensowenig in dem an den Schuhsohlen abgelaufenen Sinne, dass man sich als Lager-Bürgerlicher von den Lager-Linken abgrenzt.

Nein, die neue Bürgerlichkeit schließt alle ein: Sie verlangt von jedem und jeder, dass sie sich als Teilhaber des Ganzen, als Verantwortliche für das Ganze sehen. Jenseits aller durchaus legitimen Bestrebungen nach VW Golf und Pauschalurlaub setzt das Bürgerschaftliche ein. Das setzt voraus, dass alle sich als Bürger begreifen und gegenseitig anerkennen: Deutsche und hier lebende Ausländer, Adlige und Proletarier, Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Erfolgreiche und Versager.

Dieser Weg, den jeder zunächst einmal einzeln einschlagen muss, führt von der Verinselung des Bewusstseins zur neuen Verantwortlichkeit. In der Schule wird dafür der Grundstein gelegt, etwa im Ethik-Unterricht. Dafür hätte man kämpfen sollen beim letzten Volksentscheid.

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Verantwortung statt Mitnahmedenken – Das Wort zum Abend

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Apr. 272009
 

Aus zwei Büchern, die ich kurz hintereinander gelesen habe, sprang mich vor drei Tagen geradezu erleuchtungsartig die Einsicht an, dass der zentrale, große Begriff der nächsten Jahre VERANTWORTUNG lauten wird. Worum geht es? Immer mehr merken wir, dass das Gute von unten wachsen muss, dass wir unser Geschick nicht mehr den anoymen Gesetzmäßigkeiten, dem Walten eines übermächtigen Staates, eines Kollektivs anvertrauen dürfen. Dafür heute abend zwei ähnlich lautende Belege aus diesen beiden Büchern!

Christian Füller: Die gute Schule. Wo unsere Kinder gerne lernen. Pattloch Verlag, München 2009, 285 Seiten, Euro 16.95

Füller untersucht: Was macht eine gute Schule aus? Er jammert nicht über den Bildungsnotstand, sondern er erzählt an 5 Geschichten, wie gute Schule gelingt. Ich greife einige Leitsätze heraus, die einen tragenden Grundton angeben: „Ich habe die Kraft, etwas zu schaffen, ich kann das. Ich bin Held!“ (S. 145), so reden sich die Schüler ein. „Alle diese Initiativen haben eines gemeinsam. Sie erwarten vom Staat wenig. Eigentlich nur, dass er sich möglichst heraushält mit Zentralabituren, Kopfnoten, neuen Schulfächern und ähnlichem Unsinn“ (S. 217).

Oswald Metzger: Die verlogene Gesellschaft. Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin 2009, 223 Seiten, Euro 16.90

Metzger betrachtet den heutigen Zustand der deutschen Gesellschaft, der deutschen Politik. Auch er gelangt zur Einsicht: Wir schieben zu viel Verantwortung ab, wir überfordern den Staat.  Dafür ein Zitat:

„Im Laufe vieler Jahrzehnte haben wir offenbar vergessen, dass die Leistungsfähigkeit des Staates auch von uns selbst abhängt. Wenn wir den Staat überfordern, dann verlangt er uns im Gegenzug immer mehr ab – in Form von Steuern und Sozialabgaben, aber auch in Gestalt immer größerer Regelungswut“ (S. 117-118).

Füller und Metzger kommen in einer Aufforderung überein: Erwartet nicht zu viel vom Staat! Packt es selber an – ergreift die Verantwortung selbst! Ihr könnt das!

Aus gegebenem Anlass: Kurzer Rückblick auf Pro Reli! Worin lässt sich das Volksbegehren einordnen? Antwort: Eindeutig in die alte Denkschule, wonach der Staat immer mehr Leistungen erbringen muss. Zu einem hohen Preis. Denn wenn tatsächlich Religion als Wahlpflichtfach eingeführt worden wäre, hätte auch Ethik in alle Jahrgangsstufen erweitert werden müssen. Mit erheblichen Kosten von geschätzten 200 Millionen Euro.

Was wäre das neue, verantwortliche Denken? Vielleicht dies: Wenn euch der Glaube so wichtig ist, dann legt glaubhaft Zeugnis ab! Bewirkt etwas,  im Kleinen. Erwartet doch nicht vom Staat, dass er euch euer Kerngeschäft, die Verkündigung der Frohen Botschaft abnimmt! Werdet klein wie die Kindlein, bescheidet euch!

Das Scheitern des Volksentscheides Pro Reli hatte ich zutreffend bereits am vergangenen Freitag vorhergesehen und kommentiert. Um so erschütterter bin ich, wie wenig einsichtig sich die Förderer und Forderer von Pro Reli und die sie unterstützenden Parteien und die Kirchen zeigen! Darauf ruht wahrlich kein Segen – mit immer neuen Forderungen an den Staat heranzutreten.

Der Wind hat sich gedreht – auf die Verantwortung des einzelnen, der kleinen Gemeinschaften kommt es an! Der Staat wird es nicht richten.

Die neuen Bücher von Christian Füller und Oswald Metzger empfehle ich nachdrücklich zur Besinnung und als Antidot für die rückwärtsgewandten Staatsgläubigen.

Guten Abend!

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Apr. 252009
 

Ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse, Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg, diese Verse warf ich in die Runde irgendwo in Berlin beim Italiener, als der Wein schon fast ausgetrunken war. Hell schimmerte die Kuppel des Deutschen Doms über dem Gendarmenmarkt. Es ging ums Grundsätzliche.

Hinwegrauschende Wagen, davontreibende Begrifflichkeiten – das sind auch die zahlreichen Begegnungen, Vorträge, Diskussionen, die ich den letzten Tagen geführt und gehört habe.  Was bleibt am deutlichsten haften? Wohl dies: ein neu erwachtes Gespür, dass den Menschen in diesen Wochen nichts so sehr am Herzen liegt wie das Aufbrechen der Kruste der Gleichgültigkeit, das Einstehen für sich und für andere, mit einem Wort: eine neue Verantwortlichkeit.

Beipiele für diese umfassende Sehnsucht nach Verantwortung? Es waren für mich in diesen Tagen: Der Kongress 30 jahre taz, die beiden neuen Bücher Die verlogene Gesellschaft von Oswald Metzger, Die gute Schule von Christian Füller. Und der Fluch „Fick dich!“, den mir gestern ein Radfahrer entgenschleuderte, als ich ihn durch höflichstes Klingeln und den Zuruf „Du fährst falsch“ darauf aufmerksam machte, dass er im Begriffe stand, mich über den Haufen zu fahren, da er den Radweg in der falschen Richtung benutzte und volle Kanne auf mich zusteuerte.

Alle diese Zeugnisse und Erfahrungen kommen überdeutlich überein: Wir müssen das gängige System der organisierten Verantwortungslosigkeit durchbrechen, das uns nicht weiterbringt. Ich möchte anfangen, diese Verantwortung mir selbst abzuverlangen. Dabei fange ich ganz klein an: etwa durch das Einhalten von Verkehrsregeln, durch Höflichkeit und Rücksicht im Straßenverkehr, auch wenn sonst kaum jemand sich drum kümmert.  Wer – wie so viele Radfahrer – in Anwesenheit von Kindern es nicht fertigbringt, bei Rot anzuhalten, bei dem glaube ich nicht, dass er in wichtigeren Fragen zu seiner Verantwortung steht. Ein solches Verhalten kann nicht vorbildlich sein.

Gehäufte Regelverletzungen, das ständige Übertreten von Normen des zivilisierten Umgangs zeichneten von Anfang an viele kriminelle Karrieren in der Politik des 20. Jahrhunderts aus. Das wird meines Erachtens viel zu wenig bedacht. Ein Hitler, ein Stalin, ein Lenin – sie und viele andere Verbrecher fingen ihre Laufbahn damit an, dass sie Fenster einschmissen, Graffiti auf unliebsame Geschäfte pinselten, grölend Versammlungen sprengten, fremdes Eigentum beschädigten und Körperverletzungsdelikte begingen – und zwar lange ehe sie in Regierungsämter gelangten. Sie verachteten den bürgerlichen Rechtsstaat und deshalb hielten sie sich nicht an seine Regeln.

Umgekehrt meine ich: Wer diesen Rechtsstaat will und bejaht, der muss sich an seine Regeln halten, auch im Kleinen. Das ist ein erster, winziger Schritt zur neuen Verantwortlichkeit, die doch alle so sehr wünschen.

Und jetzt gilt – still wird die erleuchtete Gasse.

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Die Eltern müssen ran

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Apr. 222009
 

Noch einmal überlese ich das gestrige taz-gespräch zwischen Christian Füller und André Schindler. Meine Sympathien liegen in diesem Fall auf Seiten des Fragestellers. Wundert euch das? Christian Füller verlässt hier sehr mutig die Rolle des Stichwortgebers und bringt die entscheidenden Fragen aufs Tapet: Was tun die Eltern? Welchen Anteil tragen die Eltern an der Bildungsmisere? Ich bin selbst mittlerweile zur Einsicht gelangt, dass die staatlichen Institutionen, also die Schule, die Ämter und auch die Lehrer, kaum mehr tun können als sie ohnehin tun. Der Staat kann mangelnde Sprach- und Lernfähigkeit bei den hier aufgewachsenen Kindern auch mit viel Geld nicht nachholen. Der Fehler liegt wohl darin, dass man den Staat stets von neuem auffordert, noch mehr für die angeblich Benachteiligten zu tun. Die derart Entmündigten verharren in ihrer Passivität. Die deutsche Gesellschaft zerfällt, zeigt sich peilungslos. Wieso sollte irgend ein Türke, irgend ein Libanese sich bei uns integrieren? Was haben wir denn zu bieten außer erklecklichen materiellen Vergünstigungen und einer üppigen Absicherung vor Hunger, Krankheit und Elend?

Oh ihr deutschen linksalternativen und ökobewegten Miteltern! Habt ihr denn nie – wie der Verfasser dieses Blogs – in einer Elternversammlung mit türkischen und arabischen Muttis gesessen? In eurer Kita oder eurer Schule? Nicht wahr, das Gefühl kennt ihr nicht, denn ihr haltet eure Kinder ja für etwas anderes als die Kreuzberger muslimische Mehrheit!

Am 27.06.2008 berichtete dieses Blog von einer Elternversammlung in der Kreuzberger Passionskirche. Damals meldete ich mich nicht in der Versammlung zu Wort, sondern sprach nur nachher mit einigen Leuten über unsere mögliche Verantwortung für dieses Stadtviertel, und  ich notierte damals:

Es herrschte eine insgesamt zwischen Ratlosigkeit, Empörung, Zuversicht und Entschlossenheit schwankende Atmosphäre. Niemand ergriff wirklich beherzt das Wort: “Wir leben hier in diesem Bezirk, wir stehen in der Verantwortung. Gemeinsam schaffen wir es. Was können wir zusammen tun?”

Und heute – bin ich dieser Niemand!  Ich halte es für schade, dass meine Kreuzberger deutschen Miteltern jeden Trick und jede Täuschung anwenden, nur um ihre Kinder nicht in eine Klasse mit türkischer und arabischer Schülermehrheit zu stecken. Ich lehne diese Ohne-mich-Haltung ab und deshalb geht unser Sohn jetzt in eine Klasse, in der überhaupt kein Kind mehr „ohne Migrationshintergund“ sitzt – dank der herrlichen linkskonservativen Eltern in unserem fröhlich-bunten, ach so alternativen Stadtviertel. Na und? Was ist so schlimm daran? Wovor habt ihr solche Angst? Ist dies nicht ein linker Stadtteil? Wo sind all die Ideale der Solidarität und des multikulturellen Miteinanders hin verschwunden? „Solidarität“ (ich sage lieber: Verantwortung) beweist sich zuerst in der eigenen Familie, im eigenen Haus, im eigenen Wohnviertel, gegenüber all den Menschen, mit denen man nun einmal zusammenlebt. Auswahl und Ablehnung darf es dabei nicht geben.

Warum nicht mal bei Staaten wie Türkei, Saudi-Arabien, Libanon und ähnlichen nachgucken? All diese Staaten pflegen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das mit massiver Propaganda durchgesetzt wird. Keiner darf sich ausschließen. Allerdings: Ich bin gegen Erziehungsdiktaturen, wie sie etwa die DDR, die Türkei oder die Sowjetunion darstellten oder darstellen. Wir leben in einem freiheitlichen Staat. Aber ich vertrete mit allem Nachdruck die Meinung, dass eine Gesellschaft von allen in ihr Lebenden die Bemühung um den eigenen Erfolg, eine gewisse Loyalität, ein Mindestmaß an Selbstverantwortung  einfordern muss – etwa in der Form, dass die Eltern die Kinder darauf vorbereiten, wie sie selbst ihr Lebensglück erarbeiten können. Und zwar hier in Deutschland, nicht im sozialstaatlichen Nirwana.

Die Äußerungen des Landeselternsprechers André Schindler geben keineswegs meine Haltung wider. Ich habe Herrn Schindler nicht gewählt und ich würde ihn auch nicht wieder wählen. Für besonders verhängnisvoll, ja fast unanständig halte ich seine Grundhaltung, mit dem Finger auf die Schulen, den Senator, die Lehrer zu zeigen, als wollte er sagen: „Nu mach mal, Staat, gib dir Mühe!“

In einer Leserzuschrift an die taz schrieb ich:

Die Hauptverantwortung für die in Teilen schwierige Lage in den Schulen liegt jetzt vor allem bei den türkischen, arabischen und deutschen Eltern und bei den Jugendlichen selbst. Nicht bei der Schule, nicht bei den Lehrern, nicht beim Staat, sondern bei uns türkischen, arabischen und deutschen Eltern als Bürgern. Die Schulen und die Lehrer sind weitaus besser, als sie meist – etwa von Herrn Schindler – dargestellt werden. Ich meine: Es ist falsch, die türkischen und arabischen Familien in ihrem Sonderbewusstsein zu bestärken, wie das heute immer noch geschieht, etwa durch amtliche türkischsprachige Elternbriefe oder durch das unselige Etikett „mit Migrationshintergrund“. Wir sollten nachdrücklich darauf hinwirken, dass alle hier aufwachsenden Kinder sich als deutsche Kinder auffassen. Dies schließt ein, dass die verpflichtende Erstsprache Deutsch von den ersten Lebenstagen jedes Kindes an gepflegt wird (gerne auch mit Türkisch und Arabisch zusätzlich).

Berliner Elternsprecher über Schulen und Eltern: „Die Grundschulen bringens nicht“ – taz.de

 Posted by at 22:13
Apr. 102009
 

Immer wieder lerne ich neue Wörter in meiner Muttersprache. So insbesondere dann, wenn ich mich, eingedenk des herannahenden Osterfestes, der religiösen Überlieferung zuwende. In der Zeitschrift FUGE. Journal für Religion & Moderne, Band 4, 2009, lese ich auf S. 28 folgende Sätze:

Die Bibel ist das meist-erforschte Buch der Welt. Vielleicht ist es auch der „überforschteste“ Gegenstand der Welt.

Gut, so sei die Bibel ein Kandidat für den Titel „Am meisten überforschter Gegenstand“. Ich schlage aber einen anderen Kandidaten vor: die Schule.  Was uns zu meinen Erlebnissen vom vergangenen Montag bringt.

Der kommunalpolitische Arbeitskreis der CDU Friedrichshain-Kreuzberg hatte ins Rathaus Kreuzberg eingeladen. Als Redner konnte gewonnen werden Oberschulrat Gerhard Schmid, der in der Schulverwaltung für unseren Bezirk zuständig ist.

Eine kleine Nachforschung im Internet ergibt: Schmid stammt aus meiner Heimatstadt Augsburg, er war damals einer der Wortführer der linken Protestbewegung, er wurde in der Augsburger Allgemeinen neulich sogar als der „Augsburger Rudi Dutschke“ bezeichnet! Er war also einer jener Aufrührer, vor denen meine Eltern mich besorgt warnten! Wir zitieren aus der Augsburger Allgemeinen vom 22.04.2008:

Im Frühjahr 1968 ist Schmid ein bekanntes Gesicht in der überschaubar kleinen linken Szene in Augsburg. Er organisiert die Ostermärsche, hält Vorträge über die Arbeiterbewegung und engagiert sich im Kritischen Seminar, einer Art Volkshochschule für Freidenker. Ein Kurs diskutiert über „Sexualökonomie und Orgasmustheorie“, ein anderer über die „sozialökonomische Struktur Südvietnams“.

Schmid ist so etwas wie der Augsburger APO-Chef. Dazu hat ihn zwar nie jemand gewählt, doch irgendwie, sagt er, habe er „das Ganze zusammengehalten“. Die Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und den Krieg in Vietnam, die Schulstreiks und Sitzblockaden, die quälend langen Debatten mit Jungsozialisten und Jungdemokraten. „Heuchler und kalte Krieger“ sind sie 1968 für ihn, den Unangepassten. Wenige Wochen nach dem Happening in der Sporthalle schließt die SPD Schmid wegen „groben Verstoßes gegen die Parteigrundsätze“ aus. Heute sagt er: „Wir waren völlig verblendet.“

Was ihn aber heute nicht daran hindert, in der Schulverwaltung als Vertreter der Staatsmacht zu agieren. So sieht also der Marsch durch die Institutionen aus. Die CDU lädt einen Rudi Dutschke zu sich ein – und er stößt auf waches Interesse. So muss es sein!

Was sagt nun die Forschung zum gegenwärtigen Zustand unserer Schulen? Laut Schmid besteht keinerlei Anlass zu einer Strukturdebatte. Es gebe laut neuesten Forschungsergebnissen keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Schulform und Lernerfolg. Ein hochgradig gegliedertes Schulsystem könne ebensowohl sehr gut als auch weit unterdurchschnittlich abschneiden, wie ein Vergleich zwischen Bayern und Berlin lehre. Die gleiche Variationsbreite herrsche bei Einheitssystemen – hier fällt mir der überlegene Stand der Schulbildung in der früheren Sowjetunion im Vergleich zu den USA ein. Entscheidend sei, fuhr Schmid fort, die Qualität des Unterrichts, nicht die Schulstruktur.

Damit stellte sich Schmid sozusagen von Anfang an windschief zu den verschiedenen Konzepten der Berliner Parteien. Die Parteien bosseln eifrig an Schulreformen und  Strukturdebatten, an Test-Ergebnissen, und üben sich in Unkenrufen. Als Mitglied der Schulverwaltung sieht Schmid hingegen seine Aufgabe eher darin, Erfahrungen  aus dem Schulalltag in Empfehlungen umzumünzen. Die Fachleute aus der Bildungsverwaltung, zu denen Schmid gehört, bereiten sich jetzt bereits darauf vor, die zu erwartenden Vorgaben der Berliner Landespolitik möglichst sinnvoll umzusetzen. Ideologie und Parteienbindung spielt dabei keine Rolle mehr. Das finde ich höchst erfreulich, denn seit meiner eigenen Schulzeit sind die Bildungseinrichtungen ein hart umkämpftes Feld für Weltverbesserer und Abendlandsretter geworden. Diese Streiterei ist ihnen insgesamt nicht gut bekommen.

Ich habe nicht den Eindruck, dass der rot-rote Senat und die drei Oppositionsparteien mit ihren Gegenentwürfen tatsächlich das angesammelte Wissen aus den Schulämtern abrufen. Mein Eindruck bestätigte sich auch an diesem Abend.

Einigkeit schien zu herrschen: Alle Schulformen, alle Schüler müssen in dem gestärkt werden, worin sie gut sind – oder gut sein können. Praktische Begabungen sollen stärker zur Geltung kommen, etwa in dem neuen geplanten P-Zweig. Schmid berichtet anschaulich und überzeugend von Planungen, wonach in den P-Zweigen (den Nachfolgern der jetzigen Hauptschulen), Werkstätten eingerichtet werden sollen, in denen die jungen Leute mit ihrer eigenen Hände Arbeit Erfolg und sogar ein kleines Einkommen erzielen sollen.

Die gesamte zweite Hälfte des Abends und die Aussprache kreisten mehr um die Menschen, die in der Schule aufeinandertreffen. Welche Haltungen sind bei Schülern und Lehrern nötig, damit Schule gelingt? Welche Rolle spielen Fleiß, Konzentrationsfähigkeit, Sprachkenntnisse, Tugenden wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Pflichtgefühl, Höflichkeit?

Recht ketzerisch und spielverderberisch meldete ich mich zu Wort und wagte den Einwand: Wenn Fleiß, Konzentrationsfähigkeit, gute Sprachkenntnisse, Tugenden wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Pflichtgefühl, Höflichkeit zusammenkommen – könnten wir uns dann die gesamte Debatte über Schul- und Unterrichtsformen sparen? Brauchen wir nicht eine andere Grundhaltung? Brauchen wir nicht – mehr als alles andere – einen Mentalitätswandel? Sind die endlosen Berliner Diskussionen um die Bildungspolitik im Grunde Schaukämpfe, die vom eigentlichen Problem ablenken? Ich schlug vor, ganz massiv an die Eltern heranzutreten und sie mit gezielter Mentalitätsbeeinflussung zu einer lernfreundlichen Haltung umzuorientieren. Die Kinder brauchen eine Umgebung, die sie zum Lernen ermuntert. Dazu gehört eine Abrüstung beim exzessiven Medienkonsum, frühe und bevorzugte Befassung mit der deutschen Sprache, Aufbrechen des „Migranten-„Ghettos, Selbstbefreiung aus dem Gestrüpp der Vorurteile. Es regte sich – kein Widerspruch. Ich hege die Vermutung, dass ein Großteil der Versammlung dieser Ansicht zuneigte.

Beim Nachdenken über diesen hochgelungenen Abend fällt mir noch ein Bericht über Michelle Obama ein. Im Gespräch mit französischen und deutschen Schülern, das im ZDF wiedergegeben wurde, erklärte sie vor wenigen Tagen sinngemäß:

„Ich hab mir immer Mühe gegeben, etwas zu lernen. Viele schwarze Mitschüler  haben mich damals schief angekuckt und gesagt: Du redest ja wie eine Weiße! Das hab ich auf mich genommen. Ich war eine Streberin. Das war voll uncool. Ich wollte gut sein in der Schule.“

Und genau diese Haltung brauchen wir auch in Berlin. An der Art der Schule liegt es sicher nicht, wenn Bildungsgänge scheitern. Keiner ist Opfer seiner Herkunft – niemand ist durch seinen Migrationshintergrund daran gehindert, in der Schule und im Leben Erfolg zu haben. Jede und jeder kann es schaffen. Evet, we can.

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März 302009
 

Immer wieder wird von „bürgerlicher Politik“ gesprochen. Man müsse eine „bürgerliche Alternative“ zur unsäglichen Politik der Herrschenden schaffen.  So erscholl es am Vorabend der Französischen Revolution, als es darum ging, die Vorrechte des Adels und der hohen Geistlichkeit zu beseitigen. Das unterdrückte Bürgertum pochte an die Pforten der Macht. Aber auch in der Berliner Landespolitik wird immer wieder erneut in dieses Horn gestoßen. Das unruhige Bürgertum will sich nicht länger mit der Vorherrschaft des SPD-Funktionsadels und der Hohen Geistlichkeit des linken Sozialadels abfinden. Die herrschenden Verhältnisse werden scharf kritisiert, mit geradezu revolutionärer Ungeduld wird zur Abwahl der Herrschenden aufgerufen.

Wie stehe ich dazu? Nun, wie viele andere Menschen mit gesunden Sinnen halte auch ich die Themen Bildung, Teilnahme am Gemeinwesen, gelingendes Leben für äußerst wichtig. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ein selbstverantwortetes, gelingendes Leben – das ist es, wofür ich arbeiten möchte. Wir müssen zu diesem Zweck an die dicken Ränder der Gesellschaft herangehen, die Macht der allzu Mächtigen durch klare Regeln begrenzen, die Ohnmacht der Ohnmächtigen beseitigen. Durch Teilhabe, durch Bildung, durch sinnvolle Arbeit.

Wir müssen eine starke Vermittlung hin zum Gedanken des Bürgerlichen schaffen. Denn:

Alle, die in Friedrichshain-Kreuzberg wohnen, sind gleichermaßen Bürger unseres Bezirks.

Alle, die in Deutschland wohnen, sind gleichermaßen Bürger unseres Landes.

Alle Parteien, die an der verfassungsmäßigen Ordnung teilhaben, sind gleichermaßen bürgerliche Parteien, insbesondere die Linke, die CSU, die Grünen, die FDP, die SPD und die CDU.

Wir alle sind Bürger, wir müssen allen anderen Bürgern Chancen schaffen, durch Teilhabe an unserem Gemeinwesen die Chancen eines guten, gelingenden Lebens zu nutzen. Diesen Grundgedanken hat erst vor wenigen Tagen Bundespräsident Köhler in seiner beeindruckenden Paulskirchenrede hervorgehoben:

Es ist faszinierend, wie stark die Abgeordneten für das staatliche Aufbauwerk auf Bildung und auf den gleichen Zugang zu Bildungschancen setzten. „Verfassung und Gesetz sind leere Worte für ein Volk ohne Bildung“, hieß es zur Begründung. Die Frankfurter Reichsverfassung schrieb ein flächendeckendes öffentliches Schulwesen vor und machte die darin beschäftigten Lehrer zu Staatsdienern – bis dahin hatten viele Volksschullehrer ihr Dasein nur durch Nebentätigkeit als Küster, Gartenarbeiter oder Kleinhändler fristen können. Der Besuch der Volksschulen und niederen Gewerbeschulen sollte kein Schulgeld mehr kosten, und begabten Kindern armer Leute sollte auch auf den höheren Schulen freier Unterricht gewährt werden. Dabei verstand man übrigens das gesamte Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Universität als organisches Ganzes, und es sollte mit unterschiedlichen Erziehungsmethoden experimentiert werden dürfen. Das mutet ausgesprochen modern an. Fragt sich: Haben wir heute alles verwirklicht, wonach die Achtundvierziger strebten, und entwickelt sich unser Bildungswesen in die richtige Richtung?

Lasst es uns anpacken!

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Sind die Ostasiaten alle von Natur aus schlauer als wir Europäer?

 Integration, Migration, Tugend  Kommentare deaktiviert für Sind die Ostasiaten alle von Natur aus schlauer als wir Europäer?
März 202009
 

Fast drängt sich dieser Schluss auf, wenn man sich die Schulleistungen zum Maßstab nimmt. Denn sowohl in den USA als auch in Deutschland hängern die Kinder aus vietnamesischen, chinesischen und koreanischen Zuwandererfamilien die türkischen, deutschen und arabischen Einheimischen locker ab.

Sind also wir Berliner Türken, Deutsche und Araber dümmer? Nichts wäre falscher als das! Aber ich merke es immer wieder bei persönlichen Gesprächen: Bei den Vietnamesen und auch bei den Russen spielt Bildung und Ausbildung eine viel größere Rolle als  bei uns Deutschen. Ich verallgemeinere hier – aber die Zahlen erlauben eine solche Verallgemeinerung. Während es für manche einheimische Männer nichts Tolleres zu geben scheint, als mit einem tiefergelegten BMW durch die Straßen Kreuzbergs oder Neuköllns zu schaukeln und die Umwelt mit ihren Subbass-Woofern zu bedröhnen, sitzen andere gleichalte junge Männer aus der ersten oder zweiten Zuwanderergeneration zuhause und büffeln für den Mathe-Leistungskurs.

Auf die Einstellung, auf die Wertsetzung kommt es an. Ich meine, wir Deutsche und Türken sollten uns ein bisschen was von den vietnamesischen Einwanderern abkucken.

Jeder kann etwas für seinen Erfolg tun, Herkunft ist kein Schicksal.Ich sehe hier in Kreuzberg und Neukölln auf Schritt und Tritt die Hochschätzung des otium cum dignitate, der Muße, der von Arbeit befreiten Existenz: für so manchen wohlhabenden Römer der Kaiserzeit das höchste erstrebenswerte Ziel.  Aber die Mittel für diese dem Müßiggang geweihte Daseinsform müssen erarbeitet werden – und zwar durch andere. In der Antike waren es die Sklaven, die man aus den unterworfenen Völkern heranschleppte.  Und heute?

Die Berliner Zeitung berichtet heute:

Bildung statt BMW – Berliner Zeitung
Ngoc An Nguyen und der 16-jährige Thang Vu Duc besuchen die 11. Klasse des Barnim-Gymnasiums in Falkenberg. Ihre Eltern kommen aus Vietnam, so wie die Mütter und Väter von 136 anderen Kindern dieses Gymnasiums. 17 Prozent der Kinder an der Schule sind nichtdeutscher Herkunft, davon 75 Prozent aus Vietnam. Ihr Anteil steigt. In der siebten Klasse sind ein Drittel der Kinder vietnamesischer Herkunft. Und die sind in der Regel die Besten ihrer Klassen.

Keine andere Einwanderergruppe kann in der zweiten Generation mit solchen Schulerfolgen aufwarten. Etwa 50 Prozent der vietnamesischen Kinder schaffen es in Deutschland aufs Gymnasium, in Brandenburg sind es sogar 74 Prozent. Damit sind sie ihren deutschen Mitschülern weit überlegen – von Kindern anderer Einwanderergruppen ganz zu schweigen.

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