Wer ist denn heutzutage noch ein Christ?

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Jan. 132014
 

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„Wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet“. So Goethe zu Kanzer Müller am 7. April 1830.

Ein starkes, schroffes Wort des Alten vom Frauenplan. Er sprach viel und trank nicht wenig. Gleichwohl trifft Goethe, der ewige Ungläubige, der ewige credente und ewige  non-credente, dessen Faust und dessen Mephisto so oft  über die Kirchen ablästerten, den Kern des Christseins.

Ich allein vielleicht.

Die Kraft des Ich! Die Kraft des Alleinseins! Die Kraft des Vielleicht!

Es gibt und muss geben im Grunde des „Ich allein vielleicht“ ebensoviele Spielarten des Christseins, als es Christen gibt. Entscheidend bleibt stets ein Akt des Wählens, eine Tathandlung des „Für-Wahr-Haltens“, ein Schritt des Sich-in-Freiheit-Bindens. Wählen, Für-Wahr-Halten, Sich-Binden-in-Freiheit, das sind die drei Ausfaltungen des alten hebräischen, nur unzureichend ins Griechische, nur unzureichend ins Deutsche übersetzbaren Wortes Glauben.

Ohne diesen persönlichen Glauben ist es alles nichts mit dem gesamten Christentum. Er ist das Alpha und Omega. Die ganze „Dogmatik“, die gesamte „Christologie“, all die „absoluten Wahrheitsansprüche“,  ja die gesamte christliche „Theologie“, die „allgemeine Kirche“, verlieren dann ihren Grund. Dann leeren sich die Kirchen. Und zuletzt werden sie gnadenlos gesprengt, und einige Jahrhunderte oder Jahrtausende menschlicher Geschichte werden gewaltsam weggesprengt, wie in Magdeburg oder Potsdam in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach geschehen.
Quelle des Zitats:

Wolfgang Klien: „Er sprach viel und trank nicht wenig“. Goethe. Wie berühmte Zeitgenossen ihn erlebten. Mit 22 Abbildungen. Langen Müller, 2. erw. Auflage, München 2000, S. 34
Bild: eine Krippe vor der Petrikirche in Magdeburg.

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Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer

 1968, Goethe, Philosophie, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer
Nov. 192013
 

„Nazi bleibt Nazi“, mit diesen Worten formulierte Christian Ströbele, Deutscher, geb.  1939, seinen Glauben an die Unveränderlichkeit, an die sozusagen genetische Determiniertheit des Menschen.

Wir bilden ähnliche Sätze: Nazi bleibt Nazi, Gewalttäter bleibt Gewalttäter, Frankfurter Putztruppe bleibt Frankfurter Putztruppe, Steinewerfer bleibt Steinwerfer. Die Zahl der Variationen ist beliebig. Goethe dichtete diesen Glauben an den unveränderlichen Kern der Persönlichkeit so:

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Der heutige Unternehmensberater und Vortragsredner Joschka Fischer, 1948 geborener Deutscher, ehem. Chef des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland, erweist erneut, wie recht doch Goethe mit seinen Urworten. Orphisch hatte, wie tief eingewurzelt bei uns Deutschen eine gewaltgeprägte, brutal zuschlagende, verrohte Sprache ist. Höchst aufschlussreich ist die metaphorische Sprache, mit der Joschka Fischer, der deutsche Spitzengrüne, sich in einem Gespräch mit Fritz Stern über seinen Versuch, einen ganz großen Stein auf die von ihm geführten Mitarbeiter  im AA zu werfen, zu Protokoll nehmen lässt (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich allerdings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne die ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissionsberichtes, selbst nicht mehr im Amt erleben würde.“

Zitiert nach:
Thomas Schmid: Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt. WELT online, 19.11.2013
http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article122017508/Joschka-Fischers-Rache-am-Auswaertigen-Amt.html

Ein farbenprächtiges Zitat, ein Beispiel brauner Kontinuität aus dem Munde eines deutschen Spitzengrünen! Die Vorstellung, dass man politisch Andersdenkende  einfach mit einem Stein zerschmettern könne, aber auch der Mut, mit dem Joschka Fischer offen diese feldherrngleich ausgebrütete Gewaltphantasie ausspricht, sind höchst bemerkenswert und verdienen Anerkennung. Joschka Fischer, der typische Deutsche, hat sich von der Sprache der braunen, der auch roten, der steinewerfenden Vergangenheit, wie man sieht, nicht verabschiedet, sondern führt sie – zumindest in seiner Phantasie – ganz ungescheut fort.

Feinde werden von Joschka Fischer im Geiste mit Hinkelsteinen zerschmettert.  Das ist richtig gutes Deutsch, Joschka! „Gefangene werden nicht gemacht“, so sagte es Kaiser Wilhelm in seiner berühmten „Hunnenrede“ am 27.07.1900. Joschka Fischer, der typische, allzutypische Deutsche stellt sich in eine unselige Tradition deutscher Gewaltrhetorik, deutscher Außenpolitik. Mimesis ans Verkehrte, hätten Adorno und Horkheimer wohl gesagt.

Aktuelle Geschenketipps:
Daniel Koerfer: „Diplomatenjagd. Joschka Fischer und seine Unabhängige Kommission und ,Das AMT'“. (Strauss Medien & Edition, Potsdam. 544 S., 24,95 Euro)

 

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Zwei in einem – das offenbar Geheimnis des Kreuzberger Ginkgo biloba

 Friedrichshain-Kreuzberg, Goethe  Kommentare deaktiviert für Zwei in einem – das offenbar Geheimnis des Kreuzberger Ginkgo biloba
Aug. 292013
 

Gingko biloba

 

Gute, treffende Gespräche führten uns gestern im warm durchsonnten Spätsommer durch den Mendelssohn-Bartholdy-Park in Kreuzberg. Ich geriet ins muntere Gespräch mit einem schwäbischen Landschaftsgärtner, der an der Anlage mit Kennerblick manche sorgfältig bedachte Einzelnheit hervorhob, wenn auch an einigen Stellen eine gewisse Pflegebedürftigkeit durchschimmere.

Ein prachtvoller, wohl etwa 25 Jahre alter Ginkgo biloba fesselte unsere Aufmerksamkeit. Hier steht ein offenbar Geheimnis, das wir deutlich aussprachen: Zwei in einem! – Die Klasse der Ginkgo-Gewächse steht morphologisch zwischen Laub- und Nadelgewächsen. Sie ist also sinnbildlich die Vereinigung des Gegensätzlichen, des Mannes und des Weibes, von links und von rechts, des Sohnes und der Mutter, des Alten und des Jungen, der Behinderten und des Unbehinderten. Der einzelne Ginkgo-Baum ist jung, aber die Klasse der Ginkgo-Gewächse gibt es schon weit länger als das Menschengeschlecht – wohl 180 Millionen Jahre! Der Ginkgo ist ein lebendes Fossil.

Wir riefen die unsterblichen Verse zu Ehren Marianne von Willemers, die uns Goethe überliefert hat, aus dem Gedächtnis auf und sprachen sie laut und deutlich zu den Anwesenden und zu dem Baum hin:

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?

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„Wo warst du, Vater?“ Undine Zimmer am Fenster, Sunkist als Statussymbol betrachtend

 Analı babalı, Frau und Mann, Goethe, Kinder, Konservativ, Sozialstaat, Vaterlos  Kommentare deaktiviert für „Wo warst du, Vater?“ Undine Zimmer am Fenster, Sunkist als Statussymbol betrachtend
Aug. 212013
 

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Analı-babalı büyüsün. Mit Mutter UND Vater möchten die Kinder aufwachsen, sagt die Türkin. Die Geschichte der Undine Zimmer ist eine vortreffliche Bestätigung dieser jahrtausendalten Wahrheit. Der Vater Undines hat Mutter und Kind alleine gelassen und Mutter und Tochter der Obhut des Sozialstaates anvertraut. Und genau so machen das auch hier in Berlin Zehntausende von Vätern und nochmal zehntausende von Vätern aus aller Herrren Länder.

Abhauende Väter, überforderte, alleingelassene  Mütter – das ist der entscheidende Knackpunkt in Millionen und Millionen von Sozialhilfeexistenzen in Deutschland, in Frankreich und auch in den USA. Wenn Vater und Mutter hingegen auch in schwierigsten Verhältnissen zusammenbleiben und sich gemeinsam um das seelische Wohl und den materiellen Lebensunterhalt der Kinder kümmern, kann wenig schiefgehen – wenigstens so viel kann nicht schiefgehen, wie es in Undines Leben schiefgegangen ist.

Und eine törichte französische Gesellschaft lässt sich in eine Diskussion über gesetzlich anerkannte Homo-Eltern hineintreiben! Genau denselben gefährlichen Unsinn hatten wir schon vor 30 Jahren, als zahllose Frauen erklärten: „ICH WILL EIN KIND! Ob mit oder ohne Vater, ist doch egal.“ Dreißig Jahre später sagen fast alle Frauen: „Ein Kind ohne Vater, ohne schützende Familie in die Welt zu setzen, ist eine riesige Herausforderung, an der ich fast zerbrochen wäre. Ich würde es keiner Frau zur Nachahmung empfehlen.“ Sie haben alle ein Kind gemacht, ohne an die Folgen des Kindermachens, ohne an einen Vater, den das Kind fast so nötig braucht wie die Mutter, zu denken, so dass einem zuletzt die kecken Verse Wagners über das vaterlose Kinderkriegen in den Sinn kommen:

WAGNER:
Es wird ein Kind gemacht!

DIABOLISCHE RÜCKFRAGE:
Ein Kind! Und welch verliebtes Paar
Habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen?

WAGNER:
Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.

Fragt doch die Kinder, was sie wollen, fragt Undine Zimmer, was sie als Kind gebraucht und gewollt hätte!

Sunkist als Statusssymbol? – Ja, ein echtes Sunkist  war auch für uns Kinder in Augsburg damals das größte der Gefühle, wenn Vater oder Mutter uns ein Sunkist oder eine Flasche  Tri Top oder gar ein Cappy oder gar ein Fix-und-Foxi-Heftle spendierten. Sunkist, das gab’s nur am Sonntag. Dennoch fehlte es uns in der Kindheit an nichts wesentlichem. Wir hatten Mama, die sich kümmerte und auch ein bisschen Geld verdiente, Papa, der sich kümmerte und vor allem Geld verdiente, ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen, kostenlose Schulbildung, gesicherte medizinische Versorgung und jeden Tag grünes Gemüse (Veggies, wie die deutschen Grünen heute sagen), Quark und Milch und Schwarzbrot, das die Wangen rot macht, und Pfefferminztee so viel wir wollten.

So aber stand Undine sehnsüchtig am Fenster, wartend, fragend: Wo bist du, Vater?

Ich bleibe dabei! Was Kinder in Deutschland und überall brauchen, ist folgendes:

Mama, die sich kümmert und bei Bedarf auch Geld verdient, Papa, der sich kümmert und bei Bedarf Geld verdient, ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen, kostenlose Schulbildung, gesicherte medizinische Versorgung und jeden Tag Gemüse (Veggies, wie die deutschen Grünen sagen), Quark und Milch und Schwarzbrot und Pfefferminztee so viel sie wollen.

Sunkist ist nicht nötig. Sunkist ist entbehrlich. Auch ohne Sunkist können Kinder glücklich sein. Analı-babalı büyüsün.

http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article119215809/Armut-ist-hungrig-gierig-mitleiderregend.html

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Liebe zur Menschheit oder Liebe zum Einzelnen?

 Fernstenliebe, Friedrich Schiller, Goethe, Liebe, Philosophie, Psychoanalyse  Kommentare deaktiviert für Liebe zur Menschheit oder Liebe zum Einzelnen?
Apr. 142013
 

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Das zutiefst Ungerechte der Liebe zum Einzelnen war den Philosophen oftmals ein Dorn im Auge. Montesquieu, so sahen wir vor wenigen Tagen, erwartet von der wahrhaft philosophischen Tugend eine gleichmäßig abstrahlende Hinwendung und Hilfeleistung. Tugendhafte Nächstenliebe, die Auswahl und  Bevorzugung im Erbarmen liefert, ist laut Montesquieu nicht vollkommen tugendhaft zu nennen!

Der große Dichter dieser allgemeinen, der menschheitsumfassenden Liebe ist Friedrich Schiller. Seine Hymne An die Freude – von Beethoven im Schlusschor der 9. Symphonie vertont – ist eine unüberbietbar pathetische Anrufung des universalen Bandes der Sympathie, das alle Wesen zusammenschlingt.

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!

Einen deutlich begrenzteren, einen anderen Ton schlug Goethe in seinen Urworten. orphisch an.Er scheint hier direkt auf Schiller zu antworten:

Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

Das ungesteuert Planlose, das letztlich Unverhoffte und Unverdiente der Liebe fasst Goethe sehr treffend. Liebe ist nicht etwas, was wir verdienen, wie das Ich Freuds es verlangt, sondern etwas, was uns entgegenkommt, etwas, was sich auf uns stürzt. Wenn sie gelingt, gar erwidert wird, sprechen wir von Gnade, wenn sie unerwidert bleibt, von Entbehrung und Leiden.

Sehr schön auch, wie Goethe hier das Androgyne, die Geschlechter Überspringende der Liebe fasst – SIE, denn wir sagen DIE Liebe. Und doch ER, denn es heißt DER Eros. In dieser Doppeltheit herrscht ein höheres Vorwaltendes, das die tiefe Vereinzelung des Menschen zu überwinden verheißt.

Ερως, Liebe

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

via Goethe, Johann Wolfgang, Theoretische Schriften, »Urworte. Orphisch« – Zeno.org.

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Rinuncio ex legittimis causis: Die Entsagenden

 Familie, Goethe  Kommentare deaktiviert für Rinuncio ex legittimis causis: Die Entsagenden
Feb. 152013
 

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„Ich entsage aus hinreichenden Gründen“ – so Coelestin, der povero cristiano, der „schlechte Christenmensch“ und Einsiedel des Jahres 1295.

 Goethe sagt 1790 in seinen Venezianischen Epigrammen zu Recht:

Warum treibt sich das Volk so und schreit? Es will sich ernähren,
Kinder zeugen und die nähren, so gut es vermag.
Merke dir, Reisender, das und tue zu Hause desgleichen!
Weiter bringt es kein Mensch, stell er sich, wie er auch will.

Jeder mag sich zu den beiden Distichen verhalten, wie er will. Für mich enthalten sie eine schmerzhafte Einsicht, eine neuartige Demut, eine schmerzhafte Beschränkung der Wirkungsmöglichkeiten, die wir schlechterdings annehmen müssen.

Dennoch fragen wir zurück: „Warum tatest du es nicht dem venezianischen Volke nach, mein lieber Goethe? Warum heiratetest du nicht, sobald du nach Weimar zurückgekehrt, zeugtest eine reiche Kinderschar und gingst völlig im Kinder-Zeugen und Kinder-Nähren auf?“

Seine Antwort hätte lauten können:

„Das Sorgen für eine vielköpfige Familie mit all ihren Mündern und Häuptern und Herzen sowie die übernommene berufliche Tätigkeit hätten kaum Raum für eine weitere beständige Arbeit am Faust, am West-Östlichen Divan, an all den vielbändigen Werken gelassen.  Außerdem hätte meine Familie die gesamte künstlerische und aus innerem Beruf geübte gesellschaftliche Tätigkeit mittragen müssen, hätte des Vaters oft entbehren müssen. Dies wären sie nicht bereit gewesen zu leisten, was unabweisbar zur Quelle dauernden Verdrießlichkeit bei Weib und Kinderschar und nicht zuletzt beim Verfasser selbst geworden wäre. Und so beschied ich mich denn, sobald ich nach Weimar zurückgekehrt war, entgegen jenen mit tiefsinnigem Leichtsinn hingeworfenen Zeilen mit einem nicht völlig zum Ehe- und Familienstand hingewendeten Leben und räumte dem Weib und dem Kind gerade so viel Raum ein, als eben noch den wechselseitigen Neigungen und Antrieben eines jeden zuträglich war.“

Bild: ein Blick auf die Insel San Giorgio Maggiore, Venedig, 30. Januar 2012

Bild:

 Posted by at 22:45
Mai 052012
 

Unbedingt lesenswert – der folgende Beitrag in der FAZ:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gastbeitrag-vom-tod-europaeischer-werte-11732949.html

Ihn verantwortet die Autorin, die – sehr zu meiner innigen Freude – angesichts der Finanzkrise den Schneid in der FAZ damals aufbrachte, aus Goethes FAUST II zu zitieren, Szene im Kronsaal, wo ein tattriger Kaiser (Maximilian?) von einem gerissenen Einbläser hinters Licht geführt wird … ! Die Assignatenwirtschaft wurde ins Leben gerufen, man schrieb staatliche Schuldverschreibungen aus … Wertpapiere, die auf noch zu findende Bodenschätze ausgestellt wurden.

Mindestens DAS haben Sie schon großartig gemacht und geschrieben, Frau Wagenknecht.

Und die Soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard war in der Tat als Gegenentwurf zu einem schrankenlosen Manchester-Kapitalismus genauso wie als Gegenentwurf zu den auf Gewalt und Massenmord gestützten kommunistischen und nationalsozialistischen Diktaturen, etwa des faschistischen Italien, der kommunistischen UDSSR und des nationalsozialistischen Deutschen Reiches gedacht.

Und die soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard hat funktioniert und wird auch weiter funktionieren. Wir müssen sie nur verteidigen, pflegen und hegen!

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„Straßen, redet ein Wort!“ Hä? Können Straßen reden?

 Bergmannstraße, Goethe  Kommentare deaktiviert für „Straßen, redet ein Wort!“ Hä? Können Straßen reden?
Juni 242011
 

„Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!
Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?“

So schrieb einmal ein Dichter aus Italien nach Deutschland. Welcher? Das tut hier nichts zur Sache. Uns kommt es auf das Bild an: „Straßen, redet ein Wort!“

Die Bergmannstraße redet noch keine deutlich vernehmbare Sprache. So unser Befund vom 22.06. Schau das Bild hier oben an oder schlendere die Bergmannstraße entlang! Dich umgibt eine verwirrende Fülle an einzelnen gebauten und beweglichen stummen Dingen: Autos, Häuser, fahrende Autos, Bordsteine, Lieferfahrzeuge, Schilder, parkende Autos, Fassaden, Fahrradbügel, Tischchen und Stühlchen, Aufgänge, Radler, parkende LKW, Pflastersteine, usw. usw.  Zersplitterte Aufmerksamkeit!

Ich habe vor wenigen Tagen mit dem Fahrrad die gesamte Bergmannstraße abgefahren, habe ein Video gedreht, einige Eindrücke aufgesprochen und das Ganze auf Youtube gepostet. Ihr werdet sehen: Ruckelnde Bilder, zersplitterte Aufmerksamkeit, Störungen, Interferenzen, Gefahr der Kollision allenthalben!

Anders klingt es bei den Fußgängern! „Wenn man in der Bergmannstraße wohnt, braucht man nicht in die Toskana zu fahren“, sagt Olaf Dähmlow vom Verein „Kiez und Kultur“ laut Tagesspiegel heute (S. 14). Wozu nach Italien fahren? Nein, nein, man setzt sich einfach ins Parlamento degli Angeli und hört ringsum die bunteste Mischung! Der Antiquitätenhändler neben dem Parlamento degli Angeli spricht mindestens Deutsch und Arabisch, verkaufte uns aber gleich danach die gesammelten Lieder Franz Schuberts auf 7 CD im Schuber für 15 Euro! Wir versuchten ihn auf 10 Euro runterzufeilschen – es gelang nicht. „Es sind 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 CDs, also muss es  15 Euros kosten!“ Das sahen wir ein. Denn so kostet jede CD nur 2,1428571 Euro. Das scheint also der Fixpreis für CDs zu sein.

Können Straßen reden? Die meisten sicher nicht. Aber seit Jahrtausenden haben es die Menschen immer wieder versucht, Straßen so umzugestalten, dass ein gemeinsamer Menschenwille darin sichtbar wird. Beginnend von der löwengeschmückten Prozessionsstraße aus dem Hügel von El-Kasr, die zum Ischtar-Tor führte, über die Via sacra des antiken Rom bis hin zur Allee „Unter den Linden“: Städte brauchen Plätze und Straßen, in denen Bürgerwille ein einigendes Band findet!

Solche besonderen herausgehobenen Straßen und Plätze sind Aufmerksamkeitssammler: Prismen, in denen sich der atomisierte Gemeinsinn bündelt und reflektiert:  The shared space of „joint attention„, wie wir es wohl mit dem Evolutionsbiologen Michael Tomasello sagen dürfen, der am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Antropologie lehrt und forscht.

In solchen umfassend städtebaulich gestalteten Stadt-Räumen und Stadt-Straßen fängt und bildet sich die unablässig wandelbare Identität einer Stadtgemeinde.

Ich meine: Die Bergmannstraße verlangt geradezu nach einer solchen gemeinsamen städtebaulichen Sprache, in denen diese Gemeinde zu ihrer Sprache findet.

Ja, Goethe hat recht: Straßen können reden! Wenn man es will, wenn man sie zum Sprechen bringt.

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Juni 032011
 

02062011669.jpg„Wir haben jetzt auch einen deutschlandweit bekannten Schriftsteller“, berichtete mir vorige Woche eine Frau aus der bayerisch-schwäbischen Hauptstadt stolz: Georg Klein. Ich sofort zum Anagramm am Mehringdamm, das neueste Buch geholt.

In der Tat. Der Mann verdient Ruf und Ruhm. Ich beschaffte mir seinen neuesten Erzählungsband, welcher im Titel bereits die verquere Mischung aus Altväterlich-Bekanntem und Messerscharf-Schlussfolgerndem birgt, die dann das gesamte Buch durchzieht, so dass man als Leser zwischen Stirnkrauslegen, versonnenem Glucksen und lautem Auflachen hin- und hergeschaukelt wird.

Man rätsle etwa an folgendem Satzknöchelchen herum:

Ein Netzwerk von deutschen Auslandskulturinstituten, benannt nach einem mittlerweile wohl längst vergessenen Dichterfürsten, half mir weiter.

Wer könnte damit gemeint sein? Vielleicht Bert Brecht, der ja ebenfalls aus der Hauptstadt jenes merkwürdig-zwittrigen Hybridgebildes besteht, welches 1806 durch Napoleon dem neuen Königreich Bayern zugeschlagen ward?

Oder auch die folgende, hingestichelte Kennzeichnung des Sozialistischen Realismus:

Weitwinklig aufgenommene Ernteszenen, in denen Mähdrescher, grazil wie Gottesanbeterinnen, über weiß schimmernde Roggenfelder in eine untergehende Sonne hineinfahren.

Quellenangabe:

Georg Klein: Die Logik der Süße. Erzählungen. Erste Auflage September 2010. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 238 Seiten, € 18,95. Hier: S. 106, S. 87

Bild: Die Havemanstraße in Berlin-Marzahn, wie gestern erfahren.

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Zitate und Plagiate – gilt in der Blogosphäre auch das Urheberrecht?

 Freiheit, Goethe, Griechisches, Grundgesetz, Homer, Platon, Rechtsordnung, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Zitate und Plagiate – gilt in der Blogosphäre auch das Urheberrecht?
Feb. 162011
 

Gilt im Internet, in der Blogosphäre, auch das Urheberrecht? Diese Frage stelle ich mir soeben beim flüchtigen Überlesen der Schlagzeilen. Meine Antwort lautet uneingeschränkt: ja!

In diesem Blog habe ich deshalb seit jeher folgende Regeln eingehalten: Alle Zitate sind eindeutig erkennbar, und zwar so, dass der Leser jederzeit die Quellen nachprüfen kann.

Längere Zitate, also etwa ganze Absätze, rücke ich samt Herkunftsangabe ein, so dass sie auch beim flüchtigen Lesen allein schon durch die Textanordnung als Zitate erkennbar sind.

Kürzere Zitate setze ich in Anführungszeichen.

Alle nicht als Zitate erkennbaren Äußerungen in diesem Blog sind eigenständige Hervorbringungen des Bloggers Johannes Hampel.

Allerdings gilt: Zahlreiche klassische Zitate Goethes, der Bibel, Homers, Platos usw. – etwa „ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür, und rein ist bald das Stadtquartier“   – sind nicht durch genaue Fundstellen kenntlich gemacht. Dadurch genügen sie nicht den Anforderungen, wie sie etwa an eine wissenschaftliche Dissertation zu stellen wären. Sie bieten im Wortlaut möglicherweise geringfügige Abweichungen vom bezeugten Text, da sie aus dem Gedächtnis zitiert werden. Damit folge ich einer jahrtausendealten Übung, wonach die überragenden Texte als „immerwährender Besitz“ (Thukydides) dem Gedächtnis eingeprägt werden und dabei selbstverständlich gewisse unwillkürliche Überarbeitungen erfahren. So zitiert Platon „seinen“ Homer an etwa 200 Stellen oft ungenau, G.W.F. Hegel wandelt Goethe- und Schiller-Zitate höchst eigenwillig ab – sehr schön zu beobachten etwa in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Nach heutigem Urheberrecht hätte sich Hegel eines Vergehens schuldig gemacht.

Bei diesen von mir aus dem Kopf zitierten Autoren handelt es sich ausnahmslos um Texte, die mittlerweile gemeinfrei sind. Das Gleiche gilt für allgemein zugängliche Texte wie etwa die Grundrechteartikel des Grundgesetzes.

 Posted by at 21:32
Feb. 162011
 

„Wer räumt auf?“ Eine ungeliebte Frage, die uns vier Geschwistern in der Kindheit immer wieder entgegenschallte, wenn wir unser Kinderzimmer als lustiges Schlachtfeld hinterlassen hatten. Oft wurde dann von Mutti gesagt: „Heute räumst DU auf!“ „Wieso immer ICH?“ Klare Ansage, der wir uns (meist) murrend fügten. Kleine Kinder brauchen derartige klare Ansagen!

Heyder räumt auf!“ Mit dieser klaren Ansage zieht ein NPD-Kandidat in den Bürgermeisterwahlkampf. „Unser Kandidat räumt auf!“ Eine typische NPD-Wahlaussage, mit der auch tatsächlich die Rechtsextremen in der ehemaligen DDR hohe Stimmenanteile erzielen. Auch gestern in frontal 21 war diese Ansage in der Berichterstattung über rechte Gewalt in der ehemaligen DDR zu sehen: „Der NPD-Kandidat xy räumt auf!“

de.indymedia.org | Sachsen-Anhalts NPD im Wahlkampf

Bildwechsel! Auf dem Tahrir-Platz in Ägypten ziehen Bürgerinnen und Bürger, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Greise mit Schaufel und Besen auf und fegen buchstäblich die Hinterlassenschaften des tagelangen Ausharrens hinweg. Sie haben die ersten Früchte des politischen Kampfes eingefahren, die Revolution in Gang gebracht. Und jetzt räumen die Bürger auf!

Was gefällt euch besser? Der Tahrir-Platz in Ägypten oder die rechtsextreme Propaganda in Sachsen?

Bei aller Liebe zu Sachsen: Bei der Ansage „Unser Mann räumt hier auf!“ schaudert mich.

Umgekehrt halte ich das bürgerschaftliche Engagement auf dem Tahrir-Platz in Kairo für vorbildlich. Tugenden wie Gemeinsinn, Freiheitsliebe, Verantwortung, Leistung, Geschwisterlichkeit, Fleiß, Umweltpflege – die brauchen wir! Die Ansage lautet: „Bürger, es ist eure Stadt! HOLT EUCH DIE STADT ZURÜCK! Bürgerinnen, holt euch das LAND zurück!“

Wir brauchen nicht den starken Mann, der in der Stadt aufräumt. Wir brauchen Gemeinsinn und Fleiß. Wir sind keine Kinder!

Ein jeder kehre vor seiner Tür,
und rein ist bald das Stadtquartier.

So liebe Kinder, das war … deutsch. Von Goethe. Goethe, kennt ihr den? Das war einmal  großer Dichter.

Das stumme Bild zeigt einen Blumenladen in Kreuzberg am Mehringdamm, aufgenommen vorgestern.

 Posted by at 10:31
Jan. 302011
 

29012011301.jpg Dieser wohlgemeinte Ratschlag Friedrich Nietzsches schoss mir heute in den Sinn, als ich an Potsdams Neuem Markt erstmals das neu hergerichtete Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte mit seinem sprechend-fragmentübersäten Innenhof besah. Was für ein herrlicher Sonnenschein! Kalte, klare, frostige, gleichsam nachgemeißelte Formen sind dort angeordnet, als wären es aufgebahrte Säulen. Über den Stolz hatte ich so manches im Einstein Forum erfahren. Und jetzt lagen die einst so stolzen, geriffelten Säulen da, fast niedergebeugt, und doch irgendwie noch durchleuchtet von einstiger Wucht. Zu wuchtig, zu stolz, um stehen zu bleiben?

Der Neue Markt in Potsdam hinterließ heute in mir einen der stärksten bildnerischen Eindrücke seit langem.  In der Regionalbahn zurück nach Berlin las ich in der Süddeutschen Zeitung Gustav Seibts Rezension der Arbeit von Katharina Mommsen über die Beziehung zwischen Schiller und Goethe. „War es Männerliebe?“

Mommsen hat sich wohl verstiegen mit ihrem Ansatz, Goethe und Schiller hätten eine im Kern homosexuelle Beziehung vertuscht und verdeckt.

Die Liebes-Diskurse des 18. Jahrhunderts kannten keine scharfe Scheidung zwischen Freundschaft und Liebe, standen nicht unter dem Bann der Prüderie, die später kam. Gerade so strotzend dem Weib zuneigende Männer wie Goethe und Schiller brauchten sich gar nicht dagegen zu wehren, einem Mann Zuneigung und wohl auch gar Liebe zu gestehen. Schön das Wort Goethes: „Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe“. Dem entspricht Schillers Spruch:

„Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.“

 Posted by at 00:55