Okt 102010
 

Den ganzen gestrigenTag dachte ich an das herrliche, das überragende, das überreiche, das mich zutiefst anrührende Buch „Freedom“ von Jonathan Franzen und hatte auch Gelegenheit, zu ihm und für ihn persönlich auf der Frankfurter Buchmesse zu sprechen.

So war ich leider für alle anderen Bücher dieser Welt und dieser Buchmesse gestern verloren und verbrachte den zweiten, dienstfreien  Teil des Tages statt mit Büchern auf dem internationalen Bildungskongress „Lernende Gesellschaft“ gleich nebenan. Dort traf ich viele interessante Menschen und besuchte zwei Workshops, über die ich stichpunktartig berichten möchte.

Erste Frage also: Haben die Türken Mesut Özil gemobbt durch ihr gellendes Pfeifen?

Mustafa Jannan, Gymnasiallehrer und Verfasser des „Anti-Mobbing-Buches„,  lieferte vier unbestechliche Kriterien für Mobbing überhaupt und also auch für Mobbing im Sport:

1) Es muss ein Kräfteungleichgewicht herrschen. Das Opfer ist allein, fühlt sich einer Übermacht ausgesetzt. Cliquenkämpfe, Raufereien sind kein Mobbing.

2) Mobbing erfolgt wiederholt und mit einer angebbaren Häufigkeit.

3) Mobbing hat eine längere Dauer – es ist kein einmaliges Ereignis.

4) Eine Konfliktlösung aus eigener Kraft ist nicht möglich.

Ich würde zu „Özil vs. 45000 Türken“ sagen:  1) Özil war nicht allein, er fand Unterstützung in der Mannschaft. 2) Das Auspfeifen ist auf das Spiel beschränkt, ein Ende war stets absehbar. 3) Die Konfliktlösung gelang Mesut Özil dadurch, dass er ein Tor schoss und eine brillante Leistung ablieferte, wie ich sie selbst von ihm bisher selten zu sehen bekam. (Das Tor war nur das Sahnehäubchen, seine super Pässe werden mir noch länger im Gedächtrnis bleiben!)

Es war also KEIN MOBBING gegen Özil!

Mustafa Jannan bot gestern höchst konstruktive Konfliktlösungsmuster an: Mobbing muss zum Thema in der Schule gemacht werden. Es muss ans Tageslicht kommen. Nur die SCHULE selbst kann Mobbing verhindern, Mobbing abstellen, Mobbing auflösen.

Die zentrale Figur ist dabei der LEHRER. Er muss Verbündete und Helfer suchen – vor allem unter den anderen Schülern und unter den Elternvertretern (nicht jedoch unter den Eltern des Mobbers und des Mobbing-Opfers selbst).

Der vermittelnde Lehrer (das muss nicht der Klassenlehrer sein) muss zuerst den vertraulichen Kontakt zum Mobbing-Opfer, dann zum Mobber suchen und pflegen. Mit einer guten Beziehungsqualität steht und fällt jeder fruchtbare Umgang mit Mobbing.

Ich stellte die Frage nach dem Mobbing migrantischer Mehrheiten gegen winzige Minderheiten an Berliner Schulen, drang aber damit nicht durch. Meine Frage wurde nicht aufgegriffen – wohl aus Zeitgründen.

Was ergibt sich aus Mustafa Jannans Erkenntnissen zur gegenwärtigen Mobbing-Debatte in Berlin?

Erstens: Die Schulen haben die Karten selbst in der Hand. Ein erhöhter Aufwand an Sozialarbeitern, Psychologen, Streitschlichtern ist – wenn ich Jannan richtig verstehe – nicht nötig.

Zweitens: Die Schulen müssen viel stärker die Identifikation mit sich, also mit der Schule XY pflegen und stärken. „Wir sind hier die Nazim-Hikmet-Schule, wir gehören alle dazu!“

Drittens: Mobbing ist sehr häufig. Etwa 1 von 25 Schülern wird gemobbt.  Die Schulen sollten deshalb eine Anti-Mobbing-Kultur aufbauen. Das ist eine Daueraufgabe.

Ich empfehle meiner gebeutelten Stadt Berlin, Mustafa Jannans Buch zu lesen und ihn auch einmal offiziell nach Berlin einzuladen.

 Posted by at 23:05

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