„Sieh die Gänse, die Fänge …“

 Eigene Gedichte, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für „Sieh die Gänse, die Fänge …“
Aug 082014
 

Am 20. Juli des genannten Jahrs unternahm Gottfried Benner, der am Mehringdamm 38 – also hier in Kreuzberg – seine Hautarztpraxis hat, eine Radtour durch das Märkische Land. Benner, der eine Aversion gegen den Klassizismus Schinkels hat, wählte dennoch Müncheberg als Ausgangspunkt der Fahrt: „Hat man die Müncheberger Marienkirche mit dem wuchtigen, viel zu großen, nach Entwürfen von Schinkel gebauten  Turm einmal hinter sich, fühlt man sich endlich frei von Schinkel“, erklärte der Hautarzt, dessen Spezialgebiet die Psoriase ist. „Drehst du dich um, erkennst du, dass Schinkel im Grunde gar nicht an der Funktion der Gebäude interessiert war – er wollte nur richtig groß, richtig wichtig in die Landschaft hinein zeichnen. Er war ein mittelprächtiger Zeichner, deshalb hat er so viele Zeichnungen hinterlassen“, führte Benner aus, während wir hinter ihm herkeuchten. Benner, der 55 Jahre alte Arzt, der ein Leben lang stets dem Rotwein und den Zigarren zugesprochen hatte, erwies sich zu unserer Überraschung als unbezwinglicher Tourenradler. Wir, die wir doch im Schnitt 10 bis 15 Jahre jünger waren, hatten Mühe, ihm hinterherzustrampeln.

Hart an einem wogenden Sonnenblumenfeld – wir hatten 5 km von Müncheberg schon hinter uns gebracht – hielten wir an, um zu verschnaufen und die Richtigkeit der Analyse Dr. Benners zu prüfen. Als wir uns gerade umgewandt hatten, um den wie eine Landmarke in den Himmel ragenden Turm der Marienkirche zu suchen, da hörten wir plötzlich ein Pfeifen und Rufen über unseren Köpfen: eine Schar wilder Gänse hielt auf uns zu. Die Gänse flogen in Formation in weitem Bogen, drehten dann bei, schienen eine Zeitlang über uns zu schweben und verschwanden dann Richtung Neuhardenberg. Benner war sichtlich angerührt vom Flug der Vögel: „Das ist ein Zeichen, das ist eine Himmelsmarke!“, rief er sibyllinisch aus.  Wider alle Erwartung unterließ er für den gesamten restlichen Tag seine polemischen Spitzen gegen den – wie er zu sagen pflegte – „grotesk überbewerteten Karl Friedrich Schinkel, der einem Watteau nie und nimmer das Wasser reichen konnte“.

Wir merkten: es brütete etwas in Gottfried Benner. Benner war in sich gekehrt. Er heckte etwas aus. Und nach der Mittagspause, die wir unter einer Buche im Schlosspark Neuhardenberg verbrachten – eine Wassermelone konnte unseren Durst nicht stillen – kam Benner mit einem Blatt, vollgekritzelt mit Versen zu uns, und ehe wir uns wieder auf die Sättel schwangen, trug er uns das folgende Gedicht ohne jedes Stocken und fehlerfrei vor:

Sieh die Gänse, die Fänge
Lichts und Ahnung vom Meer,
Welche lauten Gesänge
Treiben sie kreischend her!

Du auch, die lautlos berufen
Und spät ins Gesicht mir gelacht,
Folg mit Augen den Rufen
Meerwärts ans Ende der Nacht.

Wenn S-Bahn-Ringe und Pforten
Durchschritten du hast ohne Scheu
Siehst neue Götterkohorten
Du und bleibst dir doch treu.

Am Fuß der Fürstenthrone
Entziffre die Schrift und die Wand,
Schüttle dein Haar mit der Krone
Gieße den Wein in die Hand

Der Nonnen, wie immer sie hießen,
Die Lehm und Tränen gemischt,
Alles rinnt im Verfließen,
Die Spuren im Kalk sind verwischt.

Stotternd besingst du die Mühlen,
Vom rautigen Wege ein Stück,
Gib weiten Raum den Gefühlen,
Vom Meer ruf die Gänse zurück.

Bild 1: Landschaft bei Müncheberg. Am linken Bildrand: die Marienkirche. Aufnahme vom 20. Juli 2014, 08.59 Uhr

Das hier zitierte Gedicht Gottfried Benns Sieh die Sterne, die Fänge findet sich in abgewandelter, auf die Hälfte gekürzter Form in folgendem Buch: Karl Otto Conrady (Hrsg.): Das große deutsche Gedichtbuch, Athenäum Verlag, Kronberg/Ts. 1977, S. 757

 Posted by at 22:18

Der befremdliche Eichendorff in der Fremde

 Europäisches Lesebuch, Russisches, Sezession, Singen  Kommentare deaktiviert für Der befremdliche Eichendorff in der Fremde
Aug 072014
 

Verteidigung 2014-07-12 12.41.00

 

„Von wem stammt der Text zu dem Lied von Felix Mendelssohn Bartholdy, das Du am Sonntag vormittag zur Klavierbegleitung sangst? In diesen Worten steckt so viel Verqueres, Befremdliches, Schweres und wunderbares Erleichterndes!“

Antwort, o Schwester: Das Gedicht von Eichendorff hat mich ebenfalls befremdet und rührt mich weiterhin befremdlich an. Besonders stark befremdend fiel es mich an, als ich kürzlich, mitten in den hundertjährigen Kiefernwäldern von Nikolina Gora, mit lauter Russen und Ukrainern Fußball spielte. Die russisch-ukrainisch-deutsch-europäischen Amateur-Fußballmanschaften spielten achtsam, fair, ohne den verbissenen Ernst der Politiker auf dem kleinen Kunstrasenfeld. Wir verstanden uns prächtig – die Russen, die Ukrainer, der eine Holländer, der eine hier schreibende Deutsche.

Da draußen aber, stets betrogen, rauschte erbarmungslos die geschäftige Welt, Ost und West überziehen einander wieder einmal gegenseitig mit Sanktionen und mit dem Vorwurf der Lüge, man versucht den jeweils anderen in die Ecke des Foul-Spielers zu stellen. Und draußen rauschte unaufhörlich die Rubljowka. Die Stimme Eichendorffs verhallt ungehört.

Die Musik ist von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Das ist es, das Gedicht von Eichendorff, das ich in Nikolina Gora summte und sang:

Abschied.

O Thäler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt´ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäft´ge Welt,
Schlag‘ noch einmal die Bogen,
Um mich, du grünes Zelt!

Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Daß dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!

Da steht im Wald geschrieben,
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Thun und Lieben
Und was der Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward´s unaussprechlich klar.

Bald werd‘ ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn;
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernst’s Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.

Jospeh von Eichendorff: Abschied. Zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Christian Rößner. S. Fischer Verlag, o.O. 2005, S. 224-225

 Posted by at 18:11

„Der Kinderwunsch darf keine Kostenfrage sein“

 Donna moderna, Entkernung, Geld, Kinder, Konservativ, Mutterschaft  Kommentare deaktiviert für „Der Kinderwunsch darf keine Kostenfrage sein“
Aug 062014
 

2014-05-01 08.43.28

Familienpolitik beginnt bereits vor der Geburt eines Kindes. Die Reproduktionsmedizin leistet viel. Aber sie ist teuer. Die Erfüllung des Kinderwunsches darf keine Kostenfrage sein.“ Diese Aussage stammt von Manuela Schwesig, der amtierenden Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, zitiert hier nach der Süddeutschen Zeitung, Magazin, Nummer 10, 7. März 2014, S. 40.

Wir dürfen das so verstehen: am Geld darf der Kinderwunsch nicht scheitern. Moderne Familienpolitik erfüllt den Frauen den Kinderwunsch, koste es, was es wolle, denn die moderne Politik wird den Frauen genug Geld geben, damit sie sich ihren Wunsch nach einem Kind erfüllen können.

Ein zentrales Heils- und Glücksversprechen der heutigen Fachpolitiker (hier beispielhaft der Bundesfamilienministerin) ist es, dass jeder Wunsch, auch der sehnlichste Wunsch so manchen Paares – der nach einem Kind – erfüllt werden kann.  Die wohltätige Politik durchdringt von vor der Zeugung an alle Lebensbereiche, der Bürger braucht gewissermaßen nur seine Ansprüche anzumelden und die Hand hinzuhalten. „Ach, wenn wir nur ein Kind hätten“, seufzte die Königin bei den Gebrüdern Grimm noch. Heute dagegen ist dieser Märchenwunsch Wahrheit geworden, denn wir haben ja die Familienpolitik und die Reproduktionsmedizin – und Geld in Hülle und Fülle.

„Sicherheit und ein stabiler Euro. So will ich Europa.“ Mit diesen und verwandten Wahlsprüchen errang die derzeit am erfolgreichsten beworbene Partei, die CDU, einen großartigen Wahlsieg. Betrachte das Bild genau: Du siehst eine junge, selbständige Frau, die voller Tatkraft aus dem Innenraum der Wohnung hinaus ins Berufsleben tritt. Das  Kind hockt wie ein Attribut auf der Hüfte der Frau, hindert sie nicht, erringt aber auch nicht die Aufmerksamkeit der Frau. Die Frau und das Kind wissen sich in Sicherheit. Der stabile Euro sichert den Rahmen. Europa ist sicher, denn der Euro ist stabil. Statt der veralteten Familie früheren Typs, bestehend aus Vater, Mutter, Kindern,  spannt die moderne Politik das zentrale Heils- und Sicherheitsversprechen auf: Europa und der Euro sorgen für euch alle. Der Euro, Europa, die Politik sichern Frieden, Wohlstand, Sorglosigkeit.

Auch hier, bei der äußerst erfolgreichen CDU, trifft die Politik sehr weitreichende, bis ins Privateste hineinreichende Versprechungen. Der Mensch braucht sich kaum mehr anzustrengen, die Politik sichert durch das Geld, durch den Euro, Stabilität und Sicherheit im Leben von Frau und Kind. Das männliche Element der früheren Ikonographie, der Mann, der Familienvater wurde ersetzt durch den Euro. Der Euro ist das Wichtigste, die Währung sichert Einheit und Geborgenheit.

Die Politik – ob nun Familienpolitik oder Finanzpolitik im Zeichen des Euro – hat die interpersonellen Bezüge, das tägliche mühselige Ringen um Einkommen, um Zusammenhalt der Familie, das harte Arbeiten von Weib und Mann für den Lebensunterhalt und die Erziehung der Kinder, wie es jahrtausendelang den Alltag der Familien prägte, ersetzt. Man muss nur das Kreuzchen an der richtigen Stelle machen.

Die Politik und ihre Reklame verspricht die Erfüllung jedes Kinderwunsches, jedes kindlichen Wunsches. Der Euro sichert im Zeichen  des „Ich will es so“ Stabilität, Frieden und Geborgenheit für alle. Ohne Sorge – sei ohne Sorge, wie es in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“ so schön heißt.

Merke auf: Zwei subtile Botschaften, die die Politik Tag um Tag auf uns unmündige Bürger niedergehen lässt. Wir brauchen diesen Botschaften nur zu vertrauen. Ohne Sorge – sei ohne Sorge.

Bild: “Sicherheit und ein stabiler Euro. So will ich Europa.” Wahlplakat in Eisenach am Fuße der Wartburg, aufgenommen am 1. Mai 2014.

 Posted by at 19:13

Kann es nach Art. 20 (2) u. (4) GG ein Widerstandsrecht gegen EU-Recht geben?

 Europäische Union  Kommentare deaktiviert für Kann es nach Art. 20 (2) u. (4) GG ein Widerstandsrecht gegen EU-Recht geben?
Aug 052014
 

Das Gezerre um die vom Bundesverkehrsministerium geplante PKW-Maut, die laut dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gegen  EU-Recht verstieße, wirft erneut ein drängendes Problem auf – nämlich die nach dem Verhältnis von EU-Recht und Bundesrecht.

Schnell wird man mit dem Vorwurf des „Populismus“ oder der „Europa-Feindschaft“ überzogen, sobald man auch nur im mindesten den institutionellen Aufbau und die juristische Legitimität der EU-Konstruktion in Zweifel zieht. Bundespräsident Roman Herzog hat aber genau dies getan.  Er forderte „Abwehrrechte“ des Bundestages gegenüber der EU.

Gibt es ein echtes Abwehrrecht des Bundes gegenüber dem EU-Recht?

Nein! Grundsätzlich ist jeder EU-Staat zur „Umsetzung“ der EU-Rechtsakte, z.B. der berühmten „Richtlinien“ verpflichtet. Nur dann, wenn EU-Recht gegen EU-Normen verstößt, also etwa die vertraglich vereinbarten Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten gemäß dem Subsidiaritätsprinzip in unzulässiger Weise berührt, kann es vor europäischen Gerichten auf dem Wege der Normenkontrollklage angefochten werden. Der Mitgliedstaat kann sagen: „Diesen oder jenen europäischen Rechtsakt kann ich nicht umsetzen, da er nach meiner Auffassung gegen europäisches Recht verstößt.“  Dem Staat steht dann das Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof offen (vgl. GG Art. 23, 1a). Er hat aber kein echtes „Abwehrrecht“ gegen das EU-Recht. In diesem Sinn muss man wohl  sagen: EU-Recht bricht Bundesrecht, so wie Bundesrecht Landesrecht bricht (Art. 31 GG).

Eine heikle Lage, die Bundespräsident Roman Herzog kürzlich in seinem Brief an Bundeskanzlerin Merkel zu recht als kritikwürdig  dargestellt hat.

Denn der EU kommt – so meine ich – nicht derselbe legislative Rang wie der Bundesrepublik Deutschland zu.

So schreibt Art. 20 (2) GG beispielsweise die Trennung der staatlichen Gewalten in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung vor. Diese Gewaltenteilung der klassischen Verfassungslehre kann sogar besonders hohen Geltungsrang beanspruchen, da Art. 20 (4)  GG sie ausdrücklich mit einem „Widerstandsrecht“ aller Deutschen bewehrt.

Nun ist aber im Regelwerk der EU dieser Kernbestand der Gewaltenteilung nicht vollkommen durchgeführt. Vielmehr gilt die Kommission der EU – also eine von der Exekutive der Mitgliedsstaaten benannte EU-Behörde – als der eigentliche legislative Apparat. Selbst die Fachleute sind sich nicht einig, ob die EU-Kommission, also die Hauptquelle der Setzung europäischen Rechts, eher der Exekutive oder der Legislative zuzurechnen ist.

Widerspricht also die Verfahrensweise der EU, wie sie im Vertrag von Lissabon vereinbart ist,  den Staatsstrukturprinzipen  des Verfassungsrechtes, wie sie in Art. 20 GG niedergelegt und mit einer „Ewigkeitsgarantie“ versehen sind? Ich persönlich würde darauf mit einem eingeschränkten Ja antworten.

Das EU-Recht steht meines Erachtens nicht in vollem Einklang mit den Grundsätzen des Verfassungsrechtes der Bundesrepublik Deutschland, da es die vorgeschriebene Gewaltentrennung nur unvollständig durchführt. Unvollständige Gewaltentrennung ist wiederum gemäß der heute weitgehend anerkannten Verfassungslehre – etwa eines Montesquieu – das Ende der Freiheit oder Hauptquelle von Unfreiheit.

Das EU-Recht ist also in diesem Punkt nicht so sehr mit einem Demokratiedefizit als vielmehr mit einem Legitimitätsdefizit behaftet.

Die Frage, ob „allen Deutschen“, also nicht nur den staatlichen Organen der Bundesrepublik, im Extremfall ein Widerstandsrecht gem. Art 20 (4) gegenüber der EU zustünde, ist keineswegs einfach zu beantworten. Dabei kommt dieser Frage mehr als nur theoretische Bedeutung zu. Man denke nur an militärische Aggressionen gegenüber Drittstaaten, also etwa an die Bombardements in Libyen und anderen afrikanischen Staaten durch die EU-Mitgliedsstaaten Großbritannien und Frankreich.

Sollte etwa die EU in der Zukunft im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) derartige präventive oder unterstützende Schläge gegen amtierende Regierungen in Drittstaaten anordnen, würde sich die Frage der verfassungsrechtlichen Legitimität der EU sofort viel brennender stellen als etwa jetzt bei der relativ unwichtigen Frage der EU-Kompatibilität der PKW-Maut.

 

 Posted by at 17:00

Der Lichtgesang des lachenden Engels

 Freude, Liebe  Kommentare deaktiviert für Der Lichtgesang des lachenden Engels
Aug 042014
 

Beim Betrachten mir zugesandter Post fällt mir heute der Lachende Engel aus dem Ostchor des Bamberger Doms in die Hände. Mir ist, als wollte hier der Engel in ein Zwiegespräch mit einem unbestimmten Gegenüber eintreten.

Wer mochte dieses Gegenüber des Engels sein – ein noch zu findendes Du, ein anderes Ich, ein anderes Dich – ein Dichter?

Am ehesten hat wohl Eduard Mörike den unvergleichlichen Schmelz, den bannenden Reiz solcher Begegnungen mit einem engelartigen Wesen eingefangen:

Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt,
Mich stumm an deinem heilgen Wert vergnüge,
Dann hör‘ ich recht die leisen Atemzüge
Des Engels, welcher sich in dir verhüllt,

Und ein erstaunt, ein fragend Lächeln quillt
Auf meinem Mund, ob mich kein Traum betrüge,
Daß nun in dir, zu ewiger Genüge,
Mein kühnster Wunsch, mein einziger, sich erfüllt?

Von Tiefe dann zu Tiefen stürzt mein Sinn,
Ich höre aus der Gottheit nächt’ger Ferne
Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen.

Betäubt kehr ich den Blick nach oben hin,
Zum Himmel auf – da lächeln alle Sterne;
Ich kniee, ihrem Lichtgesang zu lauschen.

Quelle:
Eduard Mörike: An die Geliebte. In: Eduard Mörike. Werke. Herausgegeben von Hannsludwig Geiger. Deutsche Buch-Gemeinschaft. Berlin, Darmstadt, Wien 1961, S. 110-111

 Posted by at 21:39

Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?

 Frau und Mann, Integration durch Kultur?, Katharina, Krieg und Frieden, Russisches, Sprachenvielfalt, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?
Aug 042014
 

Meine lieben Russen sagen dies, meine lieben Ukrainer sagen das. Dies oder das – wer weiß da noch, wer recht hat? Vielleicht beide, oder? Ich würde sagen: Versöhnt euch lächelnd und lachend, o ihr Russen, und o ihr Ukrainer.

War Mikola Gogol bzw. Nikolai Gogol eigentlich Russe oder Ukrainer? Eine endlos zu diskutierende Frage! Ich selber halte mich bedeckt dazu. Wer bin ich, dass ich darüber urteilen könnte? Ein bayerisches Nichts, ein schwäbischer Niemand!

Der große ukrainisch-russische Schriftsteller schrieb seine Werke auf Russisch und zollte nichtsdestotrotz lebenslang seiner ukrainischen Herkunft dankbar lächelnd oder auch laut lachend Tribut. Und über die Missstände im russischen Riesenreich schrieb er – Bände. Der Revisor ist eine einzige lachhafte Anklageschrift gegen Duckmäusertum, Passivität, Spiegelfechterei und blinde Unterwerfung gegenüber den Autoritäten des riesigen Reiches.

Ukrainer oder Russe? S’ist unerfindlich, wie es Nathan der Weise  in Lessings Nathan dem Weisen sagt. In jedem Fall – ich erinnere mich einer sehr unterhaltsamen Puppentheater-Aufführung seiner „Schuhe der Zarin oder die Nacht vor Weihnachten“ – die wir vor einigen Jahren zur Weihnachtszeit in Moskau belachten.

Bullernde Wärme herrschte drinnen in der guten Stube im tiefverschneiten knackig-frostigen russisch-ukrainischen Winter. Deutlich hörte ich den strengen deutschen Akzent heraus, mit dem die Zarin Katharina die Große sich zum Thema Schuhe äußerte. Die FRAU und die Welt der SCHUHE – ein endloses, für Männer kaum eindeutig zu entwirrendes Drama. Hat Gogol das ganze Drama je durchschaut? Ich bezweifle dies sehr. Den ukrainischen Akzent des Schmieds hörte ich damals noch nicht heraus, meine bayrisch-schwäbischen (oder deutschen?) Ohren waren vollauf beschäftigt, der verworrenen Handlung in dem ukrainischen Dorf mehr oder minder vollständig zu folgen. Eher minder. Aber es war verteufelt, der Teufel steckte noch im kleinsten Detail.

Ich denke – niemand hindert die Russen und die Ukrainer daran, sich gemeinsam lachend über ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu freuen. Große Schriftsteller können Brücken schlagen.

 

 

 

 Posted by at 15:47

Bardierter Wildfasan – nur etwas für kalte Tage?

 Kochen  Kommentare deaktiviert für Bardierter Wildfasan – nur etwas für kalte Tage?
Aug 032014
 

2014-08-02 18.34.50

„Il est clair que sur un sujet ou sur un autre, ça va barder“ – so zitierte am 31. Juli 2014 auf S. 9 die Zeitung Le Monde den VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh in perfektem Französisch. „Es ist klar, dass es beim einen oder anderen Thema krachen wird“. „Barder„, ein umgangssprachlicher Ausdruck, den nicht jeder Nichtfranzose kennt. Irgendwas Unangenehmes ist da im Busch! Wenn es gleich bardiert, sollte man auf dem Quivive sein! 

Was aber bedeutet bardieren auf Deutsch? Was bedeutet: „Bardieren Sie den Fasan mit einigen Streifen Speck“? Das wollte ich wissen. Und genau das, dieses „Bardieren“ hab ich gestern gemacht. Ich wusch den schottischen wilden Fasan innen und außen, würzte ihn mit Salz und Pfeffer, bardierte bzw. umwickelte seine Brust mit Tiroler Speck und Bindfaden, erhitzte Öl und Butter in einem Bräter, briet den Fasan scharf an und ließ ihn dann bei 220 °C zu Ende braten.

In der Zwischenzeit halbierte ich schwarze Trauben, erhitzte Butter in einer Kasserolle, dünstete die Trauben kurz an, bestäubte sie mit Puderzucker und löschte sie mit etwas Rotwein ab. Den Bratensatz löschte ich dann mit Brühe ab.

Abschließend tranchierte ich den Fasan und reichte ihn zusammen mit der Sauce und den glasierten Trauben. Dazu reichte ich warmes Rotkohlgemüse und Gnocchi. Wir tranken einen lieblichen 2012er Erben Spätburgunder dazu. Mir wurde ganz warm ums Herz. Aller Zank und Hader der geschäftgen Welt da draußen war vergessen.

Triumph! Trotz einiger vorher zu hörender Unkenrufe, Fasan sei eigentlich ein Winteressen, konnte dieses Gericht uns auch an einem der schwülsten und heißesten Kreuzberger Tage glücklich machen.

Bild: das Endergebnis meiner Bemühungen um den bardierten Fasan. Es hat uns  vortrefflich gemundet.

 

 Posted by at 22:34

Gewalt zeugt Gewalt. Wir sind für die Ukraine gewarnt durch Libyen!

 Flüchtlinge, Krieg und Frieden, Rechtsordnung, Russisches, Staatlichkeit, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für Gewalt zeugt Gewalt. Wir sind für die Ukraine gewarnt durch Libyen!
Aug 012014
 

Eine nötige Gewissenserforschung für die EU leisten einige französische Journalisten angesichts der heutigen Ukraine-Krise. Der Westen hat keinen Anlass, nur mit dem erhobenen Zeigefinger auf die zugegebenermaßen unleugbaren Rechtsbrüche Russlands zu zeigen, sieht doch die Bilanz unserer Seite nicht wesentlich (oder gar nicht) besser aus, wenn wir einmal die militärischen Interventionen der westlichen Demokratien in Drittstaaten in den letzten 10 oder 15 Jahren Revue passieren lassen. Mindestens gilt dies, so meine ich, in den Ländern Libyen, Ägypten, Irak und Syrien. Man kann und soll die militärische Unterstützung der bewaffneten Aufständischen in der Ukraine durch Russland scharf kritisieren, aber gerade dann muss man als Politiker auch bereit sein zur offenen Manöverkritik der Militärinterventionen, mit denen die europäischen Mächte Frankreich und UK sowie die USA versuchten, ihre Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit herbeizuführen.

Mit einem klaren Eingeständnis eigener Fehleinschätzungen zog die Zeitung  Le Monde gestern auf S. 1 eine vernichtende Bilanz der Militäroperationen, mit denen USA, Frankreich und Großbritannien im Jahr 2011 die bewaffneten Aufständischen in Libyen unterstützten. Das gewaltsame Eingreifen der drei führenden westlichen Demokratien im Mittelmeerstaat Libyen hat letztlich zu einer Verschlimmerung der Lage geführt. Gewalt, Massenflucht, Christenvertreibungen, Repression von Minderheiten, wirtschaftlicher Niedergang, Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit sind meist  dás Ergebnis, wenn militärische Gewalt von außen auf militärische Gewalt von innen trifft. Mindestens ist das für Libyen zu konstatieren:

 

Enlèvements, assassinats, mélange fréquent de grand banditisme et de règlements de comptes politiques, le tout entrecoupé de bombardements d’artillerie : les Libyens vivent dans une insécurité croissante. Le rêve d’une Libye tolérante s’est dissipé. A la dictature féroce, tribale, prédatrice qu’était le régime de Kadhafi a succédé le règne des milices – elles aussi prédatrices, tribales et parfaitement étrangères à l’idée même d’un Etat de droit.

Impossible de ne pas poser la question de la pertinence de l’intervention des Etats-Unis, de la France et de la Grande-Bretagne à l’appui de la rébellion de 2011 – intervention que Le Monde a approuvée sans réserve à l’époque. Washington, Paris et Londres ont-ils eu raison de mener cette campagne de bombardements aériens qui a permis aux rebelles de l’emporter sur Kadhafi ?

via En Libye, le naufrage de la révolution.

 Posted by at 21:12

Weißt du auch, was du glaubst?

 Freiheit, Gedächtniskultur, Philosophie  Kommentare deaktiviert für Weißt du auch, was du glaubst?
Aug 012014
 

 

 

Ahornbaum 2014-08-01 08.19.12

 

Der gestrige Beitrag über den Ahornbaum BBB 000241  im Prinzenbad Kreuzberg erfuhr unterschiedlichstes Echo:

„Woher willst du wissen, dass es wirklich dieser Ahorn war, an dem du früher, vor 10 Jahren, Klimmzüge machtest?“, fragte ein Leser.

Antwort: Ich glaube mich zu erinnern, an genau diesem einen Ast in etwa 2,50 m Höhe mit der charakteristischen Krümmung  Klimmzüge gemacht zu haben. Einen Beweis außerhalb der Erinnerung kann ich nicht anbieten.

Ich bitte euch darum, dass ihr mir glaubt. Glauben heißt: der Erinnerung eines anderen, der dir davon erzählt, vertrauen.

„Bäume wachsen schneller als Menschen, wie du richtig sagst. Aber Menschen springen höher als Bäume“, wandte ein anderer ein.

Antwort: Richtig, ein Trost! Wir Menschen können uns vom Boden ablösen; wir sind frei – im Gegensatz zu Bäumen.

„Willst du immer noch wachsen? Bist du nicht schon groß genug?“, schalt mich ein dritter.

Antwort: Nein, ich will nicht mehr wachsen. Ich bescheide mich. Bäume hingegen scheinen viel länger zu wachsen als Menschen.

„Vielleicht fehlt dir der Mut, so hoch zu springen wie früher“, so der Zweifel eines vierten.

Antwort: Das kann ich nicht ausschließen. Möglicherweise ist mir das Risiko zu hoch, nach dem Springen unglücklich aufzuprallen. Früher war ich wagemutiger. Es fehlt bei dieser Aufgabe das letzte Zutrauen in die eigene Kraft, es fehlt auch an den ermunternden Worten von Zuschauern.

Wer weiß, vielleicht würde das Wagnis gelingen, wenn einer dem Morgensportler zuriefe: „Traue Dich, du schaffst es. Ich traue es dir zu.“

Im Zuspruch des Zutrauens wachsen wir oft über uns selbst hinaus, wir wagen den Sprung in die Freiheit des Gelingens. Ohne diesen Zuspruch sammeln wir nicht die berühmten ungeahnten Kräfte. Wir verzagen.

Glauben, Vertrauen in die eigene Freiheit, Zutrauen in die Erinnerung eines anderen, Vertrauen in die erzählte Vergangenheit – das sind die Zutaten, aus denen sich allmählich eine Erinnerungsgemeinschaft bildet.

Wie dem auch sei: Beim Betrachten des herrlichen Ahornbaumes erfasste mich heute morgen ein großes Erstaunen und eine große Freude über den prachtvollen Wuchs dieses kleinen Naturwunders, dessen Werden, Gedeihen und Reifen ich seit vielen Jahren verfolgen darf.

Stiller, gütiger Ahorn BBB 000241, Du breitest über uns deine Arme aus. Du erduldest gnädig unsere Versuche, die Freiheit des Menschen zu erfahren. Danke, Ahorn BBB 000241.

Bild: Der Ahorn BBB 000241 im Prinzenbad, Aufnahme von heute, 08.19 Uhr.

 Posted by at 18:17