«Не ведали, где мы есть — на небе или на земле». Von der Überzeugunsgkraft des Schönen

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Jan. 072018
 

In der altrussischen Nestorchronik wird erzählt, dass Fürst Wladimir von der Kiewer Rus im Jahr 986 zur Einigung seiner noch ungefestigten Herrschaft für seine slawischen Heiden den passenden Glauben aussuchen ließ. In recht moderner Weise veranstaltete er einen öffentlichen Wettbewerb der Glaubenslehrer; er organisierte Übungen zum „Glauben auf Probe“. Wolgabulgarische Muslime, griechische Philosophen, chasarische Juden, römische und byzantinische Christen wurden zum zweistufigen Bieterverfahren eingeladen.

In der ersten Runde, bei der eine Probepredigt je eines Predigers verlangt wurde, setzte sich kein Bewerber durch. Deshalb war die zweite Runde unerlässlich. Hierzu wurden Fachkommissionen in die jeweiligen Verbreitungsgebiete der Religionen geschickt und um gutachterliche Berichte gebeten. Die Expertise fiel eindeutig aus: Das Alkoholverbot und eine gutachterlich konstatierte Freudlosigkeit brachten das Aus für den Islam. Mangel an Schönheit war das Argument gegen den römisch-katholischen Ritus. Auch das Judentum konnte in der chasarischen Spielart nicht überzeugen. Nur der Gottesdienst in Konstantinopel versetzte die Kommissionmitglieder in Entzücken. Voller Begeisterung erzählten sie:

«Не ведали, где мы есть — на небе или на земле». Wir wissen nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde, denn auf der Erde gibt es so etwas nicht zu sehen und keine solche Schönheit, und wir wissen nicht, wie wir davon erzählen können; wir wissen nur, dass Gott dort beim Menschen verweilt.“

Und so kam es, dass Fürst Wladimir den christlichen Glauben 988 durch die Taufe in byzantinischer Spielart annahm, alle slawischen Götzen in den Fluss werfen ließ und allen Untertanen die Taufe befahl. Bis zum heutigen Tag wird die Gründung der russisch-orthodoxen Kirche auf diese sagenumwobenen Ereignisse zurückgeführt.

In dieser legendenhaften Überlieferung, in der merkwürdigerweise die griechischen Philosophen recht sang- und klanglos ausscheiden, tritt etwas von der ungeheuerlichen Vitalität, aber auch dem kultisch-ekstatischen Grundzug des Christentums ans Tageslicht: die Fähigkeit, alle Sinne anzusprechen und in stärksten, ja berauschend, ja bestechend schönen Erlebnissen das kritische Kommissionsmitglied buchstäblich aus den Angeln zu heben, zu überwältigen und einzunehmen.

Das gilt auch heute. Vor allem die überwältigende Stärke und Schönheit des Gesanges trat ansatzweise beim heutigen Weihnachtsfest der orthodoxen Christenheit erneut hervor. Ich feiere es dieses Jahr in Moskau.

Leider kamen wir in der vergangenen Nacht in die Moskauer Erlöserkathedrale trotz langen Anstehens nicht hinein, da kein Platz mehr in dieser Kirche war. „Die Kirche ist wegen Überfüllung geschlossen.“ So die knappe Ansage der Milizionäre. Man sieht erneut: Der orthodoxe Glaube fasst in Russland Jahr um Jahr stärker Wurzeln, so sehr sich die Kommunisten auch 70 Jahre bemühten, ihn zusammen mit anderen Religionen wie ein Unkraut aus der Erde zu vertilgen.

Und so hörte ich subliminal am heutigen Tag etwas von der rauschhaften, ekstatischen Freude nachklingen, die sicherlich heute Nacht auch in den mehrstündigen Gesängen der Priester, Kantoren und Chöre zu erleben war. Ich ahnte sie nur, diese Gesänge, ich summte sie, ich hörte sie nachschwingen.

Wir schließen mit dem russischen Weihnachtsgruß: С Рождеством!

Bild:
Weihnachtliche Straßenszene in Moskau, Puschkin-Platz, aufgenommen gestern

Lesehinweis:
Zur näheren Bekanntschaft mit den angesprochenen Ereignissen sei hier besonders empfohlen:

Wikipedia-Einträge zur Christianisierung Russlands:
https://ru.wikipedia.org/wiki/Крещение_Руси (russisch)
https://de.wikipedia.org/wiki/Christianisierung_der_Rus

„Испытание веp – Die Christianisierung Russlands“, in: Russland in kleinen Geschichten. Erzählt von Natalija Nossowa. Übersetzt von Gisela und Michael Wachinger. Illustriert von Frieda Wiegand. dtv München, 14. Aufl. 2015, S. 34-37

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Blüht, ihr Rosen rot und weiß!

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Jan. 012018
 

Zwei Rosen fand ich heut am Straßenrand, die eine weiß, die andre rot. Achtlos weggeworfen, lagen sie neben dem ganzen Gemülle aus Böllermüll, Raketensprengköpfen, ausgebrannten Pappkartuschen. Kahle Stümpfe grinsten mich an, den Löchern ausgefallener Zähne ähnelten sie.

Wollt ihr mitkommen?, fragte ich die Rosen rot und weiß. Sie sprachen fein: Sollen wir zum Welken auf die Straße geworfen sein? Nein! Mensch, nimm uns mit!

Ich hob sie auf, trug sie nachhause, schnitt sie an und setzte sie in eine Vase. Damit ging ich auf den Balkon, und siehe: Da waren über Nacht zwei Margeriten frisch aufgeblüht. Die lachten mich an und riefen den Rosen zu: Willkommen bei uns, Schwestern!

Dies war heute mein kleines Neujahrswunder.

Die Rosen rot und weiß schenken länger Freude als die Böller laut und schwarz.

Die Margeriten blühen dann auf, wenn Du es nicht mehr erwartest.

Blühe, du neues Jahr, im Zeichen der Rosen rot und weiß. Lacht uns an, Margeriten, zeigt uns den Weg in ein frohes, zuversichtliches Jahr 2018!

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Die Welt aus dem Lachen des Kindes

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Dez. 262017
 

Singende, klingende Weihnachtsfreude bringt diesen Tag zum Leuchten. In der Hochmeisterkirche und in Sankt Norbert lasse ich mich vom Gesang der Chöre tragen. Und ich trage den schwebenden Gesang mit. Alles ist wohlbereitet. Die Welt wird an diesem Tag vom Kind her gedacht. Sie wird vom Kind her gemacht. Sie wird vom Kind her gelacht.

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An Schwager Kronos: Freude, Goethe, Musik, Singen

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Okt. 082017
 

Schöneberg, d 7 Oktbr 2017. Geselliges, gutes Musizieren im kleinen Kreis guter Menschen! Ich wage mich, auf ausdrückliches Bitten, am Klavier meiner Mutter selig sitzend, gelegentlich aufspringend, erstmals an den Vortrag von Schuberts An Schwager Kronos, freilich nicht im originalen d-moll, sondern in c-moll, wobei ich die Klavierbegleitung eher andeute als getreulich ausführe. Was für ein hochmodernes Gedicht hat Goethe hier geschrieben, hart gefügt, sprunghaft, kraftvoll rasselnd, zwischendrin zärtlich-behutsam innehaltend! Und Schubert drängt das noch einmal deutlich über Goethe hinauslangend ins Tiefste und Höchste hinein. Größte Erschütterung. Glück und Dankbarkeit am Abend.

 

Nachstehend der Text der ältesten überlieferten Fassung aus dem Jahr 1778 in Goethes Handschrift. Schubert hat allerdings den deutlich geglätteten Text der späteren Ausgaben verwendet.

 

AN SCHWAGER KRONOS

In der Postchaise d 10 Oktbr 1774

Spude dich Kronos
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Haudern
Frisch, den holpernden
Stock, Wurzeln, Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!

Nun, schon wieder?
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf.
Auf denn! nicht träge denn!
Strebend und hoffend an.

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll.

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädgens da.
Labe dich – mir auch Mädgen
Diesen schäumenden Trunk
Und den freundlichen Gesundheits Blick.

Ab dann frischer hinab
Sieh die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich Geblendeten, Taumelnden,
In der Hölle nächtliches Tor

Töne Schwager dein Horn
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Die Wiedergabe des Gedichtes erfolgt hier buchstaben-, zeilen- und zeichengetreu in der Fassung der „Ersten Weimarer Gedichtsammlung“, welche Goethe eigenhändig im Jahr 1778 schrieb (Handschrift H2).

Zitiert nach:
Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

Bild: Goethes Arbeitszimmer, Weimar. Im Spiegel Goethes: der hier Schreibende

 

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10 Jahre – fast nur mit fröhlichen lachenden glücklichen Menschen!

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Sep. 262017
 

Heute ist dieses Blogs 10. Jahrestag.

Es begann bescheiden am 26.09.2007 mit Berichten über eine lebhafte Podiumsdiskussion in der Volksbühne, einer musikalischen Danksagung an Simchas Torah von Ernest Bloch, mit fröhlichen lachenden glücklichen Menschen beim Berlin Marathon, streifte so manches nachdenkliche oder kummervolle Feld, hielt aber doch stets den Kopf aufrecht nach vorne gewandt in Zuversicht.

Über Stock und Stein frisch ins Leben hinein, so ging es immer weiter – über bisher 3652 Tage.

Dies ist ein Tag der Danksagung: Dank an Euch alle, die Ihr dies lest und gelesen habt, Dank für Kritik, Rat und Widerspruch!  Dies ist ein Tag, den ich der Freude am Leben widme, und ein Tag, an dem ich mir weiterhin viele fröhliche, lachende, glückliche Menschen aus allen Ländern der Welt wünsche. Traurige, weinende, unglückliche Menschen sind mir ebenfalls willkommen.

Zu den Zahlen:

In diesen 10 Jahren habe ich mehr als 3200 Beiträge veröffentlicht. Online sind davon weiterhin 3112. Im Durchschnitt erschien also pro Tag ungefähr ein Beitrag.  In jedem einzelnen Monat erschienen mehrere Beiträge. Niedrigster Wert: 3 (Monat April 2017). Höchster Wert: 81 (Monat November 2010)

Aktuelle Statistik für die letzten 30 Tage: 

Besucherzahl in den letzten 30 Tagen insgesamt: 7509
Durchschnittliche Besucherzahl pro Tag: 250
Seitenaufrufe in den letzten 30 Tagen: 36717

Die drei in den letzten 30 Tagen am meisten besuchten Beiträge aus all diesen zehn Jahren insgesamt sind übrigens:

http://johanneshampel.online.de/2008/07/25/mitgliederschwund-parteien-sind-weiterhin-ratlos/

„Wie unterscheidet man eigentlich Türken von Arabern?“

Ist „das Christliche“ zugleich „das Konservative?“

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„Auffi gehts! Schaugst waida! Gehts aussi!“

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Sep. 192017
 

23. Mai 2017, Kreuth am Tegernsee, abends.

Gutes, lauschendes, tief einsaugendes Lauschen auf die Landleute beim Viehtrieb in Kreuth! Das ist ja genau die Sprache, die mir in die früheste Kindheit hineinschallte, meiner Mutter Sprache – Bairisch, ein Idiom, dessen ich mich bei meinen gelegentlichen Aufenthalten in meinem Herkunftsland gern auch selbst befleißige.

Vergessen wir nicht, wir sind hier am Tegernsee auf ältestem deutschem Kulturboden. Der älteste erhaltene deutsche Roman überhaupt, der berühmte Ruodlieb – ein lateinisch verfasstes Versepos – stammt aus dem Kloster Tegernsee! Er wurde gut 9 Jahrhunderte vor Thomas Manns Doktor Faustus verfasst, diesem Schicksalsroman, dessen letzte, dramatisch zugespitzte Szenen ebenfalls im oberbayrischen Voralpenland spielen.  Ja, die in Pfeiffering ausgemalten Schlussbilder, der gutmütige Dr. phil. Serenus Zeitblom  hätte sie auch hier ansiedeln können.

Bild: eine Kreuther Ziegenherde am 23. Mai 2017, wenige Momente nach dem Austrieb aus dem Stall. Unsicher taumelnd  tollen die Ziegen umher. Nach der Sicherheit des Stalls, wo ihnen Tag um Tag das Futter gereicht wurde, löst die Freiheit des Graslandes einen rauschartigen Tanz aus. Die Herde bleibt sicherheitshalber vorerst zusammen. Die Herde bietet Schutz angesichts des Neuen, das da kommen mag.

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Von der Freiheit des Absprungs

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Aug. 182017
 

Auf dem Anstieg zum Speikboden, einem bekannten Berg im Ahrntal, bestaune ich in etwa 2200 Meter Höhe gebannt die Vorbereitungen der Gleitschirmflieger. Wie sie sorgfältig ihre wulstförmigen Schirme ausrollen, wieder und wieder die Leinen überprüfen und richtig legen. Wie sie regelmäßig hinüber schauen zum gleichmäßig im Wind flatternden Fähnchen. Eine junge Frau probt wieder und wieder den Anlauf und bricht dann mehrfach ab. Zur gleichen Zeit erheben sich mehrere Flieger geradezu mühelos in die Luft. Erheben? Nein, sie lassen sich fallen, sie gehen ein paar Schritte und lassen sich dann hineinfallen ins Meer der Luft wie ein Schwan sich ins Wasser eines Teiches gleiten lässt, um dann gelassen, sicher und gleichsam mit einem grüßenden Lächeln seine Kreise zu ziehen.

Acht Gleitschirmflieger schweben schon dahin. Nach wenigen Sekunden erreichen sie eine Thermikzone. Jetzt beginnen sie in immer erneut wiederholten Kreisen den Aufstieg. Höher und höher fliegen sie. Sie umrunden uns, sie schauen schon auf uns herab.

Nun hat auch die junge Frau den Absprung geschafft. Sie findet die Freiheit des Absprungs. Aus dem krächzenden Mikrophon ertönt die Stimme ihres Betreuers oder Lehrers. Und schon ruht sie sicher in der Luft, als hätte sie dieses Fliegen, dieses Gleiten, dieses königliche Schwimmen nie lernen müssen.

Ein grandioses Schauspiel, das die Fliegenden mit ihren bunten Schirmen uns bieten! Vergleichbar dem Mobile in einem Kinderzimmer, wo beim Einschlafen bunte Fische hin und her schwimmen.

Ahrntaler Flieger, ich danke Euch!

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SENSATION: Glucke führt ihr Völklein aus! Bächlein rauschen in dem Sand! Unverdroßne Bienenschar fleucht! Weizen wächst mit Gewalt!

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Juli 082017
 

Morgen am Sonntag, dem 9. Juli,  findet um 18.00 Uhr ein kleines sommerliches Konzert in der Kreuzberger Kirche St. Bonifatius, Yorckstraße 88, statt. Es eignet sich besonders auch für Kinder, die allmählich an die Musik herangeführt werden sollen. Ich spiele und singe selbst dabei mit. Auch ihr Lesende seid mir alle willkommen. Besonders freue ich mich auf das Singen des Liedes „Geh aus / mein hertz / und suche freud Jn dieser lieben sommerzeit“. Es hat 15 Strophen!

Mit Gewalt setzte heute der Sommer ein! Der erste Tag, an dem der pralle Sommer zu Mittag in uns alle fährt. Im Hans-Baluschek-Park mache ich Halt und nehme die Blumenwiese auf. Zuhause suche ich die älteste gedruckte Fassung des Evergreens von Paul Gerhardt heraus. Sie lautet so:
1
Geh aus / mein hertz / und suche freud
Jn dieser lieben sommerzeit
An deines Gottes gaben:
Schau an der schönen gärten zier
Vnd siehe / wie sie mir und dir
Sich außgeschmücket haben.

2
Die bäume stehen voller laub /
Das erdreich decket seinen staub
Mit einem grünen kleide
Narcissus und die Tulipan
Die ziehen sich viel schöner an /
Als Salomonis seyde.

3
Die lerche schwingt sich in die luft /
Das täublein fleugt aus seiner kluft /
Und macht sich in die wälder.
Die hochbegabte nachtigal
Ergötzt und füllt mit jhrem schall
Berg / hügel / thal und felder.

4
Die glucke führt ihr völcklein aus /
Der storch baut und bewohnt sein haus /
Das schwälblein speist die jungen /
Der schnelle hirsch / das leichte reh
Ist froh und kömmt aus seiner höh
Ins tiefe graß gesprungen.

5
Die bächlein rauschen in dem sand
Vnd mahlen sich und ihren rand
Mit schattenreichen myrthen:
Die wiesen ligen hart dabey
Und klingen gantz vom lustgeschrey
Der schaf und jhrer hirten.

6
Die unverdroßne bienenschaar
Fleucht hin und her / sucht hie und dar
Jhr edle honigspeise.
Des süssen weinstocks starcker saft
Bringt täglich neue stärck und kraft
Jn seinem schwachen reise.

7
Der weitzen wächset mit gewalt
Darüber jauchzet jung und alt /
Und rühmt die grosse güte
Des / der so überflüssig labt /
Und mit so manchem gut begabt
Das menschliche gemüthe.

8
Ich selbsten kan und mag nicht ruhn:
Des grossen Gottes grosses thun
Erweckt mir alle sinnen /
Jch singe mit / wenn alles singt /
Und lasse was dem Höchsten klingt
Aus meinem hertzen rinnen.

9
Ach denck ich / bist du hier so schön /
Und läßst dus uns so lieblich gehn
Auf dieser armen erden /
Was wil doch wol nach dieser welt
Dort in dem vesten himmelszelt
Vnd güldnem schlosse werden?

10
Welch hohe lust / welch heller schein
Wird wol in Christi garten seyn /
Wie muß es da wol klingen /
Da so viel tausent Seraphim /
Mit unverdroßnem mund und stimm
Jhr Alleluja singen.

11
O wär ich da! o stünd ich schon /
Ach süsser Gott / für deinem thron
Und trüge meine palmen:
So wolt ich nach der Engel weis
Erhöhen deines Namens preis
Mit tausent schönen psalmen.

12
Doch wil ich gleichwol / weil ich noch
Hier trage dieses leibes joch /
Auch nicht gar stille schweigen /
Mein hertze sol sich fort und fort /
An diesem und an allem ort
Zu deinem lobe neigen.

13
Hilf mir und segne meinen Geist
Mit segen / der vom himmel fleußt /
Daß ich dir stetig blühe:
Gib / daß der sommer deiner gnad
In meiner seelen früh und spat
Viel glaubensfrücht erziehe.

14
Mach in mir deinem Geiste raum /
Daß ich dir werd ein guter baum /
Und laß mich wol bekleiben /
Verleihe / daß zu deinem ruhm
Jch deines gartens schöne blum
Vnd pflantze möge bleiben.

15
Erwehle mich zum Paradeis
Vnd laß mich bis zur letzten reis
An leib und seele grünen:
So wil ich dir und deiner Ehr
Allein / und sonsten keinem mehr /
Hier und dort ewig dienen.

Gedruckte Erstfassung hier zitiert nach:
1653. Paul Gerhardt: Sommergesang. Mel. Den Herren meine seel erhebt. In: Gedichte 1600-1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Christian Wagenknecht. [=Epochen der deutschen Lyrik in 10 Bänden. Herausgegeben von Walther Killy. Band 4], 2., verbesserte Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1976, S. 207-209

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Schritte von der Verdachtskultur zur Kultur des Vertrauens

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Juni 102017
 

Die Berliner Landes- und Bezirkspolitik erzeugt parteiübergreifend allzu oft eine Kultur des Verdachts, zum Beispiel indem sie Angst vor Veränderungen schürt, indem sie den Wandel aussperrt, indem sie starr am Vorhandenen festhält. Man gewinnt oft den Eindruck, die paternalistische Politik Berlins wollte das freie Handeln freier Menschen verhindern und traue ihnen nichts zu. Die Verhängung einer Erhaltungsverordnung – gekoppelt mit der Aufforderung an die Bürger, „verdächtige Baumaßnahmen“ zu melden – ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. Allein schon das Wort „Verdachtsgebiet“ spricht Bände! So viel Verzagtheit, so viel Missmut, so viel Angst prägt ein solches Vorgehen, wie man es wieder und wieder im Bundesland Berlin sehen kann! Dabei hat nachweislich eine derartige typisch Berliner Verhinderungspolitik – zu der auch das Verbot privater Ferienwohnungen gehört – das unleugbare Steigen der Mieten weder verhindern noch verlangsamen können; und auch private Investoren ziehen sich zunehmend aus dem Wohnungsbau zurück. Wen wundert’s?

Um so wichtiger war es mir heute, dagegen kräftige Zeichen des Vertrauens aufzunehmen, sobald sie sich bieten würden! Und so geschah es! Angesagt war heute das Ordnen meines reichen Notenbestandes.  Dazu kauften wir ein Regal zum Selberbauen. Ein Möbeltaxi brachte es nachhause. Ich knüpfte ein Gespräch mit dem Fahrer an. Sein Name war Ismael. Sofort stellte sich eine Vertrauensbasis her. Denn Ismael, das ist ja der erstgeborene Sohn Abrahams, gezeugt mit der Magd Hadschar oder auch Hagar, wie sie bei uns meist genannt wird. Wie die meisten anderen biblischen Gestalten auch, so erscheint der Urvater Abraham oft eher schwach, ja zwielichtig. Die Art, wie er Hadschar und den gemeinsamen Sohn Ismael in der Wüste aussetzt, wird schonungslos sowohl in jüdischen wie auch in muslimischen Quellen geschildert: er gibt den Einflüsterungen seiner Erstfrau nach und verstößt Mutter und Sohn in die wasserlose Wüste. Clemens Brentano hat dieses Schicksal sehr ergreifend und voller Mitgefühl besungen:

O Wüste, Traum der Liebe, die verachtet
Vom Haus verstoßen mit der Hagar irrt,
Wo schläft der Quell? da Ismael verschmachtet,
Bis deine Brust ihm eine Amme wird.

Das Fehlverhalten Abrahams wird weder in der Bibel noch im Koran beschönigt. Und doch wird dieser verstoßene Erstling Abrahams zum Stammvater der Muslime weltweit werden, auf den sie sich heute alle noch beziehen! In der wunderbaren Errettung Ismaels aus der wasserlosen Wüste erblicken viele Muslime einen besonderen Gnadenbeweis – „und Gott findet dich…“, wird Brentano in seinem grandiosen Gedicht „Der Traum der Wüste“ dichten.

Nicht überrascht war ich, als auch mein heutiger Ismael berichtete, dass er aus einer mehr oder minder aus dem Land getriebenen Minderheit stamme, nämlich der türkischen Volksgruppe, die bis vor kurzem noch in Bulgarien wohnte. Wir plauderten freundschaftlich über dies und das, und schon bald hatten wir das Ziel erreicht, und ich konnte endlich meinen gesammelten Notenbeständen (Bach, Beethoven und den anderen Gefährten) eine neue, sichere Heimat namens Billy gewähren.

Mein Gespräch und die Taxifahrt mit Ismael bedeutete den Übergang vom Verdachtsgebiet der Berliner Politik  in das Vertrauensgebiet der Berliner Menschen.- Weitere Schritte in das Vertrauensgebiet brachte dann eine kurze Rast in der herrlichen Labungsstätte des Namens Rüyam – „mein Traum“ heißt das auf Türkisch. Und der Wüstentraum manifestierte sich hier als rein pflanzlicher Kebap; eine echte Delikatesse Schönebergs! Die Menschen dort im Rüyam zeigen alle viel Herz – und wer hätte das gedacht? Als hätten sie geahnt, dass wir sehr durstig waren, schenkten sie uns noch zwei Becher Ayran dazu. Einfach so, es gab keinen echten Anlass; es war eine Geste der Menschenfreundschaft.

Und damit ist auch das merkwürdige Erlebnis, durch die Politik plötzlich das eigene Wohngebiet zum „Verdachtsgebiet“ erklärt zu wissen, abgehakt und überwunden! O nein, ihr Politiker, wir leben hier ganz und gar nicht im Verdachtsgebiet, sondern offenkundig in einem Vertrauensgebiet, einem Gebiet der Mitmenschlichkeit und der Menschenfreundschaft.

Brentano, dessen Herz auch für Ismael schlug, klingt hier erneut nach:

Dann wehet Friede,
klingender Lieder
glänzender Lauf,
ringelt sich nieder,
wallet hinauf.

 

 Posted by at 23:04

Die unversiegliche Kraft des alten Neuen. Zum Antritt des Neuen Jahres

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Jan. 022017
 

Groß und stark und zuversichtlich kam das Neue Jahr herauf. Wir begrüßten es im Harz. Zwei Tage vor Silvester bestiegen wir in völliger Dunkelheit den Brocken; dort erschien nach dem ersten farbenprächtigen Präludium des Anstiegs zuerst ein glutroter Fleck in weiter Ferne, ein dunkelrotes Etwas, das sich wie eine glühende Esse zischend und gischtend ausbreitete. Dann erst hob sich der Feuerball vor unseren Augen über den Horizont, bezwingend und unbezwinglich trieb es ihn höher und höher.

Das Neue Jahr beginnt zuversichtlich, stark, mutig, staunend, lächelnd. Der Mut, die Zuversicht, die Stärke, das Staunen, das Lächeln, sind sie alle noch da, die alten Tugenden, die unerschöpflichen, sonnenähnlichen Kraftquellen? Ja, sie sind’s! Wir haben sie auf dem Brocken unversieglich gespürt.

Die Ihr dies lest und seht, möget auch Ihr sie verspüren!

Bild: Sonnenaufgang am Morgen des 30. Dezember 2016, Brocken/Harz

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Ein Herbsttag im Himmelreich, wie wir ihn schon einmal sahen

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Okt. 072016
 

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Aufmerksame Augen haben den Ursprung des letzten poetischen Versuchs, aufgequollen am Rande des Grienericksees, sofort erkannt. Sie weisen darauf hin, daß Friedrich Hebbel den Grundton angab, nachdem wir einige Verse nachgeformt. So sei es dem Leser überlassen zu entscheiden, ob Urbild oder Nachbild hier größeren Eigenwert beanspruchen dürfen.

Unser Bild zeigt eine bei einer Fahrradtour aus dem Waldgebiet Himmelreich zwischen Zootzensee und Großem Wummsee mitgebrachte Aufnahme vom vergangenen Montag, dem Tag der Deutschen Einheit.

Wir versäumen nicht, Hebbels schöne Verse nach einer verlässlichen Neuausgabe zu zitieren:

Herbstbild

Dieß ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als athmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah‘,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dieß ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute lös’t sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Zitiert nach:
Deutsche Gedichte. Herausgegeben von Hans-Joachim Simm, Insel Verlag, 3. Aufl. 2013, S. 719

 

 

 

 

 

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Triefender Herbsttau am Grienericksee. Ein Herbstbild

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Okt. 032016
 

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Ein einzigartiger geschliffener Spiegel des kommenden Tages, das war der Grienericksee heute morgen. Wir fuhren eine Runde um die Seenplatte herum. In hellem Sonnenschein stiegen satt die Gerüche auf in den Buchenwäldern. Ich schnaubte ein, schnoperte, schnaubte und sog ein: den fetten Geruch von Pilzen und Most, von süßem Rotwein und leicht vergorener Aprikose. Trüffelgerüche im triefenden Laub! Den Herbst riechen! Triefender Tau, sattes Laub von mächtigen Buchen! Mühselig klaubte ich aus dem Gedächtnis zusammen ein Gedicht von wem? Ja, von wem?  Doch fiel’s mir nur unvollständig ein. Also schrieb ich es um. Ist es Diebstahl, Plagiat? Was tut es zur Sache? Umschreiben, fortschreiben, nacherleben, wiedererleben. Lese halten, einsammeln, weitergeben! Dabei alle Hebel nutzen! Danke Herbst, danke Friedrich!

Dies war ein Herbsttag, wie ich keinen roch,
Der See lag still, als wehte nie ein Wind,
Und dennoch drohten, kaum zu sehen noch,
Die dicksten Wolken, die wie Schiffe sind.

Uns störte nichts, die Feier der Natur,
Die Atem-Lese, die sie uns geschenkt,
Denn heute stiegen von dem Boden nur
Gerüche, die der Wandrer dankbar fängt.

Fetter blühte die Herbstzeitlose herauf, im hellen Kalk erhob sich der Obelisk, in französischer Sprache besang er die Taten der Generale.

 

Bild: Blick auf den Grienericksee, heute früh

 

 

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Thou dost show…

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Mai 172016
 

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Thou dost show me the path of life /

In thy right hand I find joy without end.

So ungefähr ein Mikhtam von David. Die Verse drängen sich mir auf beim Hinaufschauen auf die Karspitze des Monte Azzaredo. Das plötzliche Hervorbrechen des Lichts im Hochgebirg, wenn die Sonne schon die volle Kraft aufbringt und die Strahlen endlich auch herab hier ins Schattental von Mezzoldo fließen! Schatten der Nacht, verschwinde! Ein Tag des Lichts beginnt. Und dazu gehört auch das knatternde Motorino auf der Straße! Knattere, kleines Motorino, Felsentore, brechet prasselnd auf!

Bild: Blick von Mezzoldo nach Norden auf den Monte Azzaredo (2112 m)

Zitatnachweise: The Bible, The Psalms, Ps 16,11; Ariels Gesang, in: Goethe, Faust II, Erster Akt, Anmutige Gegend, Vers 4669

 Posted by at 08:50