„Straflager Stalins?“

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Aug. 232010
 

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Während der Zeit des Russischen Großen Rauches (6.-13. August 2010) hatte ich im zurückliegenden Datschen-Sommerurlaub reichlich Gelegenheit, Schach zu spielen, Spaghetti alla italiana zu kochen, eigenen Gedanken nachzuhängen und Bücher, etwa den Faust II, zu lesen. So fand ich bei meinen Streifzügen durch die russischen Bibliotheken auch die kompletten Werke Lenins und Stalins, bandweise sorgsam im Schuber verpackt und fingernageldick mit Staub bedeckt. Ein gefundenes Fressen!

Im Bild hier: Der Band 10 der Werke Stalins in der grundsoliden Gesamtausgabe, erschienen Moskau 1951. Man beachte den Fingernagel des hier schreibenden Bloggers in der Nähe der Falzung!

Worum der Mann sich kümmerte – unfassbar! Vom kämpferischen Grußwort zur  Einweihung eines Traktorenwerks im Ural über die Neuregelung der russischen Grammatik bis hin zur Fortschreibung der 5-Jahrespläne – alles hatte der große Führer bedacht.

Aber war Stalin wirklich für alles verantwortlich? Ich hege Zweifel.

Die neuesten russischen Gedenksteine für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft sprechen nicht mehr von „Opfern des Stalinismus“ sondern von „Opfern der Unterdrückung“- Repressja auf Russisch. Die offizielle Zahl der Todesopfer des staatlichen kommunistischen Terrorsystems liegt in der kleinen Ortschaft Nikolina Gora, in der ich wohnte, bei 50. Die offizielle Zahl der Kriegsopfer während des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) hingegen liegt bei 15. Weniger als ein Drittel!

In Russland spricht man seit einigen Jahren nicht mehr so viel von Stalinismus. Denn es ist nunmehr allgemein bekannt, dass die bolschwistische Partei, nachdem sie aus einer absoluten Minderheit heraus handstreichartig die Macht an sich gerissen hatte, von Anfang an alle missliebigen Elemente in Konzentrationslagern internierte und oft standrechtlich eliminierte, also erschoss. Die Kommunisten haben sofort nach ihrem Staatsstreich das System der zaristischen Straflager übernommen, ausgebaut, erheblich erweitert und die Zielgruppen der Verfolgung beliebig ausgedehnt. Lenin, Stalin, Dzherzhinskij und Kalinin waren die entscheidenden Männer beim Aufbau des staatlichen Terrornetzwerks, wobei Stalin zunächst keine beherrschende Rolle zukam.

Ich bin fest überzeugt: Ohne systematische, jahrzehntelang fortgesetzte, massive kriminelle Gewalt hätten sich die Kommunisten niemals in Russland oder anderen europäischen Ländern an der Macht halten können. (Das Gleiche gilt übrigens für die deutschen Nationalsozialisten.) Dieses auf kriminelle Methoden gestützte Straf- und Terrorsystem bestand bereits vor Stalins Machtübernahme, und es verschwand auch nach Stalins Tod 1956 nicht völlig.

Schade, dass in Deutschland immer noch alle Schuld dem Großen Führer in die Schuhe geschoben wird.  So etwa heute wieder in SPIEGEL online, wo es heißt:

„Ich habe doch nichts verbrochen“ – einestages
Zehntausende Deutsche mussten nach dem Krieg in den Straflagern Stalins schuften – auch Jugendliche.

Straflager Stalins? Das wäre etwa so, als wollte man das später nach sowjetischem Vorbild aufgebaute Konzentrationslagersystem Deutschlands (1933-1945) als „Straflager Hitlers“ bezeichnen.

Ich halte diese ständige Schuldzuweisung an eine und nur eine Person für nicht sachgerecht.

Ich würde es so sagen: Sowohl die kommunistische Sowjetunion als auch später das nationalsozialistische Deutschland errichteten und betrieben ab 1918 bzw. 1933 zur Herrschaftssicherung umfangreiche Konzentrationslagersysteme, die der Verfolgung und Ausmerzung eingebildeter, potenzieller oder tatsächlicher Gegner dienten.

In der Sowjetunion und in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und anderer Länder wurden diese Konzentrationslagersysteme weit über 1945 hinaus betrieben.

Hunderttausende Menschen wurden bis weit nach 1945 in den Konzentrationslagersystemen der Sowjetunion und des sowjetisch besetzten Deutschland durch Zwangsarbeit, Unterversorgung und Hinrichtung auf unnatürliche Weise zu Tode gebracht. Die Zahl der Opfer dieses Terrorsystems übersteigt an vielen Orten die Zahl der Kriegsopfer.

Dieser Opfer wird viel zu wenig gedacht. Sie haben Anerkennung und namentliche Nennung verdient.

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Nachdenken über eine Mutige, die gegangen ist

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Juli 052010
 

Nachdenken über eine Mutige.  Ihr nachdenken, ihrem Tod nachdenken. Das Gefühl, es im nachhinein irgendwie verstehen zu können, dass sie gegangen ist. In allem spürbar: dieses Unverstellte, Ungeschützte, diese Bedingungslose an ihr. Ihre Fähigkeit, das auszusprechen, worüber andere nur hinwegglitten. Ihr Wille, aus dem Rollenprofil herauszutreten. „Es ist als Richter nicht Ihre Aufgabe, die Gesellschaft besserzumachen. Sie haben das Recht anzuwenden.“ Dieser Anspruch – jeder Erstsemester lernt ihn. Er genügte ihr offenbar nicht. Sie sah auf die Menschen, die vor ihr standen. Diese Qual, von früh bis spät nicht ernstgenommen zu werden von denen, über die das Gesetz dir Macht verlieh.

„Als Strafrichter wird es dir irgendwann langweilig. Du wirst von früh bis spät angelogen. Am Anfang glaubst du, du könntest was bessern oder bekehren. Und irgendwann arrangierst du dich. Du lässt deine Fälle im Gericht und gehst nachhause.“

Wir haben es nur mit der negativen Auslese zu tun.“ Da hätte man ansetzen können. Dieses Starren aufs Negative, das auch nach Feierabend noch weiterging. Wo waren Sieg und Siegesbeweise aus dem von ihr vertretnen Reich? Den Beweis. Ein hehres Wort. Den gab es nicht. Wo bleibt das Positive? Ja. Wo blieb sie – die positive Auslese.

Diese Mühsal der Integration, der Inklusion.  Die wenigen, die wirklich sich einlassen auf das Du – ob nun im Gerichtssaal, ob im Gefängnis, ob in der Schule, ob in der Elternarbeit – die werden immer wieder hart an die Grenze der endgültigen Erschöpfung geführt. Die könnten mit den Fäusten antrommeln gegen bequemes Schweigen, gegen Hartherzigkeit und lockere Parolen, die nichts ändern. Also – nehmen wir das Ganze als Spiel.

Nein. Kein Spiel. Zähe, wiederholte, unablässige Arbeit am Du. Ein Knochenjob, hinter dem niemals dauernde Zufriedenheit erscheint. Bei allem Gerede entsteht der Eindruck eines schalltoten Raums. Betäubend.

Und so – das Einsteigen ins Auto. Das Fahren. Das Anhalten. Das Abwürgen des Motors. Die Suche. Irre Kinderverse im Ohr. Suche die Buche. Und dann steht sie da. Einladend.

Der ganze Rest  ist leichter als befürchtet.

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Nov. 222009
 

Ein echter Meister der falschen Fährten, ein brillanter Taktiker des Wahlkampfs und der Parteiarbeit war  – Konrad Adenauer. Mit der Bundesrepublik Deutschland brachte er mit anderen zusammen eins der größten Experimente auf den Weg! Die Verabschiedung des Grundgesetzes, die Saarfrage, die Wiederbewaffnung, die Westbindung – das alles waren gewaltige Vorhaben, die zum Teil gegen bestehende Mehrheiten, gegen den Rat der Fachleute, gegen Widerstände in der eigenen Partei durchgesetzt wurden! Dennoch wurde er 1957 bekannt mit dem treuherzigen Slogan: „Keine Experimente!“ Gemeint war natürlich: „Keine zusätzlichen Experimente mehr!“  Schlau, schlau!

Seine neugegründete Partei, die CDU, erreicht in den ersten Wahlen zum Deutschen Bundestag aus dem Stand heraus fast soviel Stimmen wie die Unionsparteien 2009 einsammeln konnten (1949: 31%, 2009: 33,8%). Die CDU ist DIE große Erfolgsgeschichte in der deutschen Parteienlandschaft. Dabei war sie ausdrücklich als Union gegründet worden, also als Bündnis verschiedener Kräfte, die sich zunächst von den „Altparteien“ absetzen wollten.

Ich lese immer wieder mit großem Gewinn in den Protokollen des CDU-Bundesvorstandes 1950-1953. Mann, was war die CDU doch damals für eine wagemutige, kluge, nach vorne denkende Partei! „Es musste alles neu gemacht werden“, unter dieses Motto stellen die Herausgeber die internen Besprechungsprotokolle. Die meisten wichtigen Themen, die wir heute noch besprechen, wurden dort schon erörtert: z. B. der Parteienüberdruss, die ständige Suche nach Mehrheiten, der Einfluss der neuen Medien auf den Wahlkampf (damals: der Lautsprecherwagen).

Daneben bieten diese zum großen Teil wörtlichen Protokolle eine Methodenlehre der Politik! Greifen wir aus gegebenem Anlass eine Frage heraus: Wie soll sich eine Partei „im Feindesland“ verhalten? Was kann sie tun, wenn sie erkennbar eine Mehrheit der Bevölkerung gegen sich hat? Die junge CDU stand tatsächlich mitunter in dieser Position, und zwar beispielsweise im Saarland! Das Saarland wollte unter seinem beliebten Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann weg von Deutschland, erlangte sogar für 2 Jahre die staatliche Selbständigkeit. Die CDU blieb außen vor, trat vor 1953 gar nicht an. Adenauer sagte am 26. Januar 1953 etwa folgendes: „Die Leute an der Saar wollen uns nicht … Es ist doch tatsächlich so. Die Leute haben ein vergnügtes Leben; sie haben keine Evakuierten, sie haben keinen Lastenausgleich, und es geht ihnen gut.“ Wieso hätten die Saarländer für Deutschland stimmen sollen? „Vaterlandsverräter“ scholl ihnen entgegen!

Was sagt Adenauer dazu? Er hielt solches Geschimpfe für einen schweren Fehler! „Ich komme zu der Auffassung, Herr Kaiser, daß es ein schwerer Fehler von uns gewesen ist – ich weiß, Herr Altmeier wird anderer Aufassung sein -, daß wir von Anfang an die Leute diffamiert haben, die sich losgetrennt und dem Saarregime zugestimmt haben.“ Adenauer fährt fort, damit habe man das Tischtuch zerschnitten. Man habe den Saarländern die Rückkehr nicht erleichtert. „Nun wollen wir nicht das Tischtuch zwischen uns zerschneiden, sondern sehen, wie wir die Sache allmählich wieder in Ordnung bringen. Das wäre höchstwahrscheinlich viel klüger gewesen, als die Leute einfach zu diffamieren, die – und das kann kein Mensch bestreiten – die Mehrheit dort sind.“

Wir halten fest: Adenauer besaß die Größe, eigene Fehler offen einzugestehen und daraus für die Zukunft zu lernen. Er erkannte, dass Mehrheiten nicht mit der Brechstange, nicht mit Schimpfen zu holen sind. Er sah ein, dass das trotzige  Beharren auf dem eigenen Standpunkt – sofern er eine Minderheitenposition darstellt – eher die Wähler noch stärker gegen die Partei aufbringt. Schließlich erkannte er den Zeitfaktor an: „Das Übrige müssen wir der Entwicklung an der Saar überlassen.“

Das genaue Lesen einiger Seiten aus den Protokollen vermag sicherlich dem einen oder anderen Politiker in der Ratlosigkeit des heutigen Politikbetriebes Anregungen zu verschaffen. Die 50er Jahre waren eine Zeit äußerster Wagnisse, nur dank der fundamental richtigen Einsichten und der überlegenen Strategien von Politikern wie etwa Adenauer oder Kurt Schumacher konnte diese großartige Aufbauleistung gelingen.

Quelle: Adenauer: „Es mußte alles neu gemacht werden.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950-1953. Bearbeitet von Günter Buchstab. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 1986, hier: S. 412-413

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Okt. 102009
 

„Höher als jede Wand wächst das Misstrauen.“ Mit diesen einfachen, wie ein Birkenbäumchen gerade gewachsenen Worten beschreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemwende die klirrende Luft in einem Lager für die Deportierten. Die Worte fallen mir ein, als ich heute in der Süddeutschen Zeitung auf S. 10 lese, der tschechische Präsident Klaus wolle die Unterschrift unter den EU-Reformvertrag verweigern, wenn der rechtliche Fortbestand der Benesch-Dekrete nicht ausdrücklich bekräftigt werde.

 EU-Reformvertrag – Prager Sonderwünsche – Politik – sueddeutsche.de
Einem Bericht der polnischen Zeitung Rzeczpospolita zufolge will Klaus Garantien gegen mögliche deutsche Eigentumsansprüche im ehemaligen Sudetenland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war auf Grundlage der sogenannten Benes-Dekrete die deutschsprachige Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei ohne Entschädigung vertrieben und enteignet worden. Tschechien hält bis heute an den umstrittenen Benes-Dekreten fest und lehnt die Rückgabe von Eigentum ab.

Welches Urteil fällt Daniel Jonah Goldhagen über die Vertreibung der Deutschen und Ungarn aus Polen und der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg? Es lohnt sich, seine Stellungnahme genau zu lesen! Sie findet sich auf den Seiten 222-223 seines Buches über Völkermord.  Er bezeichnet die Deportationen der Deutschen ausdrücklich als „verbrecherische eliminatorische Akte“, die auch durch das subjektive Gefühl, es sei hier Vergeltung geübt worden, nicht zu rechtfertigen  seien. „In der Hauptsache Polen aus den von ihrem Staat annektierten Teilen des deutschen Ostens und Tschechen führten eine gründliche und manchmal mörderische Vertreibung von rund zehn Millionen Deutschen durch, steckten Hunderttausende zeitweilig in Lager und brachten Zehntausende um. Der unbändige Hass auf die Volksdeutschen führte zu einem der seltenen Fälle, dass ein demokratischer Staat, die Tschechoslowakei, im eigenen Land eine umfassende tödliche Eliminierungspolitik durchführte.“

Durch die Benesch-Dekrete der Tschechoslowakei wurde in Friedenszeiten plötzlich ein Drittel der Bevölkerung des eigenen Staates aller Rechte verlustig erklärt. Ihnen wurde die Staatsangehörigkeit aberkannt, sie galten als vogelfrei, sie trugen das „N“ auf ihre Jacken genäht. Ihr gesamter Besitz fiel entschädigungslos dem Staat anheim. Die Deutschen und die Ungarn sowie auch diejenigen Juden, die als Deutsche gezählt wurden, verloren alle Eigentums- und Aufenthaltsrechte. Alle Verbrechen, die an ihnen nach dem Krieg begangen worden waren, wurden straffrei gestellt, für die zahlreichen Massaker und Morde ist kein Tscheche belangt worden.

Ich  meine: Die EU darf sich nicht darauf einlassen, derartige willkürliche, allen Grundsätzen der Menschenrechte zuwiderlaufende Dekrete anzuerkennen. Hier darf man sich nicht durch den Präsidenten Klaus unter Druck setzen lassen!

„Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.“  So schreibt Herta Müller über die gleichfalls deportierten Rumäniendeutschen.

So könnte man auch auch sagen: Der Krieg hatte Böhmen verschont, in ganz Böhmen fand während des 2. Weltkriegs keine Schlacht statt, aber nach dem Krieg waren alle Deutschen in der Tschechoslowakei an allem Bösen schuld, das die nationalsozialistischen Mörder weltweit verübt hatten. Auf diese Logik darf man sich nicht einlassen!

Es gilt, durch gemeinsame Erinnerung, durch gemeinsame Aufarbeitung der tschechisch-deutschen Geschichte die Mauern des Misstrauens zu überwinden. Ich habe schon mehrfach behauptet, die Zukunft der EU stehe auf tönernen Füßen, solange die gemeinsame Vergangenheit nicht einvernehmlich aufgeklärt wird. Das gilt für Slowaken und Ungarn, für Kroaten und Italiener, für Türken und Griechen, es gilt aber ebenso auch für Tschechen und Deutsche. Denn Geschichte ist nicht wie Zement, Geschichte ist nicht ein feiner Staubnebel, der alles umhüllt und zudeckt.

Alles, was geschehen ist, tragen wir mit uns.  Es ist eingeschrieben in die Gedächtnisse, es wartet darauf, erzählt zu werden. Wie es mit leuchtendem Mut und salzigen Augen Herta Müller getan hat.

Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2009, hier: S. 38 und S. 44

Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Ingo Angres. Siedler Verlag, München 2009, hier: S. 222-223

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Wenn Mythen zerbrechen

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Sep. 042009
 

Zerbrechende Mythen – unter dieses Motto stelle ich meine Auswertung der heutigen gedruckten Süddeutschen Zeitung.

Erster zerbrechender Mythos: „Das finstere Mittelalter“.“Wie jede pubertierende Bewegung hat die Renaissance Vatermord an den vorangegangenen Erfindungen des Mittelalters begangen“, wird Stefan Trinks von der Humboldt-Universität auf S. 16 der SZ  zitiert. Universitäten, eine europaweite Kultur des Lernens, Streitens und Lehrens, ständige friedliche Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum, Einsichten in die Kugelgestalt der Erde … die Liste der Errungenschaften des 6. bis 14. Jahrhunderts ist lang. Die Mär vom ach so finsteren Mittelalter sollte man aufgeben.

Zweiter zerbrechender Mythos: „Alle europäischen Länder waren ausschließlich Opfer Deutschlands.“ Unter dem Titel „Vorauseilende Kollaboration“ berichtet Johannes Willms auf S. 11 über den Tatbeitrag Frankreichs – sowohl des besetzten wie des unbesetzten Teils – an der Deportation und Ermordung der französischen Juden. Ein Kapitel, das Frankreich erst seit der bahnbrechenden Rede von Jacques Chirac im Juli 1995 allmählich (aber nur ganz behutsam) zu öffnen beginnt.   Auch im unbesetzten Teil Frankreichs wurden durch französische Polizei Razzien durchgeführt, um die Juden den Deutschen auszuliefern. Die Shoah ist ein gesamteuropäisches Verbrechen gewesen. Nur eine kleine Minderheit von besetzten oder nicht besetzten Ländern hat an diesem gewaltigen Menschheitsverbrechen nicht mitgewirkt. Frankreich gehört mit Sicherheit nicht zu diesen Ländern. Das gesamte Thema der Kollaboration ist nur höchst unzureichend aufgearbeitet.

Weitere lesenswerte Artikel: Seite 5, Wahlverhalten der Migranten, Titel: „Mächtige Migranten“. Ein neu entstandener Mythos – der Mythos vom „Ewigen Migranten in Deutschland“! Mein Kommentar: Die Parteien haben erfolgreich eine starke Klientel an hilfebedürftigen migrantischen Empfängern herangezogen. Man lese die Verlautbarungen der SPD, eines Kenan Kolat, der anderen Verbände, der Linskpartei: Immer und immer wieder wird wiederholt: „Ihr seid benachteiligt“. Gegenmittel: staatsfinanzierte Programme, staatsfinanzierte Stellen, staatliche Fördermittel, staatlich mitfinanzierte Verbände … ein sich selbst verstärkender Zirkel. Der Titel „Migrant der n-ten Generation“ ist mittlerweile wie ein erblicher Adelstitel. Er verleiht Anrecht auf besondere Förderung bis weit in die 4. und 5. und n-te Generation hinein und ist potenziell unbegrenzt, ad infinitum. So ist ein kräftig wachsender Sozialadel entstanden, der ökonomisch dem Durchschnitt der Bevölkerung in den Herkunftsländern weit überlegen ist.

Lesenswert auch im Immobilienteil auf der letzten Seite: Das neue Stadtwohnen. Mischung der Sozialmilieus ist das A und O gelingender Wohnungspolitik. Homogene Viertel für die ganz Armen und die ganz Reichen, die „Domänen der Reichen“, sollen vermieden werden. Zustimmung. Wir brauchen hier in Berlins Mitte mehr junge selbstverdienende Familien.

Nachrichten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Sport – sueddeutsche.de

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Gemeinsame europäische Erinnerung ist noch in Kinderschuhen!

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Sep. 012009
 

Heute, am1. September, tritt wieder einmal hervor, was ich immer wieder feststelle: Von einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur kann noch keine Rede sein. Seit Tagen tobt beispielsweise in Polen und Russland ein Kampf um das rechte Erinnern an das Jahr 1939. Die Polen sehen den Beginn des zweiten Weltkriegs als abgekartetes Spiel der beiden totalitären Großmächte Deutschland und Sowjetunion. Durch seinen Einmarsch am 17. September habe Stalins Sowjetunion der polnischen Nation den Dolchstoß versetzt. Die Russen wiesen das bisher mehrheitlich zurück. Heute hat Putin immerhin einen Brief an das polnische Volk abdrucken lassen, in dem er den verwerflichen Charakter des Molotov-Ribbentrop-Paktes einräumt:

List Putina do Polaków – pełna wersja
Moim zdaniem szczególnie ważny jest etyczny aspekt polityki. W związku z tym chciałbym przypomnieć, że w naszym kraju niemoralny charakter paktu Mołotow-Ribbentrop został jednoznacznie oceniony przez parlament [24 grudnia 1989 r. Zjazd Deputowanych Ludowych ZSRR przyjął oświadczenie potępiające pakt z 1939 r.]. Czego na razie nie możemy powiedzieć o szeregu innych państw, chociaż one w latach 30. też podejmowały bynajmniej niejednoznaczne decyzje.

Ansonsten kann aber von Einigkeit in der europäischen Erinnerung nicht die Rede sein. Wir Deutsche und unsere westlichen Nachbarn kreisen fast ausschließlich um uns selbst – um die Westhälfte Europas.  Der verheerende verbrecherische Charakter des NS-Regimes wird häufig dazu verwendet, um den falschen Eindruck zu erwecken, „vorher“ und „drumherum“ sei alles im Wesentlichen in Ordnung gewesen. Ein grober Fehler – und was die Sowjetunion und ihre Verbrechensmaschinerie angeht, ein unverzeihlicher Irrtum. Nicht nur die Deutschen, sondern auch die Sowjets haben nach ihrem Einmarsch Polen mit einer erbarmungslosen Terrorherrschaft überzogen, die hunderttausende Opfer gekostet hat – wohlgemerkt nicht als Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern als Opfer von wahllosem Terror gegen die Zivilbevölkerung.

Die FAZ bringt heute einige gute, sehr lesenswerte Artikel über dieses Thema der „gespaltenen Erinnerung“.

Bin gespannt, was derAbend mit Lena Kornyeyeva morgen bringt. Ihr Buch „Putins Reich“ liegt vor mir auf dem Schreibtisch.

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Altvergangne Tage wiederauferstanden

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Juni 292009
 

Große Rückschau gestern bei der Feier meines 50. Geburtstages. Ein tolles Ambiente zauberten Heike und Angela in der Kerzenwerkstatt in der Kreuzberger Hagelberger Straße 53!

Am Abend erinnerten mich meine Geschwister, dass ich damals, während der Pubertät in den 70er Jahren, ein ziemlich linker, für katholische Verhältnisse geradezu linksradikaler Schüler war. Das stimmt. Im Alter von 13 bis 15 Jahren erkämpfte ich die Öffnung eines zweiten Schultores, gründete mit anderen zusammen die Schülerzeitung Stachelbeere, die dann auch prompt einen Zensureingriff erleiden musste.

Der Spiegel berichtete hierüber 1976:

 An den Kragen – Artikel – SPIEGEL WISSEN – Lexikon, Wikipedia und SPIEGEL-Archiv
Die „Stachelbeere“ von Augsburgs Stephan-Gymnasium mußte einen Artikel kippen, weil er Forderungen der vom Kultusministerium nicht anerkannten Landesschülervertretung enthielt. Statt dessen imprimierte Schulleiter Peter Johannes Lettner einen Eigenbeitrag über Einwände der Münchner Landesväter gegen die „von außerschulischen Gruppen unterstützte“ Schüler-Organisation: „Das Staatsministerium ist besorgt, auf diese Weise könne eine verfehlte Entwicklung Platz greifen. wie sie im Hochschulbereich durch das bayerische Hochschulgesetz überwunden ist.“

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Mai 182009
 

 Yussuf – so heißt ein Mitschüler meines Sohnes. In Yussuf benannte sich auch Cat Stevens nach seinem Übertritt zum Islam um. Würdet ihr glauben, dass dieser Yussuf kein anderer ist als der Joseph aus dem 1. Buch Mose, das Juden wie Christen gemein ist?

Diesem Joseph oder Yussuf begegnete ich gestern beim Spazierengehen in Würzburg. Ihr seht ihn dort oben. Es war ein herrlich leichter, hingezauberter Abend. Die alte Mainbrücke zu überschreiten, den Blick der ruhig vertäuten Kähne zu genießen und ein paar Worte unter Freunden zu wechseln, das war für mich gestern ein schöner Augenblick.

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So wie Navid Kermani oder Necla Kelek uns einen neuen Blick auf das Kreuz lehren können, so vermag es Goethe, die Eigenart des Islam genauso hervortreten zu lassen wie auch sein Strenges und Hartes. Ähnlich wie Kermani gelingt es ihm, in Anziehung und Abstoßung des Eigene und das Fremde geradezu sinnlich spürbar werden zulassen.

Goethe schreibt in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans in dem Mahomet benannten Kapitel:

Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplificationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen  bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt.

Eine der wenigen im echten Sinne erzählenden Suren ist die Sure 12. Sie ist ganz dem Josef (ungarisch: Joschka, arabisch: Yusuf, bairisch: Sepp) gewidmet. Goethe rühmt an der koranischen Umarbeitung der biblischen Josefsgeschichte, sie sei bewundernswürdig.  Die Überlieferungen des Alten Testaments beruhen – so Goethe – „auf einem unbedingten Glauben an Gott, einem unwandelbaren Gehorsam und also gleichfalls auf einem Islam“.

So wie Kermanis Bildmeditationen das beste sind, was ich seit einigen Monaten über das Christentum gelesen habe, so stellen Goethes Meditationen über Mahomet das beste dar, was ich seit vielen Wochen aus der Feder eines Nicht-Muslims über den Islam gelesen habe. Ohne flache Multi-Kulti-Versöhnlichkeit gelingt es Goethe, sich in Lebenswelt und Schriftsinn des Koran hineinzuversetzen, sich in ihn einzufühlen, ohne die eigene, abendländische Denkart preiszugeben.

Der Goethe des West-östlichen Divans ist DER große Anreger für uns in der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er muss gleichberechtigt an die Seite des bekannteren Goethe gestellt werden, der den Faust geschrieben hat!

Schließen wir diese kurze Abendandacht mit einem Zitat aus der 12. Sure, Vers 92-93. Sie kann uns zeigen, wie innig verschwistert Judentum, Christentum und Islam sind und bleiben. Denn alle drei Religionen erzählen in immer neuen Abwandlungen das spannungsreiche Thema der Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Bruder und Bruder. Ob Cat „Yussuf“ Stevens, ob Josef „Joschka“ Fischer sich immer bewusst waren, welche Kraft in ihrem Namen lag? Ihrem hebräischen Namen, der bedeutet: ER fügt hinzu? Denn nachdem Josef von seinen Brüdern verraten und verkauft worden war und der Vater aus Gram und Kummer das Augenlicht verloren hat, führt er zuletzt die große Versöhnung herbei, indem er sein Hemd weggibt und hinzufügt und dabei seinen Brüdern sagt:

„Keine Schelte soll heute über euch kommen. Gott vergibt euch, Er ist ja der Barmherzigste der Barmherzigen. Nehmt dieses mein Hemd mit und legt es auf das Gesicht meines Vaters, dann wird er wieder sehen können.“

Das heißt: Die Versöhnung geht vom Sohn aus, nicht vom Vater. Heißt sie deshalb Ver-söhnung, also Wiederherstellung des Sohn-Seins? Etymologisch nicht, denn das Wort stammt von Sühne ab. Aber in einem tieferen Sinne stimmt dieses Brückenbild. Joseph oder Yussuf – sie stehen im Bilde gesprochen „auf der Brücke“, sie sind die großen Hinzufüger, die großen Schenkenden.

Versöhnung geht in der Josefsgeschichte von dem aus, dem Unrecht angetan wurde, nicht von den Tätern des Unrechts. Und die Versöhnung macht im vollen Umfang „sehend“.

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Quellen:

Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885,  S. 555-557

Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan. Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage, Gütersloh 2007, S. 185

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März 182009
 

„Die Partei gab mir zu verstehen, dass ich mich nicht an die Vergangenheit erinnern und über sie reden darf, wenn ich weiter in Litauen leben und arbeiten will. Meine Eltern soll ich aus der Erinnerung streichen, als ob es sie niemals gegeben hätte.“ So schildert die lettische Ärztin Dalia Grinkeviciute die Aufforderung der KPdSU, nachdem sie ihre Mutter aus einem betonierten Kellerloch in einen sehr schönen Platz am steilen Ufer der Neris umgebettet hatte.

1941 wurde Litauen von der Sowjetunion annektiert. Sofort begannen die Plünderungen und Massendeportationen. Auch Dalia wurde mit ihrer Familie vertrieben, auf die Insel Trofimovsk. Darüber, über diesen Ort schreibt sie: „Hier gibt es nur drei Kategorien: Leichen, Sterbende und Kranke, die vielleicht noch zu retten sind. Wir, die überleben werden, können später Zeugnis für die kommenden Generationen ablegen.“

Lager, Deportierungen, Zwangsarbeit – während das System der tausenden deutschen Lager von 1933-1945 in seiner feinen Verästelung mittlerweile in Umrissen als erforscht gelten kann, herrscht über das im okkupierten Jugoslawien errichtete Lagersystem Italiens und vor allem das der Sowjetunion weitgehend verordnete oder gewollte Unkenntnis. Einer der Gründe mag sein, dass auch nach 1956 weitgehend Totschweigen verordnet wurde. Bis zum Ende der Sowjetunion wurde den Millionen von Opfern des sowjetischen Lagersystems Anerkennung und Ausgleich verwehrt. Die offizielle Version war, Stalin sei an allem schuld gewesen, jetzt müsse man nach vorne schauen. Wer auf der Aufarbeitung der Vergangenheit beharrte, wurde schikaniert, inhaftiert, an den Pranger gestellt und entrechtet.

Es hat gewirkt – von den Verbrechen der Tscheka, des KGB, und der ihnen zuarbeitenden Nomenklatura ist kaum mehr die Rede. Wer die Mauer des Vergessens durchbrechen wollte, der müsste zu Meißel und Axt greifen. Er schüfe ein Buch, das – wie Kafka so schön formuliert hat – zu einer „Axt im Kopf“ wird.

Wem noch nie das Blut in den Adern gefroren ist, der lese heute den großen Artikel über Dalia Grinkeviciute, den Vytene Muschick auf S. 7 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Wir zitieren:

„Mit Meißel und Axt breche ich in den Betonboden ein. Als Papa das Haus baute, dachte er nicht daran, wie schwer sich hier ein Grabplatz für Mama einrichten lässt.“

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„Ich war nicht dabei!“

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Feb. 232009
 

Zwar lebte ich von 1982 bis 1987 in West-Berlin, aber als die Mauer fiel, war ich nicht dabei. Ich lebte zu der Zeit in Italien, schwelgte und sonnte mich im Gefühl, als echter Europäer an einer europäischen Universität unterrichten zu dürfen, und die deutsche Wiedervereinigung erfuhr ich aus der Zeitung, genauer: aus meiner täglichen Repubblica. Der Fall der Mauer, diese Nachricht erreichte mich aus zweiter Hand vermittelt in italienischer Sprache: CADE IL MURO DI BERLINO!

Erst einen Monat später reiste ich nach Berlin. So kann ich mit Fug und Recht sagen: „Ich war nicht dabei, als die Mauer fiel!“ Ist dies ein Nachteil? – Ja, wenn man Zeugenschaft als Voraussetzung für echtes Verständnis nimmt!

Bei so vielen Ereignissen war ich nicht dabei  – und deshalb versuche ich sie nachträglich um so besser zu ergründen. Als der Krieg zu Ende war, da gab es mich noch nicht. Als Karl der Große tausende aufmüpfiger Sachsen in Verden aus dem Hinterhalt niedermetzeln ließ, da gab es mich noch nicht. Dennoch werde ich jederzeit meine Stimme gegen die Verklärung dieses Gewaltherrschers erheben, der 351 Jahre nach seinem Tode von der Kirche heiliggesprochen worden ist und noch heute zu unrecht als „Vater Europas“ verehrt wird.

Was will ich damit sagen? Nun – wir kommen eigentlich fast immer „zu spät“. Wir sind meistens „nicht dabei“. Aber dies beständige „Zu spät“, dieses unvermeidliche „Nicht dabei“ sind ein mächtiger Antrieb des Forschens und Suchens, des immerwährenden Fragens. Sie sind der Grund jeder tieferen historischen Einsicht.

Sie sind auch ein Grund, weshalb ich mich weiterhin stark für die DDR interessiere. Denn ich war nicht dabei. Und bei vielen Gesprächen mit ehemaligen DDR-Bürgern habe ich eines gelernt: Zuhören – mich des Urteilens und Verurteilens enthalten.

Und wenn einer vorwiegend schöne Erinnerungen hat – so sei es ihm unbenommen! Seine Erinnerungen sagen ihm dies so … dennoch werde ich bei Diskussionen über die DDR weiterhin meine Stimme erheben. Vieleicht mit Rückfragen, mit Bedenken, indem ich sage: „Aber ich habe da einen anderen gehört, der etwas anderes erzählt hat … “

Denn ich war nicht dabei – aber ich habe mir hunderte von Geschichten angehört.

Weitere Möglichkeiten des nachholenden Begreifens bietet eine Sendereihe:

Heute abend beginnt um 23.50 Uhr die Sendereihe Meine DDR. Mit dabei: Direktkandidatin Vera Lengsfeld. Es wird sicher spannend, und wem es zu spät werden sollte, der kann einen Mitschnitt im Internet abrufen. Hier mein Ausriss aus der elektronischen Programmzeitung:

ARD Digital – Digitales Fernsehen der ARD – Digitalfernsehen – Digital TV
[…] Sommer 1989 im Koma. Als sie aufwacht, gibt es die DDR nicht mehr.
Reinhard Nitzsche: Als leitender Funktionär im Chemiekombinat Leuna kennt er die Realität und kämpft täglich mit den Planvorgaben.
Vera Lengsfeld: Die Bürgerrechtlerin will das Unmögliche: eine bessere Diktatur. Erst nach der Wende erfährt sie, dass die Stasi ihren eigenen Mann auf sie angesetzt hatte.
Klaus Kurz: Der Sportlehrer wird im Sommer 1988 an der ungarischen Grenze wegen versuchter Republikflucht verhaftet. Im DDR-Gefängnis erlebt […]

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Feb. 212009
 

Mehr zufällig war ich gestern im Zusammenhang mit der Bismarckschen Sozialversicherung auf sein Wort „Staatssozialismus“ gestoßen. Das gestern angeführte Zitat fand ich in der vortrefflichen Gesamtdarstellung „Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933“, S. 250. Verfasser Heinrich August Winkler gelingt es in diesem meisterhaft komponierten Werk, alle gängigen Vorurteile und fromme Wahnvorstellungen, von denen unser gemeinhistorisches Bewusstsein lebt, sachte zu entstauben und eben auch die eine oder andere Tretmine sorgsam verpackt einzubauen.

Bismarck eignet sich hervorragend dazu, unsere Vorurteilsverhaftung anschaulich zu machen. Mein grob geschnitztes Bild von Bismarck war eigentlich: Eiserner Kanzler, genialer Diplomat, Machtpolitiker, schuf durch Kriege den deutschen Nationalstaat, Vertreter des Obrigkeitsstaates, alles andere als ein Demokrat, schuf sein bleibendes Verdienst mit dem System der Sozialversicherung, Unterdrücker der Sozialisten und der katholischen Zentrumspartei, wurde leider von dem törichten Kaiser Wilhelm II. ausgebootet.

Heute las ich in der Bismarck-Biographie von Lothar Gall und in Bismarcks eigenen „Gedanken und Erinnerungen“. Ergebnis: Die oben angeführten Urteile sind nicht völlig falsch, aber sie greifen zu kurz.

Gall vertritt die Ansicht, dass Bismarck aus machtpolitischem Kalkül heraus in Beratungen mit Vertretern der Industrie die Idee einer allgemeinen Versicherung unter staatlicher Obhut und staatlicher Beteiligung ersann. Ziel war, in Bismarcks Worten: „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“ Denn: „Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln, als wer darauf keine Aussicht hat“ (Gall, a.a.O. S. 605).

Bismarcks Konzept stieß auf heftigsten Widerstand bei den Linskliberalen, dem Zentrum und der Sozialdemokratie. Sie fürchteten „einen auf staatssozialistische und pseudeoplebiszitäre Elemente gestützten Neoabsolutismus“ (Gall, a.a.O. S. 606).

Und was erwiderte Bismarck auf solche Anfeindungen? Er zeigte sich erneut als der geniale Politiker, der er war – er verbat sich solche Unterstellungen nicht, sondern unterlief sie durch Zustimmung. Bismarck führte aus: „Die sozial-politische Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der Besitzlosen wäre unermeßlich.“ Erneut verwendet er den Begriff Staatssozialismus, der ihn in der Tat zu einem Ideengeber der heutigen Linken (etwa in den Personen eines Björn Böhning oder einer Halina Wawzyniak) werden lässt.

Bismarck sagt über seine Sozialversicherung:

„Ein staatssozialistischer Gedanke! Die Gesamtheit muß die Unterstützung der Besitzlosen unternehmen und sich Deckung durch Besteuerung des Auslandes und des Luxus zu verschaffen suchen.“

Das ist die Reichensteuer, das ist der Protektionismus durch Handelshemmnisse, wie sie gerade jetzt wieder als Gedanken im Schwange sind!

Wie bewertet Gall Bismarcks Leistung beim Aufbau des Sozialstaates? Niederschmetternd! Er deutet sie nicht als bleibendes Verdienst oder systematisches Aufbauwerk, sondern als einen politischen Verzweiflungskampf, der das Wesen der Politik dauerhaft entstellt habe. Letztlich habe Bismarcks Kampf um die eigene Machtposition dazu geführt, dass man sich nur noch am Machbaren orientiere und Perspektivlosigkeit zum Prinzip erhoben habe (Gall, a.a.O. S. 607). Das herrliche Wort Perspektivlosigkeit – ich glaube, etwa ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat es eine steile Karriere hingelegt, die bis zum heutigen Tage anhält! Es gibt heute kaum ein schlimmeres Urteil als eben dies: Perspektivlosigkeit.

In solchen Kommentaren schlägt das Politikverständnis des Historikers Gall deutlich durch. Politik hätte demnach sich nicht am Machbaren zu orientieren, sondern den großen Wurf durchzuführen. Es ginge laut Gall dann bei guter Politik darum, Verhältnisse, Strukturen und Verhaltensweisen bewusst zu gestalten.

Und hier gewinnen seine Ausführung beklemmende Aktualität. Denn das sind heute noch die Pole, zwischen denen sich Politik bewegt: Politik entweder als Kunst des Machbaren – oder als kühner Ausgriff, als bewusst angelegte Reform.

Wenn man Bismarck studiert, wird man erkennen: Die bewusst angelegten, raumgreifenden  Reformen sind sehr, sehr selten, die meisten gut gemeinten Reformen versanden oder bleiben auf halbem Wege stecken. Oder sie werden irgendwann zu einer Erblast.

Vergleicht man aber Bismarck mit dem durchaus geistesverwandten russischen Ministerpräsidenten Stolypin, so wird man sagen müssen: Der erste deutsche Kanzler hat – im Gegensatz zu vielen anderen Reformern – einen Teil seiner Neuerungen durchaus zu einem bleibenden Reformwerk gestaltet. Dass seine Motive eigennützig waren, letzlich auch der eigenen Machtsicherung dienten, verschlägt nichts daran, dass die Sozialversicheurng Elend und Leiden minderte, Bindekräfte zwischen Staat und Bürgern entfaltete und gewaltsame Revolutionen wie etwa in Russland verhinderte.

Dass wir heute noch quer durch alle Parteien am Erbe des Bismarckschen Obrigkeitsstaates leiden, ist nicht Bismarck anzulasten – sondern uns! Man muss dies durchschauen. Wenn es etwa heißt: „Wir dürfen keine systemische Bank in den Konkurs treiben“, „Wir dürfen Opel nicht pleite gehen lassen“, dann zeigt sich genau jenes paternalistisch-obrigkeitliche Denken eines Bismarck wieder, das ich für schwer vereinbar mit einer freiheitlichen Demokratie im Sinne unseres Grundgesetzes halte.

In den Reformdebatten unserer Zeit – etwa seit den Leipziger Reformbeschlüssen der CDU von 2005 – wird dieser Zusammenhang zwischen Machterhaltung und Reform meist gegeneinander ausgespielt. Es heißt grob vereinfacht: „Wir müssen unsere Reformvorstellungen dem Machterhalt opfern. Das große Ding können wir nicht drehen. Der Zeitpunkt ist vorüber.“

Ich halte dies für einen Irrtum. Machterhalt und Reform sollten einander gegenseitig bekräftigen. Dass dies möglich ist, hat Bismarck meines Erachtens glänzend vorgeführt. Ich teile deshalb die ernüchternd-entzaubernde Ansicht Lothar Galls, wonach Bismarck lauter verzweifelte Rückzugsgefechte gekämpft habe, nicht. Solche Tretminen, die das Denkmal Bismarck beschädigen, sind keine.

Schade, dass die großen Politiker wie etwa Bismarck oder Stolypin so vernachlässigt werden und statt dessen sehr viel mehr Fleiß auf politische Propheten wie Rosa Luxemburg, Dichter wie Karl Marx, Diktatoren oder politische Verbrecher wie Stalin und Hitler verwendet wird! Schade, dass unsere Politiker quer durch die Parteien offenkundig meinen, sie stünden vor komplett neuen Herausforderungen und Problemen! Rückbesinnung tut not!

Folgende Bücher empfehle ich heute nachdrücklich als Gegengift gegen diese Extremismus-Besessenheit und diese Geschichts-Vergessenheit:

Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Ullstein Verlag,  Frankfurt am Main, 1980

Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Ungekürzte Ausgabe. Herbig Verlag, München, o.J.

Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933.  Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2002

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Feb. 082009
 

 08022009.jpg … dass die Form, in der wir das Herz darstellen, nämlich die Form eines zweilappigen Blattes, kaum etwas mit der tatsächlichen Gestalt dieser leistungsstarken Pumpe zu tun hat? Die Begründung lieferte heute die Sendung mit der Maus. Dieses Symbol geht auf die vielen Blatt-Symbole der Antike zurück. Das Efeu-Blatt bedeutete den Alten Lebensfreude, ja sogar ewiges Leben. Denn der Efeu kann bis zu 400 Jahre alt werden. Nicht umsonst erscheint Dionysos häufig mit dem efeuumkränzten Stab. Von der griechischen Kunst wanderte das Blatt als Symbol der Liebe zum Leben in die gesamte abendländische Kunst ein.

Höchstes Lob an die Sendung mit der Maus! Es war eine der besten Sendungen seit längerem! Wie ich mir am 21.09.2008 gewünscht habe, wendet sich die Sendung mit der Maus mehr und mehr auch den „weichen Themen“ zu – also der bunten Welt der Mythen, der Kunst, der Geschichte. Die Maus zeichnet nunmehr eine Grundgemälde dessen nach, was uns in Europa kulturell zusammenhäl. Toll, toll, toll! Das kann und soll man ausbauen. Technik, Naturwissenschaften, Finanzen sind wichtig – aber sie sind nicht alles.

Mein herzliche Bitte: Bitte bringt auch mal Goethe und Schiller für Kinder, z.B. den Zauberlehrling mit der Musik von Paul Dukas. Mein Sohn hört den Zauberlehrling immer wieder sehr gerne.

Unser Bild zeigt den Stand der Berliner Stadtreinigung BSR mit dem offenbar unsterblichen Bären auf der Berlinale am heutigen Tage.

Sachgeschichten – Die Sendung mit der Maus – WDR Fernsehen

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Jan. 282009
 

dictators013612341.jpg Dietmar Dath sagt dies in seinem jüngsten Interview im aktuellen Spiegel Nr. 5/26.1.09 auf S. 132: „Ein politisches Genie wie Lenin zu erfinden, hätte Marx sich nicht getraut“.

Merkwürdig: Ich stimme dieser Einschätzung Daths aus vollem Herzen zu. Lenin ist ein politisches Genie. Dazu braucht man nur einige Fotos anzuschauen, die ihn beim Agitieren zeigen. Man muss Lenin im Original zu lesen versuchen, man muss diese erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Gewitztheit in allen Schattierungen kennenlernen, um zu würdigen, welch überragendes politisches Genie er war. Lenin kann eigentlich alles: analysieren, agitieren, hetzen, schmeicheln, preisen, verdammen, er kann sich verstellen und er kann sich offenbaren  … und daneben war er imstande, Menschengruppen planvoll zu organisieren, sie mit einem gemeinsamen Vorhaben zu beflügeln. Mit einem Wort: ein Großer Führer, wie es vielleicht im ganzen 20. Jahrhundert nur zwei oder drei gab. Welcher von den Großen Führern mehr Morde zu verantworten hat? Über Generationen hin war man geneigt, Stalin oder Hitler hier die Krone zuzuerkennen.

Aber die neuesten Forschungsergebnisse, die Öffnung der sowjetischen Archive rücken Lenin – trotz einer gewissen statistischen Unterlegenheit in der Zahl der Opfer – nun doch zunehmend in die Champions League der großen Führer ein: Lenin, Stalin, Hitler – diese drei waren die genialen Meister des Wortes und der Waffe, beide erkannten aus einer zunächst hoffungslos scheinenden Minderheitenposition die Chancen, mit denen sie sich innerhalb ihrer Bewegung nach vorne kämpfen konnten. Nachdem sie gewaltsam die Macht innerhalb der Bewegung gesichert hatten, vermochten sie es, durch planvollen Mord und Terror, durch Lagersysteme und durch systematische Propaganda einen Großteil der von ihnen beherrschten Gesellschaften zu ihren Verbündeten zu machen.

Hierzu sei Herrn Dath – sofern er es nicht schon kennt – nachdrücklich das neue Buch des kanadischen Historikers Robert Gellately empfohlen:

Lenin, Stalin, and Hitler: The Age of Social Catastrophe (Alfred A. Knopf, 2007).

Genial bei Lenin ist auch: Bis heute scheinen viele nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass Lenin von Anfang seiner Karriere an auf Raub und Mord, auf skrupellose Ausschaltung seiner Gegner setzte.  Neben der Schreibfeder, neben dem gesprochenen Wort handhabte er über seine gesamte Laufbahn hin mit großem Geschick Gewehre, Bomben, Hinrichtungsbefehle, ab 1917 auch Straflager für Abweichler, Bürgerliche und missliebige Sozialisten.

Genial auch: Nach seinem Tode wurde er im Umfang des Mordens und Henkens noch durch Stalin übertroffen, so dass er im Rückblick geradezu als Unschuldslamm erscheinen mochte. Genial!

Genial auch: Er richtete es so ein, dass bis zum heutigen Tag eine pseudoreligiöse Atmosphäre um seinen Leichnam inszeniert wird. Der Verfasser dieses Blogs konnte sich selbst davon überzeugen.

Genial auch: Bis heute, weit über seinen Tod hinaus, umnebelt dieser große Führer, dieser für alle Zeiten maßstabsetzende marxistische Revolutionär die an den Marxismus Glaubenden mit Gedanken wie etwa „eine Revolution wird nicht mit Rosenwasser gemacht“ (Rosa Luxemburg), oder: „Die Umgestaltung der Welt verläuft nie in kindersicheren Bahnen“ (Dietmar Dath) .

Der Marxist Dietmar Dath plädiert im aktuellen Spiegel dafür: Wir müssen den Sozialismus gemäß den Lehren des Karl Marx noch einmal probieren. Es bedarf mehrerer Anläufe.  Bisher hat es nicht funktioniert. Aber irgendwann wird es schon klappen.

Als Beleg führt Dath die Französische Revolution an. Auch dort seien Ströme von Blut geflossen. Aber heute lebten wir „eher so, wie die bürgerlichen Revolutionäre es wollten“.

Darauf erwidere ich: Es stimmt, ein gewisser Abschnitt nach der Französischen Revolution war ebenfalls durch größte Brutalität, durch Massenhinrichtungen und ähnliches gekennzeichnet. Aber diese Zeit der systematischen Verbrechen, La Grande Terreur,  dauerte nur etwa  2 Jahre, danach kehrten wieder etwas stabilere Verhältnisse ein.

Ganz anders nach den sozialistischen Revolutionen! Bei allen sozialistischen Umstürzen  bedurfte es eines weitaus brutaleren, über Jahrzehnte fortgesetzten Terror-Regimes, um die Macht zu sichern und Stabilität in die Verhaltnisse zu bringen.

Und wisst ihr was? Ich hab was dagegen. Ich hab was dagegen, dass manche – wie der gute, hochgebildete Herr Dath – uns jetzt erneut predigen wollen, der Sozialismus sei eine gute Idee, die bisher nur an der fehlerhaften Umsetzung gescheitert sei. Oder daran gescheitert, dass die Zeit noch nicht reif war. Man müsse DDR und Sozialismus trennen, es könne einen Sozialismus ohne Tscheka, KGB und Stasi geben. Ich erinnere daran: Es hat einige Dutzend Versuche gegeben. Wir brauchen keine weiteren Versuche mehr.

Von diesem entscheidenden Unterschied abgesehen, vertrete ich erneut den Standpunkt, dass die Amerikanische Revolution von 1776, also die Abschaffung der Monarchie und die konsensuell herbeigeführte Einsetzung einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie für uns in Europa das entscheidende Modell abgeben sollte – nicht die Französische Revolution, die im Jahr 1789 kein klar republikanisches Programm hatte. Wenn doch nur ein paar Leute auch in Europa das großartige Buch Barack Obamas über die amerikanische Verfassung, „The Audacity of Hope“ läsen!

Leider herrscht bei den Gläubigen des Marxismus immer noch ein ziemlich beschränkter West-Europa-Zentrismus vor. Was in den vergangenen 200 Jahren in Russland, was in den USA, was in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn geschah, entzieht sich der Kenntnis der meisten Gläubigen. Vielleicht ist dies der Grund: Sie wollen es offenbar nicht wissen, sie reden nicht mit den Überlebenden, sie reisen nicht dorthin, sie kennen die Sprachen nicht.

Ich empfehle die Werke des genialen Führers Wladimir Iljitsch Lenin und des unverwüstlichen Dichters Karl Marx, die Forschungen der Historiker Robert Gellately und Stéphane Courtois und das neueste Spiegel-Interview mit Dietmar Dath der Aufmerksamkeit aller Gläubigen und Ungläubigen.

Danach sollte man sich noch einmal die Frage vorlegen: Was kann Marx heute noch bedeuten? Was heißt linke Politik heute?

 Posted by at 23:32