Apokalypse, MusikKommentare deaktiviert für The voice that crieth in the wilderness: Gotteserkenntnis im Fleisch
Jan.262019
Prepare ye the way of the Lord: winterliche Landschaft, heute morgen in Schöneberg, als ihr noch schliefet
„… yet in my flesh shall I see God…“ Ich studiere kursorisch mithilfe des Klavierauszuges heute noch einige Arien und Rezitative in Handel’s Messiah ein, ehe ich das Ganze morgen abend im Berliner Kammermusiksaal mit dem Figuralchor miterleben darf.
Yet in my flesh shall I see God. Musikalische Fleischeserkenntnis Gottes! Das ist kühn, das ist erschütternd, das ist die Heiligung des Fleisches im Schreien und Rufen – hier schon, jetzt schon! Händel feiert, er besingt wahrhaftig die Gotteserkenntnis im Fleisch!
Hier treten intimste Empfindungen in aller Öffentlichkeit ans Licht, hier wird das Letzte und das Erste über den Menschen in seiner Welt gesagt und gesungen, hier rafft ein wühlender unruhiger Geist die wehenden Rockschöße der Schöpfung bis in die Naherwartung des Weltenendes. Wer das miterlebt, den ficht das Zittern und Zagen, das Flennen und Klagen der heutigen Weltuntergangspropheten, die in mancherlei Gestalt – heute z.B. als Klima-Apokalyptikerin unter dem Namen Greta – erscheinen, nicht mehr an. Der nahende Weltuntergang wurde schon so oft verkündet und noch öfter abgesagt.
Es ist ja wohl auch kein Zufall, dass Jimi Hendrix und George Frideric Handel Seit an Seit in der Londoner Brook Street 25 wohnten und komponierten bzw. hätten komponieren und wohnen können. Hendrix und Händel, die beiden sind beide Menschen, sind eines Fleisches, unseres Fleisches!
Der Messiah ist großes Theater, mal üppig, mal zähneknirschend verzagt, dann triumphierend, aber immer sehr fleischlich – very very fleshy! Vgl. die Eingangsarie zum dritten Teil des Oratoriums:
I know that my Redeemer liveth, He shall stand at the latter day upon the earth. And tho‘ worms destroy this body, Yet in my flesh shall I see God.
Abschnitt der Inhaltsangabe (fabula) zum Gefesselten Prometheus des Aischylos, unbekannte Entstehungszeit. Enthalten bereits in der ältesten vorhandenen Handschrift, die uns den Gefesselten Prometheus überliefert, dem Codex Mediceus M (Handschrift) aus dem 9./10. Jahrhundert. 2019 durch den hier Schreibenden erneut handschriftlich entnommen der 1972 im englischen Oxford erschienenen Druckausgabe der Tragödien des Aischylos (ed. Denys Page, Oxonii 1972)
Gestern begingen wir den Tag der Handschrift. Anlass, mich ungescheut hier an dich, die Handschrift, zu wenden!
Welche Lust bereitet es mir, nach Jahren des Handschrift-Fastens mit dem Füllfederhalter zu schreiben, die Feder Zeile um Zeile hinwandern zu lassen über das leicht angerauhte Papier meiner Tages-Kladde! Die Mühsal des Kindes nachzuempfinden, das über die harte Schulbank gebeugt mit der Bewegung der Hand sich unauslöschlich einprägt den Schlüssel zum ungeheuren Schatz, den die Menschheit sich mit einer winzigen Anzahl Zeichen geschaffen hat.
Was wären wir ohne dich, o Handschrift! Wir wären unendlich ärmer. Wir stünden vor der Geschichte der letzten 3000 Jahre wie vor den milliardenjahrealten Granitsteinen. Dann gölte, dass –
Gebirgesmasse blieb‘ uns edel-stumm Wir fragten nicht woher und nicht warum.
Wir bissen uns die Zähne am Granitgestein der Vergangenheit aus. Wir hätten keinen Aischylos, keinen Platon, keinen Thukydides, keine Bibel. Keinen Koran, keinen Newton, keine Hildegard von Bingen, keine Sappho, keinen Messiah von Händel mit dem Berliner Figuralchor am kommenden Sonntag um 19.30 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie! Denn komponiert wurde und wird mit der Handschrift. Händel hat so komponiert, Bach auch, Mozart auch.
Wir hätten die Prometheus-Hymne von Goethe nicht. Denn Goethe schrieb sie eines uns unbekannten Tages im Zeitraum ab Oktober 1773 bis vielleicht 1775 von Hand. Gäbe es die Handschrift nicht, hätte Goethe die Prometheus-Hymne mit Sicherheit ganz anders gedichtet. Wir wären um so vieles ärmer! Wir wären um so vieles stummer!
Handschrift, du holde Kunst, In wievielen trüben Stunden, Hab ich durch dich beglückt mich erst empfunden, Aufgerichtet, gewärmt, geborgen! In dich hinein, da flossen alle Sorgen, Du nahmst sie alle auf, du gabst sie weiter, In dir entstand die Himmelsleiter, Durch dich erst sprach zu uns der Raum, In dir gewann Gestalt der Traum. Handschrift, du ew’ge Kunst, du Schenkerin der Menschheit – ich danke dir.
Der oben handschriftlich wiedergegebene griechische Text lautet übersetzt: „Das Bühnenbild der Handlung liegt im Skythenland am Kaukasischen Gebirg; der Chor wiederum wird durch Okeaniden-Nymphen gebildet. Aisch“[ylos?] (Handschrift bricht unvollendet ab)
WanderungenKommentare deaktiviert für 22000 Schritte in die Zukunft hinein
Jan.202019
Blick vom Teufelsberg nach Osten. Heute, 15 Uhr. In der Mitte zu erkennen: der Funkturm, Charlottenburg
Die neue Woche beginnt mit Zuversicht und Erwartungen! Heute führte uns eine mehrstündige Wanderung bei sonnigem Frost von Nikolassee am Ufer des Wannsees entlang durch den Grunewald bis zum „Teufelsberg“, einem Schuttberg, in dem die Trümmer der Vergangenheit liegen. Und von hier aus genossen wir einen weiten Rundblick in die Gegenwart hinein. Der Teufel zeigte sich von seinem hohen Ansitz aus ausgesprochen großzügig, was die Aussicht angeht. Das ist ja seine Art. Die Schrecken der Vergangenheit deckt er einfach zu. 15,7 km legten wir mit 22000 Schritten zurück.
Was mag die Woche bringen? Jede Sekunde bringt uns der Zukunft näher, jede Minute ist Abschied von der Minute der Vergangenheit. Mit dieser Mischung aus Offenheit und Zuversicht beschließe ich diesen Sonntag.
ReligionenKommentare deaktiviert für „Ja, woran muss man denn überhaupt noch glauben?“
Jan.192019
In der Tat, es bleibt ja kein Stein auf dem anderen, wenn man wirklich historisch-kritisch, methodisch geschult an die maßgeblichen Texte des Christentums herangeht. Das ist typisch christlich. Jesus hat es vorgemacht. Alles wird geprüft, alles befragt. Der Apostel Paulus fordert ebenfalls zu diesem beharrlichen Befragen und Diskutieren auf:
πάντα δὲ δοκιμάζετε, τὸ καλὸν κατέχετε,
„Prüfet alles, das Schöne behaltet!“ (1 Thess 5,21). Die Texte der biblischen Bücher sind „Konstrukte“, wie dies Michael Theobald nannte, sie sind etwas Gemachtes, sie stehen in vielfältigem kontextuellem und intertextuellem Zusammenhang. Sie sind keine absolute Wahrheit für alle Zeiten.
Tradition als solche hat keine Legitimität! Darin kommen Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsos überein, die doch beide aus der Tradition ihres Volkes, des Hauses Israel schöpfen.
Und jetzt noch ein Hinweis auf die Sendung „Versöhnt mit den Wurzeln“ mit der Sängerin Miriam Feuersinger, die am 27.01. hier im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie die Sopransoli in Händels Messias übernehmen wird. Ich finde diese Offenheit und Zuwendung, mit der sie spricht, ganz wunderbar, ich bin begeistert davon, ich empfehle wirklich, in dieses Video mal hineinzuschauen. Hier der Link:https://www.youtube.com/watch?v=czexF6ghCXI
Das Schöne in der Musik, im Gesang, in der Kunst, es bekräftigt, es beglaubigt das, was wir glauben – nicht müssen, sondern glauben dürfen.
WanderungenKommentare deaktiviert für Der Absprung von 1,2 Mrd. Jahren Erdgeschichte – ins neue Jahr
Jan.092019
Steinerner Tisch bei den Markgrafensteinen, am ehemaligen Aussichtspunkt in den Rauener Bergen. Alter des Gesteins: ca. 1,2 Mrd. Jahre. Aufnahme vom 30.12.2018Absprung vom steinernen Tisch am ehemaligen Aussichtspunkt bei den Markgrafensteinen in den Rauener Bergen bei Bad Saarow. Die Tischplatte besteht aus 1,2 Mrd. Jahre altem Karlshamn-Granit. Herkunft: Schweden
So beschrieb Fontane genau diese Stelle „Schöne Aussicht“ in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg:
[…] ein sonderbares Granitmobiliar, das mich, auf den ersten Blick wenigstens, an Stonehenge erinnerte, jenen alten Druidenplatz in der Nähe von Salisbury, den man in Kunstatlassen und illustrierten Architekturgeschichten abgebildet findet. Im Quadrat standen vier Steinbänke, dazwischen präsentierte sich ein großer, runder Steintisch, alles aus dem Granitstück gefertigt, das man von dem Stein unten abgesprengt hatte.
Der Wagenplatz, auf dem ich saß, war höher als das Steinmobiliar und gönnte mir einen freieren Umblick. Alles in der Welt aber hat sein Gesetz, und wer auf der »Schönen Aussicht« ist, hat nun mal die Pflicht, sich auf den Steintisch zu stellen, um von ihm aus, und nur von ihm aus, die Landschaft zu mustern. Und so tat ich denn, wie mir geboten, und genoß auch von diesem niedrigeren Standpunkt aus eines immer noch entzückenden Rundblicks, ein weitgespanntes Panorama. Die Dürftigkeiten verschwanden, alles Hübsche drängte sich zusammen, und nach Westen hin traten die Türme Berlins aus einem Nebelschleier hervor.
Gedenktafel und Graffito an der Hauptstraße 155 in Schöneberg, aufgenommen heute
Boah, ist das heute ein unablässig prasselnder, galaktisch sprühender Nebelregen! Nach einem Friseurbesuch pilgere ich passend zu diesem nebelfeuchten spacigen Dunstschwadenwetter einen kurzen Abstecher zur Hauptstraße 155, zu dem Haus, in dem von 1976-78 David Bowie wohnte. Er wurde ja an einem 8. Januar geboren!
Die Immenstädter Autorin Barbara Frey führte mich kürzlich an diese Stelle, als sie auf Forschungsreise in Schöneberg vorbeikam und mich in das Leben und Schaffen Klaus Nomis einführte. Der außerhalb seiner Geburtsstadt sehr bekannte Countertenor Klaus Nomi, der in Immenstadt/Allgäu geboren wurde, in Berlin eine Gesangsausbildung durchlief und oft im Schöneberger Kleist-Casino auftrat, unter anderem mit der berühmten Arie der Dalila aus „Samson et Dalila“, war während seiner New Yorker Jahre (ab 1973) eine wesentliche Anregungsquelle für den 3 Jahre jüngeren David Bowie, der wesentliche Elemente von Nomis Bühnenerscheinung übernahm und produktiv weiterentwickelte. Insbesondere die Bühnenkostüme Nomis dürften maßgeblich die späteren Outfits von Bowie beeinflusst haben, wovon das oben zu sehende Graffito Zeugnis ablegt. Am 24. Januar 2019 veranstaltet das Literaturhaus Allgäu in Immenstadt mit Barbara Frey eine Soirée auf den Spuren Klaus Nomis.
David Bowie – 8.1.1947 London – 10.1.2016 New York City Klaus Nomi – 24.1.1944 Immenstadt – 6.8.1983 New York
Europäische GalerieKommentare deaktiviert für Schwebende Schwere. Jahreszeitenlosigkeit
Jan.052019
Wassily Kandinsky: Schweres Schweben. 1924. Gesehen gestern in der Ausstellung Bestandsaufnahme Gurlitt. Gropius Bau Berlin
Lieber Sohn, draußen dunkelt es schon. Der vorübergehende Schneefall war nur ein Zwischenspiel. Nun herrschen wieder 5 bis 6 Grad, wodurch das Gefühl einer merkwürdigen Jahreszeitenlosigkeit entsteht. Weder herrscht Winter noch leben wir im Herbst, denn keine Blätter fallen mehr von den Bäumen. Der Sommer ist nur eine Erinnerung, und bis zum Frühling dauert es noch eine unermesslich lange Weile. Also ist das Wetter eine einzige Langeweile.
Gestern hatte ich einen freien Tag und besuchte gleich zwei Ausstellungen, die beide sehr fesselnd waren: „Bestandsaufnahme Gurlitt“, eine Übersicht über wertvolle Kunstwerke, die während der Nazizeit ihren Besitzern entwendet wurden und die jetzt ihren rechtmäßigen Eigentümer suchen, und die „Bewegten Zeiten“ – eine üppige Tiefenbohrung über die Früh- und Vorgeschichte des Landes, das wir heute Deutschland nennen.
Am meisten beeindruckt hat mich die Zeichnung „Schweres Schweben“ von Wassily Kandinsky, die er 1924 angefertigt hat. War dankbar, dass man in dieser Ausstellung alles fotografieren darf!
Schwebende Schwere! Morgen, Sonntag, werde ich ab 18.45 Uhr als Geiger an einem Webinar mitwirken. Ich bin gespannt, was daraus wird.
Charles-Joseph Natoire: Die Ruinen des römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, 6. Mai 1760. Kupferstichkabinett Berlin. Gesehen in der Ausstellung: Rendezvous. Die französischen Meisterzeichnungen des Kupferstichkabinetts. Ausstellung von 07.12.2018 bis 03.03.2019
ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. So das Wort Jesu laut Lukas 13,35. Alsogeht euch verloren euer Haus, dürfen wir grobschlächtig übersetzen. Eine Klage über den Verlust des Hauses, in dem sie zu leben glaubten, eine Voraussage über die Zerstörung des Tempels, über das „Ende der Welt, wie sie sie kannten.“ Jesus lebte in der Naherwartung, er glaubte, das Ende der Welt, wie er sie kannte, stehe unmittelbar bevor. Das Ende seines Lebens wurde später von den Überlebenden, die sich zu ihm bekannten, als Vorwegnahme des Endes der Pracht und Herrlichkeit des alten Israel gedeutet, wie es dann als große Katastrophe im Jahr 70 eintrat.
Die Perikope aus dem Lukasevangelium kommt mir immer wieder in den Sinn, sobald ich an den Ruinen der großen Welt vorbeikomme. Nacherleben der verlorenen großen Welt!
Ob es nun der unter Kaiser Titus zerstörte Jerusalemer Tempel oder die Ruinen des Palatinspalastes sind: Die neue Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin bietet reichlich Gelegenheit, dieses Vorher und Nachher zu bestaunen, nachzuerzählen, nachzuerleben.
Große Kunst – wie sie hier an den französischen Meisterzeichnungen zu erfahren ist – geht häufig aus der Erfahrung der Zerstörung des Großen hervor, aus der Erfahrung des Nachher. Sie ist Nachhall eines unersetzlichen Verlustes.
Aber sie, diese Zeichnung, verbürgt auch den Neuanfang. Sie legt Zeugnis davon ab, dass es auch ein Leben nach dem Zeitenbruch gibt. Friedlich weidende Kühe, die melkende Hirtin, nicht zuletzt aber die an einen Flußgott erinnernde, vorne lagernde Gestalt bekunden die Erwartung des Neuanfanges. Es ist, als raunte es uns aus der Zeichnung zu: „Das Leben geht ja weiter.“ Das Göttliche, der Gott ist vielleicht doch nicht ganz tot.
Nur das Haus des Großen, der Tempel des Göttlichen ist verloren, ist verworfen. Unser Haus ist zur Wüste geworden. Wir sind – die Unbehausten. Aber die Erinnerung daran lebt fort. Sie, Mnemosyne, spendet Kraft und schließt uns unter freiem Himmel zur Gedächtnisgemeinschaft zusammen.
EinzigartigkeitenKommentare deaktiviert für Fromme Legenden, felsenfeste Gewissheiten
Jan.022019
Was siehst du auf diesem Foto? Was glaubst Du? Das da hier wurde geschossen am 31.12.2018 tief im Wald… in Saarow Strand.
Ähnlich wie um den symbolischen Ort „Golgatha“, also um die Kreuzigung Christi, also das zentrale, das traumatische, ja das einzigartige Opfer-Ereignis der christlichen Gedächtniskultur, sprießen und ranken sich auch um den symbolischen Ort „Auschwitz“, also um den Holocaust, das z. Zt. zentrale, das traumatische, ja das z. Zt. einzigartige Opfer-Ereignis der z. Zt. herrschenden westeuropäischen verfestigten Gedächtniskultur, soweit diese nicht vom sowjetischen Machbereich erfasst war – liegt doch der ehemals kommunistische Machtbereich gänzlich außerhalb der verfestigten westeuropäischen Gedächtniskultur – zahlreiche Bilder, Sagen, Mythen, Debatten, Diskurse, Metaphern, Tabus und die Tabus verfestigenden Tabubrüche. Zeitzeugenberichte von Erlebenden und Überlebenden werden überwuchert von formierten Meinungen, Fiktionen kriechen eppichartig über die Grabplatten, Romane treten an die Stelle von historischer Forschung. Romanhafte Phantasien greifen umgekehrt in den Bereich der Reportage, der Gedenkzeremonien über. Der Fall Relotius sei nur beispielhaft hierfür genannt.
„Sage nicht, was ist, sondern erzähle die Wahrheit des vermeintlich Erinnerten so, dass du sie erträgst, und dass deine Leser ihr zustimmen!“ Dies scheint der Grundimpuls von Journalisten und Redakteuren wie Relotius zu sein.
Ein gutes Beispiel für diese wechselseitige Befruchtung von Phantasien und Fakten ist auch Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“. So treffend, so passgenau schmiegt sich der Romanschriftsteller in die Grundmuster der westeuropäischen Gedächtniskultur ein, dass man ihm „jedes Wort abnimmt“, so auch die vom Dichter erfundene Behauptung, Walter Hallstein habe seine Antrittsrede auf dem Boden des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz gehalten – eine Behauptung, die mir schon beim ersten Lesen nur als glaubwürdige Phantasie erschien. Se non è vero, è ben trovato, sagt der Italiener: Es könnte stimmen, und wenn es nicht stimmt, so ist es gut gefunden oder auch erfunden.
Auch der Dichter selbst, also der reale Mensch Robert Menasse scheint an seine Erfindungen zu glauben, wie Patrick Bahners heute in der FAZ auf S. 9 unter dem Titel „Menasses Bluff“ nachweist.
Gegenüber diesem metaphern- und tabubewehrten Geflecht vermag nur ernsthafte historische Erkenntnis, das sorgfältige Prüfen und Sichten unterschiedlichster Quellen, unterschiedlichster Wahrnehmungen, unterschiedlichster Zeugen einen Ausweg zu bieten.
Im Falle „Golgatha“ leistet diesen Ausweg in echte Erkenntnis seit fast 300 Jahren die historisch-kritische neutestamentliche Wissenschaft, früher „Leben-Jesu-Forschung“ genannt, also die nicht dogmengebundene, auf allen verfügbaren Quellen gestützte philologische Erforschung aller Berichte über jüdische Messiasse, über Todesarten jüdischer Propheten, über die schändliche Hinrichtung am Kreuz aus jüdischen, christlichen und paganen Quellen, wie sie beispielsweise der Tübinger Gelehrte Michael Theobald vertritt, dessen großartiger Überblicksdarstellung wir am 15. Dezember in Berlin beiwohnten.
Im Falle des symbolartig überhöhten Ortes „Auschwitz“ oder sagen wir besser beim Thema „Genozidale Dynamiken im 20. Jahrhundert“ leistet diesen Dienst die seriöse, weltweit betriebene historische Forschung, die vergleichende Genozidforschung.
Wir sollten Relotius und Menasse dankbar sein, dass sie das Publikum so überzeugend auf den Zusammenhang von Sagen und Geschichten, von geglaubten Geschichten und formierten Geschichtsbildern hingewiesen haben. Beide haben damit der Enttabuisierung von herrschenden Meinungen einen unschätzbaren Dienst erwiesen.
NaturwissenschaftenKommentare deaktiviert für Wo findet man sonst noch so herrliche Borkeninseln?
Jan.012019
Borkeninseln einer älteren Plattenkiefer am Scharmützelsee bei Wendisch Rietz, 31.12.2018
Die märkische Plattenkiefer, ein hier im Wald rings um den Scharmützelsee heimischer Baum, eine Varietät der Waldkiefer (pinus sylvestris), erfreute mich gestern sehr! Diese Varietät kann bis zu 400 Jahre alt werden und ist ausgezeichnet an Klima und Boden dieses Standortes angepasst. Dicht an dicht gefügt sind die passgenau zueinander wachsenden Borkeninseln. Die Krone wirkt ausladender und unregelmäßiger, zugleich auch üppiger als die der Gewöhnlichen Waldkiefer.
Ich sah an Silvester mehrere Buntspechte eifrig an der Borke von Plattenkiefern auf Nahrungssuche hacken und emsig auf und ab klettern. Meine Hand glitt gestern über diese vom Borkenbild der Gemeinen Wald-Kiefer so deutlich abweichende, fast wie genäht anmutende, glatte Borkenoberfläche, wie man sie in märkischen Wäldern ganz selten zu fassen bekommt. Was für ein Unterschied zu der rissig abblätternden, schuppenartig abplatzenden Rinde unserer gewöhnlichen Waldkiefer!
Aber handelt es sich bei der Plattenkiefer wirklich um eine Varietät der Art Pinus sylvestris, oder liegt eine eigene Art vor? Wuchsform, Kronenbild, vor allem aber die Borke weichen so grundsätzlich von der Gewöhnlichen Wald-Kiefer ab, dass ich geneigt bin, die Plattenkiefer für eine eigene biologische Art zu halten. Hierzu scheint der folgende, mir nicht vorliegende Aufsatz Stellung zu nehmen:
Kohlstock, Norbert / Hertel, Heike: Ist die Plattenkiefer eine Besonderheit unter den Kiefern?
NaturwissenschaftenKommentare deaktiviert für Getragen von der Dünung der Zeit
Dez.302018
Die Binnendüne Waltersberge am 30.12.2018
Getragen, gehoben, aufgestiegen auf den Wellenkamm der Zeiten unserer Erde! Während des Saale-Komplex genannten kalten Erdzeitalters, also vor etwa 300.000 bis vor etwa 130.000 Jahren, bedeckte ein wohl bis zu 1000m mächtiger, hin und her wogender Eispanzer diese Gegend am Scharmützelsee. Wir bestiegen heute nach höchst erfreulicher, abwechslungsreicher Wanderung durch die Rauener Berglandschaft die Binnendüne Waltersberge im Ort Storkow.
Hier oben erahnte ich die mächtige, unsere Fassungskraft übersteigende Zeitdauer, die ihrerseits in den etwa 4,7 Milliarden Jahren, seit denen unser Planet Erde besteht, nur einen Wimpernschlag darstellt. Wie winzig ist die Zeitdauer der beiden letzten Tage des Jahres 2018, die wir bei gelinden 4 bis 6 Grad und nur gelegentlich stäubendem Nieselregen gerade erleben dürfen. Wie dankbar bin ich, dies alles erahnen und umspannen zu dürfen!
Feinkörniger Sand wurde aufgeblasen, als sich die gewaltigen Eismassen zurückzogen; es bildeten sich Höhenzüge, Dünen, die wir heute als erstarrte Landschaftswellen mit Fuß und Aug erlebten! Großartig, erhebend, der Geist ward frei, erhob sich und spannte weit seine Flügel aus.
Dieses kleine Foto, aufgenommen am frühen Abend des 2. Weihnachtstages, zeigt die äußerst unscheinbare, kaum zu entdeckende winzige Krippe in der zu dem Zeitpunkt geschlossenen, verdunkelten Paul-Gerhardt-Kirche in Schöneberg. Hier ringen am Rande der Sichtbarkeit drei Menschen um Wege des Erlebens und Überlebens.
Es sind Tage, in denen man in die Höhlungen und Herzkammern des Erlebens, in das Ungeklärte vordringen darf. Somit passt auch eine Sendung zum Thema „Ringen und Kämpfen im Verborgenen“ in diese Zeit, an der fünf befragte Glaubens-Freistil-Ringer, darunter auch der hier Schreibende, Singende, Geigende mitgewirkt haben. Verantwortlich zeichnet die Autorin Stefanie Oswalt.
Hier die offizielle Ankündigung des Senders: Religionen Ringen im Verborgenen Wie sich der Glaube im Leben verändert Von Stefanie Oswalt „Der Glaube ist wie ein Eisberg im Menschen“, sagt Pfarrer Martin Stoelzel aus Berlin. Wie tief ein Mensch in seinem Innersten um Glaubensfragen und Gottesbilder ringt, bleibe meist unsichtbar, meint der evangelische Krankenhausseelsorger, der schon viele Menschen in existenziellen Krisen begleitet hat. An fünf Beispielen wird deutlich, wie sich persönliche Gottesbilder und Glaubensvorstellungen im Laufe des Lebens wandeln können – und wie wichtig für viele Menschen auch heute noch die Auseinandersetzung mit Gott ist.
Mit besten Wünschen für Eure staade Zeit, für eine weiterhin frohe Weihnachtszeit!
Berliner Weihnachtsmänner rollen inmitten der Nacht auf ihren bulligen Bikes für einen guten Zweck über den Potsdamer Platz. Aufnahme vom 15.12.2018
Die zahllosen Legenden, Sagen und Phantasiebilder, welche – ausgehend von der Erzählung des Evangelisten Lukas – die Adventsgeschichte umranken, zeigen die Geburt Jesu nicht als die Geburt eines „großen Mannes“, sondern ganz im Gegenteil als etwas äußerst Unwahrscheinliches, als Geburt fast aus dem Nichts heraus, eine Geburt, die trotz größter Widrigkeiten und hochproblematischer sozialer Umstände doch noch einigermaßen gelang. Und so habe ich mich bei der Planung eines Adventssingens vor vier Wochen auf die Suche in meinen Beständen gemacht, die diese Saite des „fast aus dem Nichts heraus“ zum Klingen bringen sollten, und da ja das Konzert unter dem Leitthema Maria stehen sollte, fand ich acht adventliche Marienlieder im Volksliedton, die tatsächlich „unterwegs“ zu Weihnachten sind und nicht das festliche Ereignis schon zur Unzeit vorwegnehmen, wie es die Supermärkte und Elektronik-Kaufhallen landauf landab zu tun pflegen.
Darunter fand ich auch ein Lied, in dem eine Fehlgeburt oder auch ein früher Kindstod Jesu angedeutet wird. Über Maria, die trotz ihrer Schwangerschaft eine beschwerliche Bergwanderung auf sich genommen hat, wird berichtet, ihr sei dabei Jesus entrissen worden:
„Sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verloren.“
Jesus – fast eine Fehlgeburt? Ein toller, albtraumartiger, zum Wahnsinn neigender Gedanke, der erhebliche Sprengkraft hat und das äußerst Merkwürdige, Sperrige, ja fast Unzumutbare der Adventsgeschichte trefflich einfängt. Und dieses Marienlied, welches Walther Hensel 1919 im Schönhengstgau in Nordmähren aufgezeichnet hat, erzählt, dass das Baby oder der Fötus drei volle Tage lang verloren gegangen war. Verwaist, verlassen, mutterseelenallein, in einer feindlichen Natur, hart am Rand des Todes wird dieses noch nicht geborene oder auch neugeborene Junge geschildert. Das Junge – ich verwende diesen Ausdruck bewusst.
Nebenbei: Auch der Evangelist Lukas – von Beruf wohl Arzt – verwendet in seiner Erzählung von der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth den Ausdruck „das Junge“, τὸ βρέφος, ein griechisches Wort, das für Tierjunges und menschlichen Fötus gleichermaßen verwendet wurde. Er hebt also des Johannes (und Jesu) gewissermaßen animalische Geschöpflichkeit hervor, wenn er sagt: ἐσκίρτησεν τὸ βρέφος ἐν τῇ κοιλίᾳ αὐτῆς, – „das Junge hüpfte in ihrem Bauch“.
Nachstehend der Text des Liedes, wie ich ihn in meiner Quelle fand:
Maria, Maria ging übers Gebirg, so begegnet ihr der heilige Ritter Sankt Jürg. Wo gehst du hin, du heiliges Weib? Du trägst den Herrn Jesum in deinem Leib.
Dort übers Gebirg, dort wehet der Wind, dort sitzet Maria und wieget ihr Kind, sie wiegt’s mit ihrer schneeweißen Hand; so brachten ihr die Engel das Wiegenband.
Maria, Maria war hochgeborn, sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verlorn; sie hat ihn gesucht drei ganze Tag mit weinenden Augen und großer Klag.
Maria, Maria hat ihn wiedergefunden: Er war wohl mit Ruten und Geißeln gebunden; er hat wohl zwei rote Wängelein, das war der Maria ihr Söhnelein!
Quelle:
Inmitten der Nacht. Die Weihnachtsgeschichte im Volkslied. Herausgegeben von Gottfried Wolters. Mit Holzschnitten von Alfred Zacharias. Möseler Verlag, Wolfenbüttel 1957, S. 12