„Giorgos Katidis vom griechischen Erstligisten AEK Athen ist vom nationalen Fußball-Verband EPO wegen eines Hitlergrußes lebenslang für die Auswahlmannschaften des Landes gesperrt worden.“
Dass in Fußballstadien in südeuropäischen Ländern immer wieder der Mussolini-, Hitler-, oder Metaxas-Gruß gezeigt wird, dass immer wieder rassistische Ausfälle zu beklagen sind, ist eine leidige Tatsache.
Auffallend ist jedoch, dass der sowohl im faschistischen Italien eines Benito Mussolini als auch im diktatorisch regierten Griechenland eines Ioannis Metaxas gebräuchliche sogenannte „römische Gruß“, der „saluto romano“, heute außerhalb Italiens und außerhalb Griechenlands fast ausschließlich als „Hitler-Gruß“ bezeichnet wird.
Und doch ist es so: Der nach oben gestreckte rechte Arm galt in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts als „saluto romano“, also als ein typisch italienisches Gewächs wie heute etwa Pizza margherita, Spaghetti all’arrabbiata und vino rosso toscano. Die deutsch-österreichischen Nationalsozialisten der NSDAP übernahmen den saluto romano mit gewissen Abwandlungen von den Italienern, und ebenso übernahm ihn die griechische Diktatur des Ioannis Metaxas von den Italienern. Mit genau diesem italienisch-deutsch-österreichisch-griechischen Gruß, diesem Mussolini-Hitler-Metaxas-Gruß, wie man ihn korrekterweise nennen müsste, wird heute üble Volksverhetzung in Stadien betrieben.
Allerdings wird weiterhin das beliebte Feindbild gepflegt, wonach alles Böse – darunter auch der saluto romano – aus Deutschland und nur aus Deutschland kommt. Historisch ist dies falsch. Zuviel der Unehre für Deutschland! Europa will partout bis zum heutigen Tage einfach nicht wahrhaben, dass Russland, Italien, Griechenland, Rumänien auf ihrem Boden eigenständige, verbrecherische Regimes hervorgebracht haben – und zwar ohne Geburtshilfe Deutschlands. Es gab lange vor dem brutalen Überfall des faschistischen Italien Mussolinis auf das diktatorisch regierte Griechenland die Sitte, sich mit dem saluto romano zu grüßen. Die griechische Metaxas-Diktatur bediente sich des römischen Grußes genauso wie die Mussolini-Diktatur. Auch in Rumänien wurde damals der saluto romano verwendet.
Erst im Nachhinein, erst nach dem 2. Weltkrieg setzte sich in Italien, Griechenland und Rumänien rasch die stillschweigende Übereinkunft fest, dass alles Böse letztlich aus Deutschland und nur aus Deutschland stamme, während die anderen europäischen Diktaturen – namentlich die Sowjetunion Stalins, das Italien Mussolinis, das Griechenland des Ioannis Metaxas, das Rumänien des Ion Antonescu – als unschuldige Opfer zu werten seien. Dass man heute überall nur vom Hitler-Gruß statt vom saluto romano oder vom Mussolini-Hitler-Metaxas-Gruß spricht, ist ein weiterer augenfälliger Beleg für diese eigentümliche Horizontverschiebung des historischen Bewusstseins.
Alles Böse kam letztlich aus Deutschland. Diese vulgäre Out-of-Germany-Theorie des Bösen wurde schon wenige Jahre nach dem Ende der europäischen Diktaturen durchgesetzt und kann heute mittlerweile als die eigentliche Siegerin des 2. Weltkriegs gelten.
Gute, nachdenklich stimmende Bilder und Gespräche verfolge ich gerade im ZDF. Das gesamte Unternehmen „Unsere Mütter, unsere Väter“ scheint mir sehr bedacht im Vorgehen, weit entfernt von vorschnellen Urteilen. Es lohnt sich, das zu verfolgen. Was mir fehlt, ist die Stimme der Russen, sind die Erzählungen der Russen. Es fehlt leider komplett der Blick in die UDSSR der 30er Jahre.
Gunther Emmerlich erwähnt gerade Berchtesgaden, das er als Kind im Urlaub kennengelernt hatte. Spannend!
Deutschland gilt in der hier immer wieder angedeuteten negativen Theologie des Bösen als der Urquell des Bösen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. „War es doch unser Land, von dem aus alles Europäische, alle universellen Werte zunichtegemacht werden sollten.“
Knapp und bündig kann man in diesen Worten Joachim Gaucks eine tiefe Grundüberzeugung zusammenfassen, die mehr oder minder unbefragt tagaus tagein wiederholt wird und bereits auf unsere kleinsten Kinder und die Jugendlichen niederprasselt. Man könnte ganze Blogs, ganze Bibliotheken damit anfüllen. Es ist eine sich selbst verstärkende, etwa seit 1980 verkündete, faktenresistente negative Theologie des Bösen in der Geschichte, deren absoluter Dreh- und Angelpunkt mittlerweile wir Deutschen geworden sind.
Dieses Grundmuster der Theorie des Bösen kann man so zusammenfassen:
Evil came out of Germany, das Böse kam aus Deutschland. Deutschland ist auf alle Zeiten das Kainsvolk der Mörder und Verbrecher.
Deutschland ist in dieser Sicht der Urquell des Bösen, der Urquell der Wertevernichtung im 20. Jahrhundert. Gerade aus dem Munde der Deutschen hört Europa dieses Bekenntnis zu deutscher Urschuld immer wieder gerne. Entlastet es doch alle anderen Länder, ihre Mitbeteiligung oder gar ihre Teilschuld an allem Bösen, das Europa zu zerstören drohte, zu erkennen.
Als beliebiges Beispiel sei hier nur folgender Film angeführt, in dem ganz normale Deutsche zu Verbrechern werden:
Das ist die endlos wiederholte Leier, welche vor allem von der Söhne-und-Enkel-Generation breit ausgewalzt wird: Die ganz normalen Deutschen, the ordinary Germans, wie das Daniel Noah Goldhagen sagt, wurden fast alle Verbrecher. Deutsch=böse. Nichtdeutsch=gut. So einfach ist das in der herrlichen Schwarzweiß-Welt unserer Massenmedien innerhalb Deutschlands. Wie überrascht war ich einmal, als ich von einem direkten Zeitzeugen erfuhr, dass allein in Berlin 6000 Juden unter Lebensgefahr vor der Verfolgung versteckt wurden und so überleben konnten. Die Retter waren alle – „ordinary Germans“. Nicht alle Deutsche waren also böse. Nur redet niemand von denen. Das Schwarz-Weiß-Bild der negativen Theologie würde ins Wanken geraten.
Außerhalb Deutschlands ist man schon einen Schritt weiter:
Gestern sah ich im französischen Fernsehen TV5 einen Bericht über Margot Woelk, eine der 15 Vorkosterinnen Hitlers in der Wolfsschanze. Viel zuschulden hat sie sich nicht kommen lassen, sie wurde zwangsverpflichtet und lebte in beständiger Angst vor Vergiftung und Ermordung. Ihre 14 Mitvorkosterinnen wurden von sowjetischen Soldaten erschossen, sie entkam.
So weit berichteten es auch die deutschen Medien. Die deutschsprachigen Medien hören hier auf. Margot Woelk bleibt die Vorkosterin Hitlers, wird so zum Teil der Geschichte des Bösen. Als Beleg sei hier der folgende Bericht der Berliner Boulevardzeitung BZ vom 29.12.2012 angeführt:
Das französische Fernsehen TV5 und ebenso auch eine englische Zeitung berichten aber auch von ihrer wochenlangen Tortur nach der Gefangennahme durch sowjetische Soldaten – ein Umstand, den das deutsche Blatt aus dem Hause Springer wohlweislich verschweigt. Margot Woelk überlebte die Qualen, also die fortgesetzten, über Wochen wiederholten Mehrfachvergewaltigungen schwerverletzt, konnte aber nie mehr Mutter werden. Beleg: Daily Mail vom 23.02.2013.
Auffallend ist, dass hier in den ausländischen Medien einmal eine Deutsche im Gegensatz zur vorherrschenden Darstellung der deutschen Medien nicht als enthemmte KZ-Aufseherin, sondern als Opfer dargestellt wird – als Opfer erst der SS und dann der Sowjetarmee. Das findet man mittlerweile immer wieder nicht innerhalb, aber sehr wohl außerhalb Deutschlands. Außerhalb Deutschlands wird die ständige habituelle Selbstgeißelung Deutschlands -„wir Deutschen sind und bleiben auf alle Zeiten der Ursprung des Bösen“ – viel differenzierter gesehen, und zwar nicht nur von der historischen Forschung, sondern auch von Massenmedien wie etwa Fernsehen und Boulevardzeitungen.
Dafür sollten wir Deutschen dem französischen Fernsehen TV5 und der britischen Boulevardzeitung Daily Mail Dank wissen.
Der eine oder andere mag sich noch erinnern, wie um das Jahr 1968 herum die Studenten an westlichen Universitäten begannen, das Unheilsgefüge der spätkapitalistischen Gesellschaften als falsches Ganzes, als täuschenden Verblendungszusammenhang zu demaskieren. Der Kapitalismus – so jene Lehre – war im europäischen Faschismus, in Vietnam, in Südamerika, in den USA zur äußersten unmenschlichen Fratze gelangt. Was ab 1918 in der Sowjetunion und ihren annektierten oder unterworfenen Randgebieten geschah, davor verschlossen die revolutionären Linken des Westens von Brecht über Sartre bis zu Marcuse und Adorno die Augen. Der gesamte Osten Europas, also alles, was nach dem großen abendländischen Schisma von 1054 nicht mehr zum Abendland gehörte, lag völlig außerhalb ihres Sichtkreises – was kaum verändert bis zum heutigen Tage für die Linke der westlichen Länder gilt.
Im sonnigen Kalifornien lehrte, erforschte und ersann Herbert Marcuse seinen Ruf zur „Großen Weigerung“. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, nur die vollständige Verweigerung der Subjekte gegenüber allen kapitalistischen Verwertungszusammenhängen, die Aufkündigung des feigen Einverständnisses mit dem repressiven Ausbeutungszusammenhang des Kapitalismus könne das Individuum – wie immer vorläufig – aus dem zwanghaften Verblendungszusammenhang reißen und im revolutionären Akt einen Vorschein der Erlösung gewähren. Diese Erlösung aber müsse als gewalttätige sozialistische Revolution kommen. Der Großen Verweigerung eines Herbert Marcuse korrespondierten auf der Seite der selbsternannten proletarischen Internationale die vielen verschiedenen Formen des Ereignisses, vom Sit-in über das Teach-in bis hin zu tätiger Unterstützung der Spaßguerilla eines Dieter Kunzelmann. Ins Extrem gesteigert erschien die große Weigerung als klammheimliches Einverständnis mit den mörderischen Aktionen der weit in die Mitte der Gesellschaft hinein verzweigten revolutionären Zellen, etwa der Bewegung 2. Juni und der RAF.
So – in grober, aber nicht falscher Vereinfachung – meine Erinnerung an jene Jahre, deren ferner Nachhall nirgendwo deutlicher zutage tritt als in den streng realitätsresistent fortgeführten Aktionen der aktionistischen Linken, wie sie gerade hier in Kreuzberg noch immer oder immer wieder ihr Haupt erhebt.
Herbert Marcuse, der berühmte gottlose Theologe, griff mit seiner magischen Formel der „Großen Weigerung“ ein uraltes Denkbild des religiös grundierten Denkens auf, das ich nicht zufällig am heutigen Tage bei Dante Alighieri wiederfand. Zweifellos besteht zwischen Dantes Gran rifiuto und Marcuses Großer Weigerung ein nicht nur semantischer Zusammenhang.
Poscia ch’io v’ebbi alcun riconosciuto
vidi e conobbi l’ombra di colui
che fece per viltà il gran rifiuto.
Ich übersetze:
Nachdem ich dort nun einige erkannt,
sah und erschaute ich den Schatten jenes Manns
der feige sich die Große Weigerung erfand.
So begegnet Dante im 3. Gesang der Hölle seiner Göttlichen Komödie seinem Trugbild eines Mächtigen, der sich als zum Regieren, also zum tätigen Umgestalten der gesellschaftlichen und politischen Realitäten als zu schwach erwies. Dante verlangte den starken Fürsten, der den Stürmen der Zeit die Stirn bot.
Auf unsere Zeit bezogen, könnte man sagen: Dante stellte immer wieder die Machtfrage, der Verzicht auf Macht und Einfluss war für ihn keine gangbare Option.
Dass ein Mensch das Leben in Wahrheit dem ständigen Streben nach Macht und Einfluss vorzog, dass er der Ehre und Würde in den Augen der Welt entsagte, war für ihn nicht nachvollziehbar.
Dieses Abdanken ist ein Danken, dieses Zurücktreten ist ein Nach-Vorne-Treten. Diese vermeintliche große Weigerung im Verblendungszusammenhang des Ungeschicks ist eine Bejahung der eigenen Endlichkeit im Geschickten des Schicksals. Für ihn gilt, was Fredi Chiappelli über Dante selbst sagt: „Compie più un atto di integrazione che di rinunzia – er vollbringt eher einen Akt der Ergänzung als des Verzichts.“
Stefan Zweig hat diese Grundhaltung des Entsagens um der vollständigen Wahrheit willen, diesen Akt der Befreiung in seinem Lied des Einsiedels eingefangen:
Wie seltsam hat sich dies gewendet,
Daß aller Wege wirrer Sinn
Vor dieser schmalen Tür geendet
Und ich dabei so selig bin.
Der stummen Sterne reine Nähe
Weht mich mit ihrem Zauber an
Und hat der Erde Lust und Wehe
Von meinen Stunden abgetan.
Der süße Atem meiner Geige
Füllt nun mit Gnade mein Gemach,
Und so ich mich dem Abend neige,
Wird Gottes Stimme in mir wach.
Wie seltsam hat sich dies gewendet,
Daß aller Wege wirrer Sinn
Vor dieser schmalen Tür geendet
Und ich dabei so selig bin.
Und von der Welt nur dies begehre,
Die weißen Wolken anzusehn,
Die, lächelnd über Schmerz und Schwere,
Von Gott hin zu den Menschen gehn.
Quellen: Dante Alighieri: La Divina Commedia. A cura di Fredi Chiappelli. Grande universale Mursia, 4a edizione, Milano 1976, p. 6, p. 38 (Inferno, canto III, vv. 58-60)
Stefan Zweig: Lied des Einsiedels. In: Deutscher Dichterwald. Lyrische Anthologie. Begründet von Georg Scherer. Bearbeitet von Artur Kutscher. 24. Auflage, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Leipzig 1911, S. 369
Jan Engelmann: Der Traum von der großen Verweigerung. taz, 19.07.2003
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2003/07/19/a0121
Immer wenn ich meine russischen Gesprächspartner so richtig ärgern will, erzähle ich ihnen die neuesten Schmeicheleien über Lenin, Stalin, Trotzki usw., die die westlichen Medien regelmäßig wieder auftischen: „Also, in der BBC-Dokumentation Die Geschichte des Menschen, geschrieben von Andrew Marr, produziert von Kathryn Taylor, präsentiert von Dieter Moor, wird Lenin als höflicher Mann dargestellt, der einen Raucher aus dem Abteil bittet, als er im verplombten Abteil von Zürich nach Petersburg gondelt! Und dann wird die Sowjetunion als erster sozialistischer Staat begrüßt! Euer Lenin, das war offenbar ein netter, lächelnder Mann! So zeigt ihn die BBC!“
Die Reaktionen der Russen kann man so zusammenfassen: „Es ist hoffnungslos mit euch Europäern! Wann lernt ihr endlich mal die Geschichte der anderen Hälfte Europas kennen? Hättet ihr Deutschen uns Lenin und seine ganze Banditen- und Verbrecherbande nicht auf den Hals gehetzt, wäre Russland das Schlimmste erspart geblieben! Wir waren vor dem Ersten Weltkrieg auf einem guten Weg! Ihr Deutschen habt euch unentwirrbar als Totengräber des alten Russland schuldig gemacht – durch die Begünstigung der Revolution, aber nicht zuletzt auch durch das famose Waffenbündnis zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion von 1939, das bis August 1941 hielt. Toll toll toll! Und ihr wollt jetzt nichts mehr davon wissen!“
Derartige Reaktionen zeigen mir, wie völlig unterschiedlich die Geschichtsbilder der Deutschen, der Russen, der Briten, der Polen, der Letten, der Rumänen seit 1945 waren und auch weiterhin sind. Diesem Thema widmet sich auch Arnd Bauerkämper in folgendem Buch:
Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Schöningh Verlag, Paderborn 2012
Das Buch kenne ich leider noch nicht, aber aus der Besprechung, die Wolfram Pyta heute auf S. 8 der FAZ bringt, meine ich erkennen zu können, dass Bauerkämper den vielfach beklagten Befund einer zersplitterten europäischen Geschichtserzählung bestätigen kann. Das historische Gedächtnis ist – wie es die FAZ titelt – „Ein politisch umkämpftes Terrain: Europa konnte nach dem Zweiten Weltkrieg keine einheitliche Erinnerungskultur hervorbringen.“
So wie noch bis ins 17. Jahrhundert jeder Zweifel an der Existenz Gottes bei Strafe untersagt war, so hat sich mittlerweile in Deutschland und im westlichen Europa eine gleichsam theologische, mit strafrechtlichen Verboten bewehrte Dogmatik anstelle einer echten Geschichtserzählung herausgebildet. „Daran, an DIESEM EINEN darfst du nicht zweifeln!“, ist das Motto einer derartigen starren Dogmatik. So wie die scholastische Theologie mit dem Begriff des Summum bonum, des absoluten Guten, des unhintergehbar Einzigartigen operierte, welches sie in der natura naturans dei erblickte, so bedient sich die gegenwärtige vorherrschende Geschichtstheologie des Summum malum, des absoluten Bösen, des Unvergleichlichen und Einzigartigen, welches sie im Massenmord an den europäischen Juden erblickt.
Diese geschichtstheologische, je „eschatologische“ Dogmatik ist stets durch das Datum des 08./09.05.1945 geprägt. Sie versagt aber meist hoffnungslos dabei, die Zeit vom 28.06.1914 bis zum 22.08.1941 einigermaßen vollständig zu erzählen.
Was tun ?
Ich meine erstens: eine gesamteuropäische Geschichtserzählung muss stärker die Quellen in den östlichen Sprachen einbeziehen. Allein deutsche und englische Bücher zur Kenntnis zu nehmen, genügt nicht. Polnische, russische, rumänische, lettische, finnische, jiddische, hebräische Quellen und solche in anderen Sprachen müssen ebenfalls eingearbeitet werden.
Jede gesamteuropäische Geschichtserzählung muss zweitens auch den realen Kommunismus als mentalitätsverändernde Macht miteinbeziehen. Alle Quellen aus jener Zeit – z.B. Tageszeitungen – belegen, dass die Oktoberrevolution nach und neben dem Kriegsausgang von 1918 eines der wichtigsten, vielleicht das wichtigste Ereignis war, das damals die Geister und Herzen beherrschte.
Die Massenhinrichtungen, die Gräuel, die Hungersnöte, die erbitterten Bürgerkriege, die zahlreichen kleineren zwischenstaatlichen Kriege, die seit der russischen Oktoberrevolution und insbesondere ab 1921 die gesamte kleinteilige Staatenlandschaft der Osthälfte Europas prägten, müssen auch bei uns in Deutschland oder Frankreich endlich zur Kenntnis genommen und ins Geschichtsbild eingefüttert werden!
Drittens: Immer nur an Nationalsozialismus, Faschismus und Weltkrieg zu erinnern, reicht nicht aus. Man muss auch an den Kommunismus, an seinen ab 1918 entfesselten unbändigen Terror, an Bürgerkriege und an Hungersnöte, an Zwangsumsiedlungen und Deportationen, an das Kulakenelend im Osten der Ukraine, an die Zwangssäkularisation der Muslime in den ab 1921 annektierten Gebieten der Sowjetunion, an die Ausplünderung und Zerstörung der Klöster und Kirchen in Russland erinnern. Wenig hilfreich ist es, stets und dogmatisch alle Verbrechen des Kommunismus nur Stalin und dem sogenannten „Stalinismus“ in die Schuhe zu schieben. War etwa Lenin, der höfliche Massenmörder, ein Stalinist? So weit wird und sollte sich niemand versteigen, der sich auch nur oberflächlich mit der russischen Geschichte vertraut gemacht hat!
Hier sollte man viertens auch die zeitliche Abfolge nicht verwischen: Der linke, auf Gewalt, Terror, Massenverbrechen gestützte Kommunismus kam zuerst, er ist das Prius für jede Befassung mit den auf ihn folgenden Massenbewegungen der rechtsnationalistischen, auf Gewalt, Terror, Massenverbrechen gestützten Strömungen in fast allen damals noch nicht kommunistischen Ländern Europas.
Dabei bleibt es selbstverständlich unbenommen, dass es eine nette höfliche Geste ist, wenn man zum Rauchen das Eisenbahnabteil zu verlassen bittet. Nicht alles ist böse, was der höfliche Lenin gesagt und gemacht hat.
„Wir können uns nicht eine Haltung leisten wie die britischen Tories, die eine Renationalisierung anstreben. Für England mag das gehen, aber eine Renationalisierung Deutschlands würden unsere Nachbarn als Abkehr von Europa auffassen. Und dann gilt: Wenn Deutschland anti-europäisch wird, wird der Rest Europas antideutsch.“
In diesen Worten wird gerade der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff in einem sehr klugen, sehr profunden Interview zitiert. Lesenswert!
Und genau das ist die historische Lebenslüge der allermeisten deutschen Europa-Politiker. Sie wenden sich gegen eine von Kritikern der gegenwärtigen EU-Politik, von Kritikern der gegenwärtigen EU-Kommission angeblich betriebene, angeblich drohende „Renationalisierung Deutschlands“, „Renationalisierung Großbritanniens“. Sie fassen die EU demnach ganz offen als Projekt zur Einhegung, letztlich zur Entnationalisierung Deutschlands auf. Die unterschwellige Argumentation ist stets dieselbe: Da Deutschland und nur Deutschland ab dem 28. Juni 1914 so viel Leid, Krieg und politisch motivierten Massenmord über den ganzen Kontinent gebracht habe, müsse man Deutschland endlich entnationalisieren. Nur ein entnationalisiertes Deutschland sei ein gutes Deutschland.
„Was haben sie euch Deutschen denn ins Mittagessen gemischt?“ So fragen mich immer wieder entgeistert meine ausländischen Freundinnen und Freunde.
Grotesk verzerrtes Geschichtsbild, das sich da in den Reden der Politiker ausspricht! Ihnen ist zu entgegnen: Nicht Deutschland, sondern der europäische Kolonialismus, der ab den antifranzösischen Kriegen ab 1806 anwachsende europäische Nationalismus, der europäische Kommunismus, der europäische Sozialismus, der europäische Rassismus, der europäische Faschismus, der europäische Nationalsozialismus, der sowjetisch-europäische Bolschewismus, der europäische Antisemitismus haben unendlich viel Leid, Krieg und Massenmord über Europa und die Welt gebracht. Alle europäischen Nationen waren daran beteiligt, alle haben kräftig auf der einen oder anderen Seite und meist auch auf beiden Seiten mitgemischt. Mit dem einen Unterschied, dass 1945 Deutschland und nur Deutschland als Alleinschuldiger für alles Übel, das ab 1914 geschehen war, dastand, während alle Verbündeten Deutschlands, alle einstigen Mitläufer, Kollaborateure und Vasallen Deutschlands wie etwa der Französische Staat, Rumänien, Italien oder Ungarn plötzlich auf Seiten der Sieger standen oder sich – wie etwa Österreich, Finnland, die Slowakei – als Opfer Deutschlands ausgaben. Die Sowjetunion, alle Verbündeten der Sowjetunion, alle Vasallen der Sowjetunion hingegen nahmen auf der Seite der Sieger Platz. Mit Namen ausgedrückt: Hitler, Pétain, Pater Tiso und Mussolini und alle anderen abgrundtief böse, deshalb: Stalin, Kalinin, Dimitroff und Edvard Benesch e tutti quanti – politische Engel, sehr gute Menschen! Stalin und Lenin und deren Verbündete (und obendrein Mao und Trotzkij) – särr gutt!
Der in Berlin lebende Brite Barnaby Pole drückte das in der letzten Nummer unseres Berliner Stadtmagazins zitty so aus:
„Hitler und die Nazis sind das perfekte Beispiel für den Kampf Gut gegen Böse.“
Zum Mitschreiben: „Hitler und sein Überfall auf Polen böse.“ Richtig. Das sehe ich auch so. „Lenin und sein Gulag und seine Überfälle auf Nachbarstaaten, Stalin und seine Überfälle auf Nachbarstaaten, auf Polen und sein Katyn also gut, sehr gut.“ Falsch! Dieser vorherrschenden Einschätzung kann ich mich als überzeugter Europäer nicht anschließen. Dass die Sowjetunion ab 1921 bis etwa 1980 (Überfall auf das sich islamisierende Afghanistan) eine extrem aggressive, extrem militarisierte Entrechtungs- und Überfallpolitik auf die Nachbarstaaten in Asien und in Osteuropa betrieb, ist außerhalb der Zunft der Osteuropahistoriker unbekannt, wird verleugnet und totgeschwiegen. Ab etwa 1981 jedoch hat die Sowjetunion ihren aggressiven Kurs der militärischen Einhegung der Nachbarstaaten verlassen. Sie konnte ja nicht mehr.
Mit dieser überall aufgetischten Lebenslüge der europäischen Nachkriegsordnung („Deutschland böse, alle Gegner Deutschlands gut, sehr gut“) konnte die kommunistische Sowjetunion ihr riesiges Reich der Unfreiheit über die Ukraine, Polen, Ungarn, Rumänien, Estland, Lettland, Litauen und die Tschechoslowakei hinweg bis ins Herz Europas vorschieben, während der Westen Europas einschließlich der Bundesrepublik Deutschland befreit aufatmete.
Der große Irrtum der Deutschen ist es, wenn die EU als Projekt zur Eindämmung, Einhegung und Entnationalisierung der Deutschen betrieben oder auch nur gedeutet wird. So war es von Schuman, de Gasperi und Adenauer nicht gemeint.
Nirgendwo in den europäischen Bevölkerungen besteht eine ernsthafte Neigung, wesentliche Teile der staatlichen Souveränität an die EU abzutreten – was aber de jure und auch de facto bereits geschehen ist. In keinem anderen Land der Europäischen Union – wirklich in keinem EU-Land – wird die Europäische Union von Vertretern des eigenen politischen Spitzenpersonals als Projekt zur Einhegung oder Entnationalisierung des eigenen Staates (z.B. Frankreichs, Belgiens, Tschechiens, Polens, Italiens, Estlands …) angesehen oder betrieben. Da steht Deutschland und ein Teil der europäischen Macht- und Führungselite derzeit ganz allein auf weiter Flur. Und wie immer, wenn Deutschland ganz allein auf weiter Flur steht, handelt es sich um einen Irrweg.
Die Entnationalisierung Deutschlands ist ein deutscher Sonderweg, die Selbst-Entnationalisierung Deutschlands ist ein deutscher Irrweg.
Ich schaue gerade in diesen Minuten die spannende BBC-Dokumentation auf VOX „Die Geschichte des Menschen“ – hier werden Geschichtsbilder für ca. 500 Millionen Zuschauer weltweit geprägt. Bezeichnend: Die Alleinschuld am 1. Weltkrieg wurde soeben in diesen Minuten wieder einmal Deutschland zugeschrieben. Wider gesicherte historische Einsicht (Christopher Clark Sleepwalkers!) wird allein „Deutschlands Griff zur Weltmacht“ als Auslöser für die größten Katastrophen des 20. Jh. geschildert. Die russische Oktoberrevolution wird hingegen als „erste sozialistische Staatsgründung“ gefeiert. Von den Greueln der Oktoberrevolution, von GULAG, von den zweistellig millionenfachen Massenverbrechen der sowjetischen Kommunisten kein Wort! Deutschland erscheint in dieser BBC-Dokumentation ab 1914 wieder einmal als metaphysisch gezeichnetes Trägervolk des Bösen. Dennoch herausragend gut gemacht! Sehenswert! Aber Deutschland droht 2013/2014 die geschichtspolitische Debatte um Europas Vergangenheit und die Zukunft der EU komplett zu verlieren. Fast alles Übel von 1914 an wird auf die Deutschen abgeladen. Es ist ein völlig einseitiges Geschichtsbild, das stets zu Lasten Deutschlands gemalt wird. Das sollten wir so nicht stehenlassen.
Immer wieder schimmert durch: „Europäer! Die Deutschen waren euer Unglück! Deshalb müssen wir sie vorsorglich binden!“ Dieser Refrain – so falsch er ist – wird dennoch unterschwellig wieder und wieder gesungen.
Mehrfach bezeugte ich in diesem Blog meine tiefe Sympathie für das Herkunftsland meiner väterlichen Vorfahren, das ich mehrfach bereist habe und dessen Sprache ich mir mehr schlecht als recht angeeignet habe: die heutige Tschechische Republik bzw. die frühere Tschechoslowakei.
Aus dem hessischen Hügelland erreicht dieses Blog soeben ein Gastkommentar zum Ausgang der tschechischen Präsidentenwahl. Verfasser ist Prof. Dr. Adolf Hampel. Wir geben den Kommentar unverändert wieder und stellen ihn zur Diskussion:
Der amerikanische Historiker R.M. Douglas stellt in seinem Buch „Ordnungsgemäße Überführung“ fest: „Während die Geschichte der Vertreibungen in Deutschland zu wenig bekannt ist, kann man für den Rest der Welt ohne Übertreibung sagen, dass sie bis heute das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs ist.“ Während die deutschen Regierungen geflissentlich alles tun, dieses Geheimnis zu erhalten, hat der unterlegene tschechische Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg das Tabu um dieses Geheimnis gebrochen, indem er erklärte, dass die Vertreibung der drei Millionen Sudetendeutscher ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Bereits Jan Sokol hatte durch sein Eintreten für die geschichtliche Wahrheit gegenüber seinem Rivalen, dem noch amtierenden Präsidenten Vaclav Klaus, den Kürzeren gezogen.
Karel Schwarzenberg ließ sich durch diese Erfahrung nicht beirren und vertraute auf die Losung der tschechischen Präsidentenflagge „Die Wahrheit siegt.“ Durch seine Kritik an Edvard Benes und dessen Dekrete hat er die Wahl verloren. Wieder einmal in der Tschechischen Geschichte hat mit Milos Zeman die Lüge gesiegt.
Auch nach über 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg findet eine Mehrzahl der Tschechen Gefallen an den antideutschen Attacken beider Präsidenten, Klaus und Zeman. Dahinter verbergen sich Traumata, denen nur schwer beizukommen ist.
Das von Klaus und Zeman repräsentierte kollektive Bewusstsein kann es sich offensichtlich nicht verzeihen, gegen das Naziregime keinen überzeugenden Widerstand geleistet zu haben, obwohl die Tschechoslowakei eine der stärksten Verteidigungslinien Europas und eine gut gerüstete Armee hatte. Der Nachholbedarf an Widerstand war schon eine der Ursachen für die grauenhaften massenhaften Exzesse unmittelbar nach dem Krieg. Die Tschechen müssen damit leben, dass sie es – wie die Deutschen und Österreicher, aber im Unterschied zu Polen, Russen, Franzosen, Italienern und anderen, vor dem Mai 1945 nicht zu einer Partisanenbewegung gegen das Naziregime gebracht haben.-
Durch die Entrechtung und Vertreibung der Sudetendeutschen sollte dieser Nachholbedarf an Widerstand gedeckt werden. Zeman hat dafür eine robuste Erklärung: „Nach dem tschechischen Recht haben viele von ihnen Landesverrat begangen, ein Verbrechen, das nach dem damaligen Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Auch in Friedenszeiten. Wenn sie also vertrieben oder transferiert wurden, war das milder als die Todesstrafe.“
Das Bedenkliche an Zemans politischer Moral ist, dass er nicht nur geschehene Vertreibungen rechtfertigt, sondern Vertreibungen auch heute noch für ein probates Mittel der Politik hält. Er empfiehlt Israel zur Lösung des Palästinenserproblems, das tschechische Modell der Massenvertreibung anzuwenden. Es habe sich zur Lösung der Sudetenfrage bestens bewährt. Die deutschen Regierungen haben sich überraschend schnell damit abgefunden. Nachdem Zeman wieder einmal diese seine politische Moral vorgetragen hatte, besuchte ihn Außenminister Joschka Fischer. Er kam mit der Botschaft zurück: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei waren noch nie so gut wie heute.“ Diese Einschätzung wurde in Folge von Bundeskanzler Schröder und Bundeskanzlerin Merkel nach Besuchen in Prag mehrfach wiederholt.
Viele Pioniere der deutsch-tschechischen Verständigung sind zutiefst enttäuscht. Die Erwartungen, die sie jahrzehntelang bewogen, unter Risiken und Opfern den Kontakt mit tschechischen Demokraten zu suchen und zu pflegen, sind nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht in Erfüllung gegangen. Ihre Erwartungen zielten nicht auf eine Rückgabe von Hab und Gut. Sie wehren sich aber dagegen, dass die Einsicht in die Unumkehrbarkeit der Geschichte zu einer Rechtfertigung vergangener Verbrechen pervertiert wird.
Gerade dazu ermuntern Aussagen und Publikationen der deutschen Regierungen. Im Auftrag des Auswärtigen Amtes wurde 2005 die maßgebliche Informationsschrift für das Ausland in 14 Sprachen „Tatsachen über Deutschland“ veröffentlicht. In 10 Kapiteln werden auf 184 Seiten wichtige Punkte der deutschen Wirklichkeit behandelt. Zur Tatsache von 15 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen begnügt sich die Schrift mit folgender Feststellung: „Die ostelbischen Rittergutsbesitzer, die mehr als jede andere Machtelite zur Zerstörung der Weimarer Republik und zur Machtübertragung an Hitler beigetragen hatten, verloren Grund und Boden“ (S.43).
Besser hätte es Zeman auch nicht sagen können.
Karel Schwarzenberg hat mit seinem mutigen Auftreten im Wahlkampf einen moralischen Sieg nicht nur über Zeman errungen, sondern auch über deutsche Politiker, die aus Ignoranz, Feigheit oder Böswilligkeit Tatsachen über Deutschland verdrehen und verschweigen.
„Wir Schwaben sind ein stolzes Volk„, so konnte man es in den 80er Jahren im Temeschwarer Heimatblatt der in in Rumänien lebenden Deutschen, der „Donauschwaben“ immer wieder lesen. „Wir lassen uns unseren guten Namen nicht zerstören“.
„Die Berliner sollten uns Schwaben dankbar sein!„, so äußerte sich vor wenigen Tagen der Bundesvorsitzende einer politischen Partei, ein stolzer Landwehrkanalschwabe in der BILD gegenüber dem alteingesessenen Pankower Wolfgang Thierse.
„Wir sind mit Stolz Deutsche geworden„, berichtet heute auf Seite 3 der Süddeutschen Zeitung die aus Syrien stammende Deutsche Hajat Abdullah.
„Jetzt bin ich wieder stolz, Deutscher zu sein„, so Konrad Adenauer im Jahr 1946.
„Ich liebe die deutsche Sprache„, schrieb Kübra Gümüsay einmal in der taz.
Für viele unter uns Deutschen, die wir eigentlich kein Verhältnis mehr zur eigenen Nation und zur eigenen Sprache haben oder sie im Euro-Taumel und im Kult der ewig lastenden Schuld eher als etwas zu Überwindendes betrachten, sind derartige Sätze befremdlich. Für viele Deutsche ist deshalb aber auch der polnische, tschechische, österreichische, Schweizer, französische, der holländische, dänische, der russische und vor allem der türkische Nationalstolz eine fremde Welt. Selbst die schlimmsten Massenverbrechen, die diese Völker begangen, mitbegangen oder begünstigt haben, sind kein Grund, den Stolz auf die eigene Nation in Frage zu stellen. Und obwohl es in allen unseren Nachbarländern einen wieder und wieder bezeugten Nationalstolz und auch einen konsolidierten Nationalismus gibt, lösen bei uns Sätze wie etwa „Ich liebe die deutsche Sprache“, „ich bin stolz, Deutsche geworden zu sein“, „ich freue mich, Deutscher zu sein“ bei vielen Deutschen Widerwillen und Abscheu aus. „Wie kann man denn als Neudeutscher eine private Einbürgerungsfeier machen!“
Gerade in Friedrichshain-Kreuzberg gibt es einen rabiaten, gewalttätigen, schwaben- oder besser deutschenfeindlichen Antinationalismus, der in der Revaler Straße seine 50 m lang lesbare Ausprägung gefunden hat. Träger der antideutschen Hetze sind ausnahmslos Deutsche. Sie würden gerne Deutschland auflösen, Deutsch verbieten, alle Deutschlandfahnen verbrennen und eine Art wabernden Internationalismus, mutmaßlich mit Vorrang des Englischen, der alten Sprache des weltumspannenden Kolonialismus einführen. – Man hört heraus: „Nach allem, was die Bundesrepublik Deutschland seit 1949 verbrochen hat, muss dieser Staat bekämpft werden.“ „Abschiebung ist Mord!“, konnte man deutlich bei den deutschen Platz-Besetzern am Mariannenplatz lesen. Ein Staat, der Abschiebungen vornimmt und nicht alle Menschen, die sagen: „Hoppla hier bin ich!“ auf seinem Territorium beherbergt und beköstigt, ist also ein „Mörderstaat“. So lautet ein typischer Spruch dieser antideutschen Bewegung.
Dieser ideologisch verbohrte deutsche Antinationalismus ist etwas zutiefst Deutsches. Er findet sich schon gut belegt seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland. Alles, was deutsch ist und deutsch redet, ist in den Augen der deutschen Antinationalisten schlechter als alles andere. Gottfried August Bürger spießt diese Haltung trefflich auf, indem er vorgibt, seine Münchhausen-Abenteuer aus dem Englischen übersetzt zu haben, weil „Deutschland gegen eigene Verdienste ungerecht ist“.
Die reiche Kultur in deutscher Sprache aus den verschiedenen deutschen Landen, ja die deutsche Sprache selbst wird hier in Deutschland meist unter den Teppich gekehrt oder mehr wie ein abgestelltes Möbelstück vergessen. Doch müsssen wir Deutsche unser Ohr für diese fremde Welt des nationalen Denkens öffnen, wenn wir unsere Nachbarvölker verstehen und annehmen wollen. Einfach alle Nationalisten zu Idioten zu erklären, oder einfach alle national orientierten Parteien wie etwa den Front National, die Neuen Finnen, die NPD, den Vlaams Belang oder die Jobbik-Partei zu verbieten, löst das Problem nicht. Diese Ausmerzung des nationalen Fühlens oder des nationalistischen Denkens kann man in Deutschland versuchen, in Polen, in Rumänien, in Tschechien, in Ungarn, in Griechenland, in England und vor allem in der Türkei wäre es aussichtslos. Man hätte sofort die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich, wenn man das nationale Denken verböte und austriebe. In Polen wird auch da ungerührt von uraltem polnischen Boden gesprochen, wo Jahrhunderte lang nur Sorben und Deutsche lebten. Für die Türken gab’s im Gebiet der heutigen Türkei laut offizieller Lehre eigentlich sowieso immer nur Türken, und Türkisch ist die Muttersprache aller anderen Sprachen. Griechenland, diese stolze Nation, sieht sich von aller Welt verraten und verkauft.
Ich meine: Das nationale Denken wird sich nicht, weder durch deutsches Dekret noch durch EU-Verordnung oder durch Förderung der deutschen antideutschen Volksverhetzer beseitigen lassen. Alle EU-Staaten mit Ausnahme Deutschlands definieren sich in den Köpfen und Herzen der allermeisten Bürger auf absehbare Zeit als Nationalstaaten. Nirgendwo außerhalb Deutschlands sind die Menschen auch nur ansatzweise bereit, den Gedanken der vor allem sprachlich definierten Kulturnation zugunsten einer vorrangigen EU-Identität aufzugeben. Ausschließlich in Deutschland stellen sich Politiker hin und sagen: „Der Europäischen Union geht es schlecht. Wir brauchen deshalb mehr Europäische Union.“ Das wäre im Binnendiskurs aller anderen EU-Länder nahezu undenkbar! Dazu muss man nur die landestypische Presse in einer beliebigen anderen europäischen Sprache lesen oder besser noch einfach mit den Leuten auf der Straße oder im Zug reden.
Dass ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland unter allen EU-Staaten mit großem Abstand das am schwächsten entwickelte, ein von nagenden Selbstzweifeln angekränkeltes Nationalgefühl hat und deshalb keine Führungsrolle haben will, ist eine, wenn auch keineswegs die wesentliche Ursache dafür, dass in der Europäischen Union so vieles im argen liegt.
Lernen wir von Kübra Gümüsay, von Cem Özdemir, von Konrad Adenauer, von Hajat Abdullah, von den redlichen Donauschwaben, von den kreuzbraven Landwehrkanalschwaben, den Neuen Deutschen und den deutschen Spätaussiedlern, dass wir ein grundsätzliches Ja zu Deutschland sagen dürfen!
„Ich bin die Tochter einer aus dem Osten vertriebenen polnischen Mutter“ – „Und ich bin der Sohn eines aus dem Osten vertriebenen deutschen Vaters“. So entspann sich kürzlich ein Gespräch unter strahlend blauem Himmel inmitten der fröhlich zwitschernden Tierwelt eines Zoos, das ich standesgemäß mit einigen polnisch vorgetragenen Zitaten der Satire „Der Elefant“ von Sławomir Mrożek würzte:
Kierownik ogrodu zoologicznego okazał się karierowiczem. Zwierzęta traktował tylko jako szczebel do wybicia się. Nie dbał także o należytą rolę swojej placówki w wychowaniu młodzieży.
Dieses Gespräch mit einer Polin kam mir gestern wieder in den Sinn, als ich las, wie Deutschland mal wieder treuherzig und einfältig damit beschäftigt ist nachzuweisen, dass – so wie in allen Parteien von CDU bis SPD/SED, in Gerichten, in Schulkollegien, in Berufsverbänden – eine bedeutende Zahl von Verbandsfunktionären des BdV auch durch frühere Mitgliedschaften belastet war. Bundestagsvizepräsident Thierse beeilt sich mit seiner Forderung nach einer „nachhaltigen und gründlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte“. Zum wievielten Mal wird diese Forderung erhoben? Und was kann eigentlich an substantiellen Erkenntnissen noch daraus hervorgehen?
Co zburzył ogień Twego gniewu, Boże, łaska Twa odbudować pomoże„. In der alten Stadt Sorau, dem alten Sorbenstädtchen Žarow in der Niederlausitz, lasen wir diesen Spruch in deutscher Sprache hoch oben in der Wölbung der Pfarrkirche. In alten Postkarten, auf alten Bildern ist die Vergangenheit Soraus noch fassbar, etwa in den deutsch geschriebenen Worten einer Postkarte von 1908: „Mit herzlichen Grüßen von Kirchplatz 7“.
Im offiziellen Kirchenführer der Pfarrkirche, dessen Kosten auch die Europäische Union großzügig mitträgt, findet sich weder im polnischen noch im deutschen Teil ein Verweis auf den alten sorbischen Ortsnamen Žarow, geschweige denn auf den deutschen Namen Sorau. Żary, der nach dem Krieg und nach den Vertreibungen der Sorben und Deutschen verordnete neue polnische Name, wird ausschließlich verwendet – ganz im Sinne des Mythos, dass dies uralter polnischer Boden sei.
Es ist hier in Żary genauso wie in Kappadokien in der Türkei, wo ebenfalls nirgendwo an die vertriebenen Griechen erinnert wird und nur noch die griechischen Inschriften in den Felsenkirchen davon erzählen, dass hier im Herzen der heutigen Türkei einst jahrhundertelang blühendes griechisches Leben herrschte.
Ich habe das wieder und wieder bei allen meinen Reisen nach Polen und in die Tschechische Republik erlebt: die ehemals deutsch besiedelten Gebiete erinnern sich offiziell noch fast nicht ihrer früheren Bewohner. Die gewaltsamen Vertreibungen der Sorben, der Juden, der Deutschen, der Polen kommen nicht vor, sind noch kein Bestandteil des Gedächtnisses. Die jahrhundertealte deutsche zivile Vergangenheit in Städten wie Breslau, Troppau, Sorau, Stettin, Königsberg, Riga usw. wird in der deutschen, der polnischen und der tschechischen Öffentlichkeit fast völlig abgedunkelt. In den Städten des ehemaligen deutschen Ostens werden heute von den Nachfolgegesellschaften einige Jahrhunderte deutscher Geschichte nahezu komplett verleugnet. Das entstehende, höchst unvollständige Geschichtsbild ist geprägt von falschem nationalistischem Pathos und Illusionen. Das wird jeder bestätigen, der imstande ist, Polnisch und Tschechisch zu lesen und zu verstehen. Dass hier in den Städten der Niederlausitz bis 1946 einmal Sorben und Deutsche lebten, dass die Mehrheit der Bevölkerung bis 1946 Sorben und Deutsche waren und fast ausschließlich Deutsch sprachen, wird versteckt und verheimlicht. Von den millionenfachen Ausbürgerungen und den Vertreibungen der Bevölkerung in den Jahren 1939 – 1946 wird nicht geredet, sehr viel aber von der angeblichen „Wiedergewinnung des polnischen Bodens“, der vorübergehend, gewissermaßen irrtümlich, „eingedeutscht“ worden sei.
Ich habe mich oft gefragt, warum gerade die deutsche Gesellschaft so unempfindlich ist gegenüber dem Leid, das den polnischen, deutschen, sorbischen Vertriebenen in den Jahren 1939-1946 widerfahren ist, unempfindlich mindestens soweit es die Deutschen betrifft. Warum die Deutschen so gar nichts mehr wissen wollen von den städtischen Zentren in Schlesien, in der Lausitz, in Böhmen und Mähren, die jahrhundertelang deutsch sprachen, deutsch geprägt waren? Wohl etwa deshalb, weil diese heute so lästigen Vertriebenen fast ausschließlich Kinder, Alte und Frauen waren und der ständigen Revanchismus-Beschuldigungen und der wütenden, oft wahnhaft verzerrten Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit überdrüssig sind?
Die heute noch lebenden Vertriebenen, diese damals minderjährigen Kinder, die heute noch lebenden Frauen wollen nichts anderes als in ihren Gefühlen und Erfahrungen angenommen werden. Genau das fehlt, genau das wird ihnen wieder und wieder von maßgeblichen Politikern der deutschen und der polnischen Seite wie etwa Wolfgang Thierse verweigert. Es herrscht ein unausgesprochenes Schweigegelöbnis: Du sollst nicht fragen. Du sollst nicht wissen. DU SOLLST NICHT MITTRAUERN.
Diese nahezu komplette Auslöschung der Erinnerung an die frühere deutsche und sorbische und jüdische Bevölkerung im heutigen Westpolen und auch in Tschechien beginnt schon bei der fast völligen Auslöschung der alten sorbischen, schlesischen und deutschen Ortsnamen.
Es ist insgesamt ein trauriger Befund. Der im Jahr 2004 verstorbene Pfarrer Tadeusz Kleszcz, der den Wiederaufbau der Sorauer Pfarrkirche – freilich ohne Wiederherstellung der originalen deutschen Inschriften – bewirkte, findet einfach keine Ruhe, wie uns die heutigen Bewohner von Żary raunend erzählen: sie berichten, dass er des Nachts umgehe, als wollte er eine Botschaft verkünden.
Ich meine: Solange in Deutschland, Polen und Tschechien eine derartig lückenhafte Erinnerungsunkultur gepflegt wird, kann der Pfarrer Kleszcz keine Ruhe finden. Und darauf, auf dieser Unkultur des Lückengedächtnisses, kann auch keine von den Herzen getragene Europäische Union erwachsen. Der Euro wird es auch nicht schaffen, die Europäer zusammenzuführen. Polen leistet doch ohnehin Hervorragendes in seinem marktwirtschaftlichen Wiederaufbau, der innerhalb des Euro sicher nicht möglich gewesen wäre.
Die echte Versöhnung zwischen Völkern kann nur über das freie, erlösende Wort erfolgen. Sie setzt Ehrlichkeit und Eingeständnis nicht nur der von Deutschen verübten Verbrechen, sondern auch der von anderen Staaten und anderen Völkern verübten und gedeckten Verbrechen voraus. Und dazu gehören die grausamen Vertreibungen von etwa 12 Millionen Deutschen nach dem Ende des 2. Weltkrieges.
Erst kürzlich brachte der amerikanische Historiker R. M. Douglas das Thema in seinem Buch „Orderly and Humane“ wieder auf die Tagesordnung, das Thema der Vertreibungen der Deutschen und Ungarn nach dem 2. Weltkrieg, das er das am besten versteckte Geheimnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts nannte.
Wir Deutschen müssen einsehen lernen, dass wir nicht die absolut zu setzenden Urheber aller Verbrechen in der qualvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind, wie es leider von Deutschen selbst, darunter dem Bundestagsvizepräsidenten Thierse, allzu oft stillschweigend unterstellt wird. Die Deutschen waren und sind nicht allein die erste Ursache des Bösen. Die Geschichte ist ein Elephant! Sie vergisst nicht so leicht, auch wenn betrügerische Zoodirektoren wie der Kierownik in der Satire von Sławomir Mrożek alles tun, um den Zuschauern und der unreifen Jugend etwas vorzugaukeln. Aber dieser Zoodirektor benutzt die Tiere, das Unfertige, Ungebärdige, Umtriebige der Erinnerung nur, um sich selbst seine Karriereaussichten zu verbessern!
Wie lautet nun der verlorene, ursprünglich deutsche Spruch im Gewölbebogen des Lettners der Pfarrkirche von Sorau?
Wie Dein Zornfeur reißet nieder
Deine Gnade bauet wieder
was gebauet/walte drüber
2. Maii: 1684
Literatur:
Stanisław Kowalski: Kościół Farny w Żarach, Żary 2007, hier bsd. S. 23 und 29
Sławomir Mrożek: Słoń. In: Norbert Damerau: Langenscheidts Praktisches Lehrbuch Polnisch, Berlin und München 1967, S. 134ff. [=Lektionen 26-30]
Geschenkter Nachsommer! Heute las ich bei herrlichem Sonnenschein im Prinzenbad die FAZ, vor allem die Wissenschaftsbeilage, Seite N 1, das Interview zum Klimawandel mit Acatech-Präsident Reinhard Hüttl, sowie Seite N4, Gespräch zum Mentalitätswandel des historischen Bewusstseins mit Sir Ian Kershaw und Timothy Snyder.
Eine Botschaft Timothy Snyders darin: Lerne fleißig die Sprachen der östlichen Hälfte Europas, dann kannst auch du bei den staatlich organisierten Hungersnöten in der Ukraine, beim Nationalitätenterror der Kommunisten und beim Holocaust mitreden! Das ist richtig. Wer die originalen, schriftlich dokumentierten Tötungsbefehle der Kommunisten lesen und interpretieren will, muss Russisch können.
Sowohl Snyder als Kershaw tun etwas, was ich in diesem Blog immer wieder eingefordert habe: Sie brechen die einseitige Deutschlandfixierung der neueren Geschichte auf. Sie haben das ganze Bild im Blick, und da zeigt sich, dass nicht nur Deutschland, sondern zahlreiche andere Mächte, insbesondere die Sowjetunion das Antlitz Europas umgewandelt haben. Und vor allem legen sie dar, dass es ab etwa 1930, beginnend im Westen der damaligen Sowjetunion, zu einer Abfolge von staatlich organisierten Pogromen, Vertreibungen und Massenmorden kam, die insgesamt etwa 14 Millionen Opfer forderten – wohlgemerkt außerhalb der Toten, die die zahlreichen zwischenstaatlichen Kriege forderten.
Die Klimadebatte – so scheint mir – wird weiterhin mit gläubiger Inbrunst geführt, zerfällt im Augenblick in gewisse bekenntnishaft organisierte Gemeinden – die Orthodoxen, die Revisionisten, die Leugner, die Fundamentalisten, die Indifferenten, die Ketzer.
Reinhard Hüttl, Fritz Vahrenholt, Hans von Stoch, Wolfgang Cramer, Paul Becker – das sind maßgebliche Namen in der deutschen, teilweise in der weltweit geführten Klimadebatte. Derzeit wird mal wieder heftig gestritten. Wie schlimm ist der Klimawandel, wie unvermeidlich, wie unumkehrbar?
Einigkeit scheint zu herrschen, dass Deutschland kaum unmittelbar vom Klimawandel bedroht ist. Deutschland, die nordischen Länder, Grönland, Kanada, die nördliche Russische Föderation dürften im Gegenteil eher profitieren. Insgesamt dürften mehr Menschen vom Süden in den Norden ziehen als vom Norden in den Süden.
Reinhard Hüttl sagt etwas sehr Tiefschürfendes: „Meine Sorge ist, dass wir den Menschen sagen, wir hätten die Probleme im Griff und bekämen eine heile Welt. Das wird aber auch zu meinem Bedauern nicht geschehen. Es gibt die Hitzeperioden, wir haben die Arten, die einwandern oder aussterben, wir haben neue Krankheiten, wir müssen nachdenken, wie wir uns bestmöglich an die Veränderungen anpassen.“
Das ist die gesamte Klimadebatte in nuce! Ich würde diese Sätze so verstehen:
„Es gibt die Hitzeperioden, wir haben die Arten, die einwandern oder aussterben, wir haben neue Krankheiten, wir müssen nachdenken, wie wir uns bestmöglich an die Veränderungen anpassen.“ Das ist zweifellos richtig. Aber es ist keine alles überragende Bedrohung, sondern eine Herausforderung neben anderen Herausforderungen wie etwa Analphabetismus, Aids, Schulabbrechern, 6000 Verkehrstoten pro Jahr in Deutschland und etwa 800 Mordfällen pro Jahr.
„Meine Sorge ist, dass wir den Menschen sagen, wir hätten die Probleme im Griff und bekämen eine heile Welt.“ Und meine Sorge ist, dass immer wieder Wissenschaftler und Politiker auftreten und behaupten, sie hätten die eine, die riesige, die alles überragende Themenstellung erkannt – wahlweise etwa den Klimawandel, den islamischen Fundamentalismus, le waldsterben, die Staatsverschuldung, den Zerfall der Euro-Zone, die Umweltverschmutzung, die hohe Schulabbrecherquote und und und. Das Herausstreichen einer und nur einer Themenstellung bedeutet allzu oft, dass Ressourcen und Kräfte diesem einen großen überragenden Ziel untergeordnet werden – auf dass eine geheilte Welt errichtet werde.
Ich halte das für gefährliche Hybris, für Machbarkeitswahn, der in Unfreiheit umschlagen kann.
Seit vielen Jahren beobachte ich das beeindruckende Anwachsen der Mahnmale für deutsche Schuld in meinem unmittelbaren Wohnumfeld. Neben dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas wächst auch die Steinwüste der „Topographie des Terrors“ raumgreifend heran, wie das obige Foto belegt. Beide Mahnmale sind absolute Tourismus-Magneten, ich sehe jeden Tag europäische, asiatische und amerikanische Touristen zu den Gedenkstätten der deutschen Schande pilgern. Durchaus denkbar ist es, dass diese Flächen sich nach und nach ausbreiten und schließlich das gesamte Antlitz von Berlins Mitte prägen werden. Den Touristen läuft ein Schauder über den Rücken. Wir können stolz bekennen: Deutschland bekennt sich im Gegensatz zu vielen andern Ländern offen zu seinen mannigfachen Schandtaten. Wir sind, wie uns Timothy Garton Ash bescheinigt hat, die Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung. Es ist, als wollte Deutschland sagen: Völker der Welt, kommt her und seht euch an, was wir euch alles Böse angetan haben.
Einige Male erwähnten wir in diesem Blog die allgemeine Friedensformel, welche ab 1945 tausendfach in Europa ausgegeben wurde und seither fest in die historische DNA eingebaut worden ist:
1) Letztlich kommt alles Übel in Europas Geschichte im 20. Jahrhundert von Deutschland her.
2) Sofern Deutschland diese Allein- oder doch mindestens Hauptschuld anerkennt und in rituellen Bußübungen dafür um Verzeihung bittet, kann Frieden herrschen.
3) Sobald Deutschland – etwa in der Europäischen Union – nur im mindesten irgendwelche Ansprüche als gleichberechtigter Partner oder gar als in Europa führende Wirtschaftsnation erhebt, wird bewusst oder unbewusst auf das Dogma Nummer 1 verwiesen. So beschwor die italienische Zeitung Il giornale bereits Il quarto Reich – Das Vierte Reich – herauf, als Kanzlerin Merkel auf die Einhaltung bestimmter vertraglicher Abmachungen drängte. Ein absoluter Tiefpunkt der antideutschen Meinungsmache.
Helmut Schmidt, der Altkanzler, hat erst jüngst wieder bei Sandra Maischberger darauf verwiesen: „Der Mord an sechs Millionen Juden ist im Unterbewusstsein der europäischen Völker ein so schweres Gewicht, dass es eine Führung durch die Deutschen ausschließt.“
4) Der Holocaust ist das entscheidende Ereignis der deutschen, ja der europäischen Geschichte. Alles, was vorher kam, ist dadurch entwertet. Dieses absolut zu setzende Ereignis begründet für die Deutschen eine negative Geschichtstheologie. Die Deutschen sind somit Trägervolk des absoluten Bösen. Sie werden unablässig von Selbstzweifeln geschüttelt.
5) Deutschland verordnet sich gehorsam daraufhin weitere Lektionen in der Pädagogik der Scham.
Eine ganze Fülle an neuen Erkenntnissen bringt allerdings seit 1990 diese nahezu unumstößlichen Glaubenssätze ins Wanken. Die Archive öffnen sich, Forschungs- und Redeverbote werden gelockert. Die letzten überlebenden Zeitzeugen beginnen ganz andere, von den Lehrsätzen der Friedensformel abweichende Geschichten zu erzählen. Die Völker Europas fangen an, sich der gemeinsamen Verstrickung in die verschiedenen Massenmorde, Vertreibungen und Kriegsgreuel zu erinnern. Insbesondere in Italien, Polen, Tschechien und Russland wird in einem Akt schmerzhafter Selbsterforschung zunehmend erkannt, dass ab 1917 Völkermord, eliminatorischer Massenterror gegen ganze Völker, verbrecherische Angriffskriege, staatlich angeordnete Judenpogrome, Vertreibungen, Konzentrationslagersysteme keine Eigenheit Deutschlands waren, sondern ebenso – und oft sogar früher – in anderen Ländern, in anderen europäischen Staaten geplant, eingeleitet und durchgeführt wurden.
„Hitleristen, Judenfeinde und Stalinisten gab es überall – nicht nur unter Deutschen, sondern auch bei den Polen, in der Ukraine, in Tschechien und Lettland.“ So hörte ich es selbst bereits 1975 aus dem Munde eines überlebenden polnischen Häftlings bei einer Führung im KZ Maidanek. In Polen fördern nun neue Forschungen zutage, dass es während des Kriegs auch zu gemeinsamen deutsch-polnischen Judenpogromen gekommen ist. Das ab 1939 geraubte jüdische Eigentum verblieb nach dem Ende des Krieges in polnischem Besitz. Ein Sammelband unter dem Titel „Inferno of Choices“, empfohlen vom polnischen Außenministerium, berichtet darüber – was naturgemäß die nationalistische Rechte auf den Plan ruft. Darüber referiert Konrad Schuller am 11.08.2012 in der FAZ: „Die Wahrheit schwarz auf weiß.“ Und selbst nach dem Ende des Krieges und nach der Vertreibung der Deutschen kam es in verschiedenen Ländern Mitteleuropas zu weiteren gewaltsamen Pogromen gegen die Juden, wie es aus eigenem Erleben etwa auch der 1929 in der Tschechoslowakei geborene Robert F. Lamberg – seinerseits jüdischer Herkunft – berichtet.
Polnische Kommunisten vollstrecken nach dem Ende des 2. Weltkrieges an polnischen Landsleuten oftmals das, was den Nazis vorher nicht gelang: die grausame Hinrichtung von polnischen Widerstandskämpfern, die sich auch der Nachfolgediktatur der Nationalsozialisten, nämlich der bolschewistischen Terrorherrschaft widersetzen. Emil Pilecki etwa wird nach der Katyn-Methode hingerichtet, wie sie die sowjetische Geheimpolizei hunderttausendfach anwandte: durch Pistolenschuss in den Hinterkopf des Verurteilten. Der Partisanenkrieg gegen die Sowjetrussen dauert nach 1945 in Polen und in den baltischen Ländern, insbesondere in Lettland noch jahrelang. Und diese zahlreichen Bürgerkriege – insbesondere auch in Italien, Spanien und Griechenland – gehören bis heute zu den am besten gehüteten Geheimnissen der europäischen Friedensformel.
Emil Hácha, der letzte tschechoslowakische Ministerpräsident vor dem 2. Weltkrieg, herrschte mit eiserner Faust über seinen Staat und gebärdete sich als willfähriger Scherge des Deutschen Reiches. Seine Truppen und seine Polizei verhafteten und vertrieben 1939 ohne äußeren Druck 20.000 sudetendeutsche Gegner der Nazis und lieferten sie in deutsche Konzentrationslager ein. So berichtet es R. M. Douglas in seiner umfassenden Studie Orderly and Humane: Tschechische Polizisten liefern sudetendeutsche Widerständler an Hitler aus.
Was folgt daraus? Die europäische Friedensformel, wie sie oben faustformelartig skizziert wurde, ist so nicht haltbar. Ich meine, im Laufe der nächsten Jahre wird sie etwa in folgende Richtung gehen:
1) Nicht alles Übel in Europas Geschichte im 20. Jahrhundert kommt von Deutschland her. Zahlreiche europäische Länder beschritten ohne äußeren Druck den Weg der Gewalt und des Terrors. Die erste Häfte des 20. Jahrhunderts war durch eine bis dahin beispiellose Verkettung von staatlichen Massenverbrechen, Vertreibungen, eliminatorischen Verfolgungen, Angriffskriegen und Bürgerkriegen gekennzeichnet. In den Jahren 1933-1953 bildeten sich jedoch Sowjetunion und Deutsches Reich als die beiden entscheidenden Pole der staatlichen Massenverbrechen heraus. Diese beiden Länder versuchten ihre Terrorherrschaft nach und nach auf alle Nachbarländer und den Rest Europas auszudehnen. Die europäische Staatenordnung war etwa ab 1933 entscheidend durch die bipolare Kräfteanordnung zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion bestimmt.
2) Sofern die vielen europäischen Länder aufgrund freier Einsicht ihre Schuld anerkennen und in symbolischen Akten voreinander um Verzeihung bitten, kann echter innerer Frieden herrschen.
3) Deutschland sollte weiterhin sich umfassend zu seiner aus der Vergangenheit herrührenden moralischen Schuld bekennen, aber auch gerade deswegen in der Europäischen Union Ansprüche als politisch gleichberechtigter Partner erheben, die im Einklang mit seinem Gewicht als Europas größter Volkswirtschaft stehen. Mangelnder politischer Gestaltungswille bei den Deutschen ist von Übel.
4) Allen EU-Staaten stehen gerade in dieser jetzigen Krise der EU weitere Lektionen in der Pädagogik der Scham gut zu Gesicht. Gefragt ist dabei nicht der erhobene Zeigefinger, sondern die aufrichtige, wissenschaftlich gestützte Erforschung der eigenen staatlichen Verbrechen, aber auch der Stolz auf die eigenen Großtaten und Leistungen.
Quellen (Auswahl):
Jan Puhl: Gefangener Nummer 4859. SPIEGEL 32/2012, S. 70-71
Konrad Schuller: Die Wahrheit schwarz auf weiß. Streit um Polens Rolle im Holocaust. FAZ, 11.08.2012, S. 5
Robert F. Lamberg: Bootspartie am Acheron. Ein Leben zwischen braunem und rotem Totalitarismus. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2006
Adolf Hampel: Mein langer Weg nach Moskau. Ausgewählte Erinnerungen. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried, 2012 Menschen bei Maischberger. Sendung vom 07.08.2012, ARD
R. M. Douglas: Orderly and Humane: The Expulsion of the Germans after the Second World War. Yale University Press, New Haven&London 2012, hier Amazon-Kindle-Ausgabe, Pos. 396
EWIGER
RUHM
DEN HELDEN.
DIE GEFALLEN IN KÄMPFEN
FÜR UNSERE
SOWJETISCHE
HEIMAT.
Soweit las ich murmelnd-sprachmittelnd an einem kalten Februartag des Jahres 2012 die russische Inschrift auf dem Obelisken des sowjetischen Ehrenfriedhofes in Brandenburg an der Havel.
Zaudernd schritt ich weiter. Dann las ich die entsprechende deutsche Inschrift:
DEN
VEREHRTEN
SÖHNEN
DER
GROSSEN
H IMAT
An dem Unterschied zwischen den beiden Sprachfassungen zeigen sich Unterschiede im Umgang mit der Vergangenheit. Für die Deutschen ist Heimat etwas Unwirkliches geworden. Es fehlt in dem Wort offenbar ein Buchstabe. Sie können das Wort gewissermaßen nicht mehr buchstabieren. Es wird zwar nicht geleugnet, dass von etwa 1000 bis 1933 und von etwa 1945 bis heute auch einiges Gute in Deutschland geschehen sein könnte, jedoch herrscht vielfach die Meinung vor, dass man sich nicht zu Begriffen wie Heimat und Patriotismus bekennen dürfe. „Patriotismus – nein danke!“, so lautet der Button, den die Grüne Jugend gerade jetzt zur EM mit großem Erfolg vertreibt. Nur in Deutschland ist so etwas denkbar.
Mit solchen Reden wie „Patriotismus – nein danke!“ überantwortet man die Deutschen und alle in Deutschland lebenden Migranten auf alle Ewigkeit der ewigen Schande des Nationalsozialismus. Die Grüne Jugend stellt sich gewissermaßen feierlich in den ewigen Dienst des Hitlergedenkens. „Wir alle waren es, wir sind in alle Ewigkeit schuldig.“
Für die Russen hingegen dürfte über den Systemwechsel hinweg der Begriff des Heldischen, der Heimat und des Patriotismus Geltung behalten haben. Der 9. Mai ist der Tag des Sieges, der Tag der Befreiung, die große Parade auf dem Roten Platz ist bis zum heutigen Tag der zentrale Anknüpfungspunkt für russischen Patriotismus, den eigentlich niemand antastet. Was auch immer zwischen 1917 und 1953 geschehen sein mag, am Begriff der russischen Nation, der russischen Heimat halten alle fest. Die Verbrechen der Sowjetunion werden zwar nicht geleugnet, doch werden sie ausschließlich Stalin und dem Stalinismus angelastet. „Wir Russen waren es nicht, es waren alles nur die Stalinisten.“ „Wir Russen haben das Siegen in unseren Genen!“, diese Aussage wurde über einen Wahlkämpfer des Jahres 2012 berichtet, der dann auch die Wahlen mit großen Vorsprung gewann.