Vom Vertrauen in das Wort

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Jul 172015
 

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Täler grünen, Hügel schwellen,
buschen sich zu Schattenruh,
und in schwanken Silberwellen
wogt die Saat der Ernte zu.
Wunsch um Wünsche zu erlangen,
schaue nach dem Glanze dort!
Leise bist du nur umfangen,
Schlaf ist Schale, wirf sie fort.

In diese Verse, die sich mir heute unwillkürlich beim Abfahren der Thüringer Städtekette zwischen Mechterstädt und Laucha aufdrängten, mag wohl vieles von dieser arkadischen Landschaft an den Ufern der Hörsel eingeflossen sein, die Goethe so oft durchritt, durchwanderte, durchfuhr. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Ich glaubte daran! Und dieser Glaube daran, dass ein anderer eben diese Landschaft mit ähnlichen Gefühlen gesehen haben mag, der Glaube, dass wir beim Hindurchradeln im Grunde dasselbe sehen, hören und denken wie ein anderer, wie Goethe oder ein anderer, ist Quelle tiefen Glücks.
Ein Glaube nur, zweifellos, aber ein schöner! Er führt zur Gemeinschaft im Wort.

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Sehnendes Erwarten: Dornburg

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Jul 102015
 

Noch zwischen Schlaf und Traum erschollen mir heute die folgenden Verse im Ohr. Ich rechne sie zu den liebsten, den schönsten der deutschen Sprache überhaupt. Wie schön sie sind, erschließt sich freilich erst beim Auswendiglernen. Aus diesem Grunde lernte ich sie bereits als Jugendlicher vor Jahrzehnten auswendig und rezitiere sie heute noch immer wieder einmal. Geschrieben wurden sie in Dornburg im September 1828:

Früh, wenn Thal, Gebirg und Garten
Nebelschleiern sich enthüllen,
Und dem sehnlichsten Erwarten
Blumenkelche bunt sich füllen;
Wenn der Aether, Wolken tragend,
Mit dem klaren Tage streitet,
Und ein Ostwind, sie verjagend,
Blaue Sonnenbahn bereitet:

Dankst du dann, am Blick dich weidend,
Reiner Brust der Großen, Holden,
Wird die Sonne, röthlich scheidend,
Rings den Horizont vergolden.

Wie gelangt man aber heutigentags am bequemsten nach Dornburg? Ein Blick in einen neuen Radfernwegeführer zeigt es: Dornburg liegt nur wenige Kilometer hinter Jena am Saaleradwanderweg, der – wie es der Radtourenführer sagt – von der Saalequelle durch die Wälder Oberfrankens und Thüringens, vorbei an großen fjordartigen Talsperren durch stille, „verschieferte“ Dörfer führt.

Vom Bahnhof Jena-Paradies rollt man also mit dem Fahrrad in nur 30 Minuten flußab hinunter zu der Stelle, wo Goethe diese unsterblichen Verse schrieb. Von Jena-Paradies zu Goethes Tal- und Berglandschaft ist es nur ein kurzes Stück.

Quellen:
„Dornburg, September 1828“. In: Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band, Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 1885, S. 210

„Saale-Radwanderweg“. In: RadFernWege Deutschland. Die attraktivsten Radtouren durch Deutschland. Ein original bikeline-Radtourenbuch. Verlag Esterbauer, 9., aktualisierte Auflage, Rodingersdorf 2015, S. 388-392, Zitat S. 388

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Am fallenden Bache

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Jun 072015
 

Werdenfelser Land 20150607_182003

Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Die Frage der Fragen, so möchte man meinen! Parmenides mag sie – soweit für uns fassbar – als erster so gedacht haben. Heidegger hat sie im 20. Jahrhundert kräftig und laut hinausgerufen, eine staunende Philosophenwelt hörte ihm zu – und hört heute lieber weg. Das Staunen des Philosophen darüber, dass überhaupt etwas das Bestimmte ist, was es ist, und nicht vielmehr etwas anderes Bestimmtes ist, steht als Antriebskraft hinter dem platonischen Dialog Parmenides, dem Gipfelwerk antiker Dialektik.

Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist, Staunen darüber, dass ein Etwas etwas Bestimmtes ist, dies dürfte die doppelte Erfahrung des Staunens sein, aus der sich für Aristoteles die Philosophie speist. Wir dürfen jenes erste Staunen das ontische Staunen, dieses zweite Staunen das ontologische Staunen nennen.

Noch aber verbleibt dieses Staunen, dieses philosophische Fragen im vorpersönlichen Bereich, noch fragt es nicht danach, dass ja ein Ich es ist, welches diese Fragen stellt, dass ja ich es bin, der diese Fragen stellt.

Was heißt dies – ein Ich? Warum bin ich überhaupt einer, eine Person – und warum bin ich nicht vielmehr nichts oder doch eher etwas anderes, zum Beispiel ein Fels oder ein Grashalm?

Das Gewahrwerden dieses Ich-Bewusstseins widerfährt einem unverdient. Du erlebst es quälend in der Verzweiflung einer schlaflosen Nacht, du erlebst es beglückend in der Begegnung mit einem sprechenden Du, du erlebst es auch in der Begegnung einer als sprechend, raunend, murmelnd erfahrenen Natur. Das Ich findet, ja es erfindet sich im Zusammengehen mit einer belebten, beseelten Außenwelt.

Heute sprach ich bei einer Busfahrt ins Tal hinab mit einem Geologen über die uns umgebenden Alpen. „Du befasst dich mit der Geschichte der felsigen Natur. Dir erzählen die Felsen die Geschichte der Jahrmillionen!“

„Da hast du recht“, erwiderte der Geologe. „Überall entdecke ich im Werdenfelser Land Spuren dessen, was vor Jahrmillionen gewesen ist. Werdenfels – Felswerden! Aber du als Philologe hast die Aufgabe, das wiederzuerzählen, was andere vor dir erzählt haben. Dir erzählen die Sprüche und Sagen der Alten die Geschichte der Jahre, der Jahrzehnte, der Jahrhunderte und der Jahrtausende!“

Am Abend stieg ich durchs Tal den Weg in Richtung zum Waxenstein hoch. Wie zur Bestätigung des am Morgen Gesagten fielen mir die herrlichen, die unvergänglichen Zeilen des Dichters ein. Der Geolog hat recht. Kaum je in einem anderen Werk geht dieser Übergang aus der uralten Natur in die ihrer selbst gewahr werdende Seele, dieses Innewerden des Personalen so bezwingend hervor wie in diesem Eintrag vom 10. Mai.

Lies selbst, und schreibe den Abschnitt selbständig zu Ende:

Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart […]

Foto: Sanft steigt der Weg aus dem Tal empor zum Waxenstein.

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Weinende Männer sind gut. Tränen beleben den Staub

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Jan 272015
 

Ein heute vor allem in Deutschland komplett vergeßner morgenländischer Dichter deutscher Sprache – sein Name sei hier unerwähnt – schenkte uns beim Auspacken von Umzugs-Bücherkisten folgende Botschaft:

Laßt mich weinen! umschränkt von Nacht,
In unendlicher Wüste,
Kameele ruhn, die Treiber desgleichen,
Rechnend still wacht der Armenier ;
Ich aber neben ihm berechne die Meilen,
Die mich von Suleika trennen, wiederhole
Die wegverlängernden ärgerlichen Krümmungen.

Lasst mich weinen! das ist keine Schande.
Weinende Männer sind gut.
Weinte doch Achill um seine Briseis;
Xerxes beweinte das unerschlagene Heer,
Über den selbstgemordeten Liebling
Alexander weinte.

Lasst mich weinen !  Tränen beleben den Staub.
Schon grunelts.

Quelle:
Lyrik des Abendlands. Gemeinsam mit Hans Hennecke, Curt Hohoff und Karl Vossler ausgewählt von Georg Britting. Carl Hanser Verlag, München 1963, S. 356

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Verlusterfahrungen alter Männer

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Dez 162014
 

2014-05-01 08.41.15

Spätabends nach des Tages Plackerei und Mühsal noch etwa 30 Minuten mit Kanzler Müller und Goethe verbracht. Der späte, der späteste Goethe hat einen Freimut erreicht, den selbst heute nur wenige zeigen, insofern ist er durchaus dem späten, dem spätesten Adenauer zu vergleichen. Das Verstummen, das Versiegeln der eigenen Meinung wird hier Ausdruck höchster Freiheit, an deren Grund die Verzweiflung derer liegt, die zu alt geworden sind, als dass andere sie ganz verstünden. Sie hoffen vielleicht darauf, dass die Nachwelt sie besser versteht als die Mitwelt.

O wir alten, wir uralten Männer!

„Ich kann eigentlich mit niemand mehr über die mir wichtigen Angelegenheiten sprechen, denn niemand kennt und versteht meine Prämissen.“  So Goethe am 5. April 1830.

„Ich muss die Bücher versiegeln, damit ich nicht in Versuchung gerate, sie doch etwa zu lesen.“

„Man hüte sich vor dem falsch verstandenen Zentralismus! Es gab eigentlich nie ein Zentrum in Weimar. Als Weimar groß war, da ward es von 6 Menschen geprägt, die einander nicht verstanden und einander nicht grün waren. So entstand das herrlichste Gegeneinander, aus dem höchst bedeutende Werke hervorgingen. Heute ist alles nach Plan und Quadrat eingeteilt; die Ergebnisse sind matt.“ So oder so ähnlich berichtet es der Kanzler Friedrich von Müller.

Was der Alte hier anspricht, trifft auch heute noch zu. Die Verachtung der Großstädter für alles, was in der Provinz entstanden ist, bekomme ich gerade hier in Berlin immer wieder mit Händen zu greifen. Alle Welt strebt nach Berlin, Berlin wird überschüttet mit Lob, mit Geld, mit Beachtung.  Die Club-Szene verlangt vermehrt nach staatlichen Subventionen, denn „ohne die Clubszene wird Berlin unattraktiv“.

So drohen Städte wie Wittenberg, Eisenach, Gotha, Hildesheim, Wismar, Magdeburg, Naumburg zu veröden und zu verwaisen. „Ich war in Osnabrück, und ich konnte die provinzielle Plattheit der Menschen schon beim ersten Blick erfahren!“ So oder so ähnlich höre ich es immer wieder. Es missfällt mir, dies zu hören.

Eisenach, das ich im Mai besuchte, hat mit den höchsten demographischen Verlust unter allen deutschen Landkreisen! Und dabei wurde hier 1869 die SPD gegründet, hier ging Bach zur Lateinschule, hier übersetzte Luther das Neue Testament. Es droht die Gefahr, dass diese alten Städte irgendwann unverstanden dastehen, dass niemand mehr weiß und schätzt, was in ihnen vorgefallen, was bis heute noch eine tiefe Prägewirkung auf unsere Geschichte entfaltet. Irgendwann geht so das Wissen darum verloren, was die SPD heute ist, was Bach heute ist, was Luthers Bibelübersetzung heute ist.

Irgendwann wird  die Vergangenheit verstummen; es wird dann nur noch das platte Präsens gelten: „My life is powered by SAMSUNG.“

Bild: Eisenach, Marienstraße 57, Aufnahme vom 01.05.2014: Hier im Goldenen Löwen wurde 1869 der Gründungskongress der Sozialdemokratischen Deutschen Arbeiterpartei (SDAP) unter Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht eröffnet.

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Gewissensentlastung durch Vergessen?, oder: „K.! Wo ist dein Bruder H.?“

 Goethe, Kain, Kommunismus, Russisches, Ukraine, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Gewissensentlastung durch Vergessen?, oder: „K.! Wo ist dein Bruder H.?“
Jun 092014
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Schon verloschen sind die Stunden,
Hingeschwunden Schmerz und Glück;
Fühl‘ es vor! du wirst gesunden;
Traue neuem Tagesblick.
Täler grünen, Hügel schwellen,
Buschen sich zu Schattenruh;
Und in schwanken Silberwellen
Wogt die Saat der Ernte zu.
 
„Faust leistet wahrhaftig keine ‚Trauerarbeit‘. Nicht die auf der Fähigkeit zur Schuldeinsicht beruhende moralische Würde des Menschen erweist sich an ihm, sondern eine amoralisch vegetative Regenerationsfähigkeit auch der menschlichen Natur. Nichts mehr wird erinnert. Fausts Gewissensentlastung verdankt sich dem Vergessen.“
 
 
Eine großartige, zugleich niederschmetternde Deutung, die Albrecht Schöne hier anbietet! Sie ging mir gestern bei der Wanderung durch den gleichsam geschichtslos in der Mittagshitze brütenden Berliner Tiergarten-Park hin zur geschichtsträchtigen Luiseninsel durch den Sinn, wo ich die arkadisch-unsterblichen Verse des großen Deutschen Goethe und die des großen Italieners Dante murmelte.  Ein möglicher Sinn, wenn auch nicht der einzig mögliche Sinn von Arkadien ist es ja gerade, Unbill, Plackerei und Plage, the drudgery of life, wie die Engländerin sagt, Schuld und Schande der Geschichte zu vergessen, um damit Frieden und Freude zu erlangen. Frieden, Freude, ein ruhiges Gewissen, unbezähmbarer Tatendrang also durch Vergessen!
 
 
«Нельзя допустить, чтобы ужасы прошлого были преданы забвению… Надо все время напоминать о прошлом. Оно было, оказалось возможным, и эта возможность остается. Лишь знание способно предотвратить ее. Опасность здесь – в нежелании знать, в стремлении забыть, в неверии, что все это действительно происходило…» so schreibt Karl Jaspers 1949 in seinem Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“.
 
 
Die zitierte  Übersetzung verdanken wir einem Facebook-Eintrag des russischen Regisseurs Andrei Kontschalowski vom heutigen Tage. Die deutsche Urfassung des Buches von Karl Jaspers liegt uns zur Zeit nicht vor. Also behelfen wir uns mit der russischen Umformung.
 
 
Jaspers und Kontschalowskij sprechen sich hier – sehr im Gegensatz zu Goethe, sehr im Gegensatz zu Faust – gegen das Vergessen, gegen das Frage- und Erinnerungsverbot aus, welches allzulange die europäischen Völker voneinander getrennt hat. Gerade im Vergessen, im allzu reichlichen Trinken von den Flüssen Lethe und Eunoe, wie sie Dantes Matelda im 28. Gesange des Purgatorio anempfiehlt, erblicken sie die größte Gefahr.
 
 
Welch verheerende Auswirkungen das Nicht-Wissenwollen, das erzwungene Vergessen bedeuten, konnte ich immer wieder bei meinen Reisen durch die Länder des ehemaligen europäischen Ostens, des ehemaligen „Ostblocks“ beobachten. Aber auch in Jugoslawien, auch in Italien, auch in Spanien, auch in Deutschland werden immer wieder Frage- und Erinnerungshindernisse aufgerichtet. Es ist vielfach so, als wollte man alle Schrecken, alle Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts ausschließlich immer wieder bei den Deutschen vor der Tür abladen, den Deutschen buchstäblich vor die Füße knallen. Gerade hier im Zentrum Berlins, gerade auch bei den laufenden Debatten zur Eurorettungspolitik  ist es geradezu unmöglich, den übermächtig ragenden, den immer mehr Fläche beanspruchenden Monumenten deutscher Schuld und deutscher Schande auch nur einen Augenblick zu entkommen.
 
 
Oft höre ich dann, wenn ich als überzeugter Europäer und überzeugter Mensch – der ich ja sowohl dem Blute wie dem Geiste nach bin –  etwa kommunistische Massenverbrechen in der Ukraine, sowjetische Völkermorde und Angriffskriege, ausmerzende Massentötungen in der Krim, Brudermorde und Vertreibungen verwandter slawischer Völker wie der Tschechen und der Slowaken anspreche: „Das liegt doch jetzt schon so lange zurück!“ „Warum sollen wir denn jetzt noch von all den kommunistischen  Verbrechen sprechen, die in der Zeit von 1917 bis 1989 geschehen sind? Schnee von gestern! Und außerdem haben es die Kommunisten – im Gegensatz zu den Nationalsozialisten –  nur   gut gemeint. Also Schwamm drüber!“ „Es war so schrecklich in den sowjetischen Lagern, so furchtbare Dinge sind im GULAG geschehen, wir wollen nicht noch einmal daran erinnert werden. Das macht uns nur noch kränker als wir ohnehin schon sind.“
 
 
Ich meine in der Tat: Die ungestützte, die schonungslose, die nicht in bewusste Versöhnungs- und Trauerarbeit eingebundene Erinnerung an die großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts und auch die neuen Menschheitsverbrechen bereits des 21. Jahrhunderts hat oftmals eine nachträglich traumatisierende Wirkung bei den Nachkommen und Enkelinnen der Opfer, eine oftmals verheerende, stigmatisierende Wirkung bei den Nachkommen und Enkelinnen der Täter.
 
 
Und eine geradezu unauflöslich persönlichkeitsspaltende, eine im tiefsten Sinne panische Wirkung bei denen, die Nachkommen sowohl der Täter wie der Opfer sind – also etwa bei deutschen Kommunisten, die nach Krieg, Lagerhaft, Massenmorden der Sowjetunion im vollen Bewusstsein all der kommunistischen und nationalsozialistischen Massenverbrechen  zum Aufbau der DDR nach Deutschland zurückkehrten. Als ein besonders eindrückliches Beispiel dafür sei hier der gläubige Kommunist Alfred Kurella genannt, dessen Bruder Heinrich Kurella, ebenfalls ein gläubiger Kommunist,  von einem kommunistischen Schnellgericht wegen „Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation“ ähnlich Hunderttausend anderen gläubigen Kommunisten (wie etwa Boris Bibikow) zum Tode verurteilt und am 28.10.1937 erschossen wurde. Martin Schaad hat uns dazu eine aufrüttelnde, höchst lesenswerte, beunruhigende Untersuchung vorgelegt.
 
 
Eine unausgesprochene Frage durchzieht dieses ganze Buch:
Alfred Kurella! Wo ist dein Bruder Heinrich Kurella?
K! Wo ist dein Bruder?
 
 
 
Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt 1999, S. 401
 
Facebook-Auftritt von Andrei Kontschalowskij:
https://www.facebook.com/a.konchalovsky
 
Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche. Hamburger Edition, Hamburg 2014, hier bsd. S. 167
 
 
Bild: Wolfgang Mattheuer: Jahrhundertschritt. Skulptur im Hof des Brandenburgisch-Preussischen Hauses der Geschichte, Potsdam. Aufnahme des bloggenden Wanderers vom 04.06.2014
 
 

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Vergessen ohne zu vergeben? Schnee von gestern?

 Gedächtniskultur, Goethe, Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Vergessen ohne zu vergeben? Schnee von gestern?
Jun 072014
 

Am 15.2.1830 schreibt Goethe an Zelter, „daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewusst.“

Lethe – der wohltuende Strom des Vergessens. Goethe erinnert sich also wohlweislich der Leiden kaum. Welcher Leiden? Der eigenen, erlittenen, oder derjenigen, die er anderen zufügte? Dieses Kaum-Erinnern – eine hohe Gabe Gottes! Was für ein arges, kantiges, anstößiges Wort hat uns der Alte da wieder einmal hinterlassen! Wo bleibt die Gerechtigkeit, wo bleibt die Buße, wo bleibt die aktive Umkehr? Ist das nicht krank, was Goethe da sagt?

Und doch wird man ganz im Gegenteil krank, wenn man sich immer nur auf die Erinnerung vergangenen Leidens stützt und stürzt. Wenn man den Blick nicht nach oben, nach vorne  erhebt. Ein Extremfall ist es dann, wenn man eigene Leiden, eigene Schuld  aus der Vergangenheit festhält, festklammert und sie als solche dann an Kinder und Enkel weitergibt. Die Vergangenheit droht dann die Gegenwart, mehr noch die Zukunft zu ersticken.

Ein Beispiel für diese durch und durch rückwärtsgewandte, diese in der Vergangenheit erstarrte  Haltung ist der Prediger Johannes Chrysostomos, der nach einem Verbrechen – er hatte eine Jungfrau nach dem Liebeslager einen Felsen hinabgestürzt – gelobte, nie mehr den Blick nach oben zu erheben, ehe ihm eine Jungfrau nicht vergeben und ihn erlösen würde, und der statt dessen auf allen vieren jahrelang durch Gebüsch und Unterholz kroch. Eine Legende nur, gewiss. Lukas Cranach der Ältere hat sie gemalt, man sieht Johannes als mikroskopisch winziges Figürchen neben der strahlend selbstbewussten jungen, modernen Frau. Das meisterliche Gemälde des älteren Cranach hängt unter dem Titel „Junge Mutter mit Kind“  in der Wartburg. Ich bestaunte es am 1. Mai dieses Jahres.

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Auch wir in Arkadien

 Botticelli, Dante, Einladungen, Europäische Galerie, Goethe, Kupferstichkabinett  Kommentare deaktiviert für Auch wir in Arkadien
Jun 062014
 
2014-06-02 11.59.22
Königin Luise 2014-06-01 13.55.09
Meine lieben Leser, es herrscht eine unglaubliche, geradezu arkadische Ruhe und Heiterkeit hier in der Stadt! Übermorgen werde ich eine Museumsführung und eine Dichterlesung mit Dante und Goethe veranstalten. Hier ist meine Einladung:
Kain, auch du in Arkadien?
Wölbt sich des bunten Bogens Wechsel-Dauer
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend

Goethe, Faust, V. 4722f.
Liebe Freunde, liebe Kinder, die Gestalt Kains begegnet mehrfach im irdischen Paradies Arkadien. Warum ist das so? Gibt es nach schwerster Schuld einen Neuanfang?
Ausstellung
Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien
Kupferstichkabinett, Kulturforum Berlin-Tiergarten
Unser Treffpunkt: Pfingstsonntag, 8. Juni 2014, nachmittags 15.30 Uhr vor der Königin-Luise-Statue auf der Luiseninsel im Tiergarten, Berlin
Ohne Dante mit Eichhörnchen spielen die Kleinen:
– Finde den Weg durch das Labyrinth der Liebe des Guadagno!
– Zeichne das Eichhörnchen des Marcantonio Raimondi ab!
– Wie viele Saiten hat die Lira da braccio des Gottes Apoll?
Mit Dante ohne Eichhörnchen besprechen die Großen:
1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 1-16
Wir tragen vor:
– Dante Alighieri: Divina Commedia, Purgatorio, canto XXVIII (in italienischer Sprache)
– J.W. Goethe: Faust, Anmutige Gegend, Verse  4613-4727 (in deutscher Sprache)
Wir betrachten einige Drucke im Katalog der Ausstellung, vor allem:
– Agostino Veneziano: Allegorie der Vertreibung aus dem Paradies und das Opfer Abels
– Cristofano di Michele, genannt Robetta: Adam und Eva mit Kain und Abel
– Sandro Botticelli: Das irdische Paradies. Dante und Matelda
– Giulio Campagnola: Die Buße des hl. Chrysostomus
Anschließend gehen wir nach kurzem Fußweg etwa um 16.30 Uhr in die Ausstellung „Arkadien – Paradies auf Papier“ im Kupferstichkabinett am Kulturforum.
Johannes
P.S.: Es ist ein lockeres privates Treffen ohne beruflichen Anspruch. Kinder jedes Alters sind willkommen.
Eintritt in die Ausstellung für Erwachsene:
6.-, ermäßigt €  3.-
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre: Eintritt frei
Haltestelle Bus 200 Haltestelle Philharmonie
Bus M 29 Haltestelle Gedenkstätte Deutscher Widerstand
S-Bahn oder Bahn Potsdamer Platz
Bild: Die Statue der Königin Luise
 Posted by at 22:49

Auch du in Arkadien, Kain?

 Botticelli, Dante, Goethe, Kain, Koran, Kupferstichkabinett, Talmud  Kommentare deaktiviert für Auch du in Arkadien, Kain?
Jun 042014
 

Wölbt sich des bunten Bogens Wechsel-Dauer
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend

So schreibt es Goethe im Faust, Vers 4722f.

Wir erinnern uns: Faust hat ein schweres Verbrechen begangen, das ihn niederdrückt. Seine Schuld ist zu schwer, als dass er sie tragen könnte, „zu groß als das sie mir müge vergeben werden“, wie es im Buch Genesis in Luthers Übersetzung über Kains Fehl heißt.

Geht es weiter? Wie geht es weiter?

Die Gestalt Kains begegnet mehrfach im irdischen Paradies Arkadien. Warum ist das so? Gibt es nach schwerster Schuld einen Neuanfang?
Wir werden diesen Fragen nachgehen, genießen an Pfingsten den flammenden Wohllaut der vielen Sprachen und die zarte Augenlust einiger früher Drucke aus Italien.

Woher kam die Anregung? Sie kam aus dieser Ausstellung:

Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien
Kupferstichkabinett, Kulturforum Berlin-Tiergarten
Hier sind einige wichtige Aussagen zu Kain aus der jüdischen, christlichen und islamischen Überlieferung:
1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 1-16
Talmud: Traktat Sanhedrin 91 b
Koran: Sure 5, Der Tisch, Vers 27-35

Gibt es Vergessen der Schuld, gibt es einen Neuanfang, gibt es eine tabula rasa?

Dante und Goethe schicken uns an den Fluß Lethe, den Fluß des Vergessens:

ed ecco più andar mi tolse un rio
che ’nver sinistra con sue picciole onde
piegava l’erba che’n sua ripa uscio
Dante Alighieri: Divina Commedia, Purgatorio, canto XXVIII, 25-27

Wir betrachten einige Drucke in der Ausstellung, vor allem:
– Agostino Veneziano: Allegorie der Vertreibung aus dem Paradies und das Opfer Abels
– Cristofano di Michele, genannt Robetta: Adam und Eva mit Kain und Abel
– Sandro Botticelli: Das irdische Paradies. Dante und Matelda
– Giulio Campagnola: Die Buße des hl. Chrysostomus

Katalog: Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien. Hgg. von Dagmar Korbacher. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014

 Posted by at 10:18

Wandle dich und werde leicht

 Goethe  Kommentare deaktiviert für Wandle dich und werde leicht
Feb 102014
 
Goethe sagt im „Gesang der Geister über den Wassern“:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.
Ständige Wandlung, Nicht-Verharren, das ist das Geheimnis des Lebens.
In dieser Wandlung der Seelen hin zueinander ereignet sich Gemeinschaft.
 Posted by at 16:45

Wer ist denn heutzutage noch ein Christ?

 Goethe, Magdeburg, Religionen  Kommentare deaktiviert für Wer ist denn heutzutage noch ein Christ?
Jan 132014
 

2014-01-03 12.56.54

„Wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet“. So Goethe zu Kanzer Müller am 7. April 1830.

Ein starkes, schroffes Wort des Alten vom Frauenplan. Er sprach viel und trank nicht wenig. Gleichwohl trifft Goethe, der ewige Ungläubige, der ewige credente und ewige  non-credente, dessen Faust und dessen Mephisto so oft  über die Kirchen ablästerten, den Kern des Christseins.

Ich allein vielleicht.

Die Kraft des Ich! Die Kraft des Alleinseins! Die Kraft des Vielleicht!

Es gibt und muss geben im Grunde des „Ich allein vielleicht“ ebensoviele Spielarten des Christseins, als es Christen gibt. Entscheidend bleibt stets ein Akt des Wählens, eine Tathandlung des „Für-Wahr-Haltens“, ein Schritt des Sich-in-Freiheit-Bindens. Wählen, Für-Wahr-Halten, Sich-Binden-in-Freiheit, das sind die drei Ausfaltungen des alten hebräischen, nur unzureichend ins Griechische, nur unzureichend ins Deutsche übersetzbaren Wortes Glauben.

Ohne diesen persönlichen Glauben ist es alles nichts mit dem gesamten Christentum. Er ist das Alpha und Omega. Die ganze „Dogmatik“, die gesamte „Christologie“, all die „absoluten Wahrheitsansprüche“,  ja die gesamte christliche „Theologie“, die „allgemeine Kirche“, verlieren dann ihren Grund. Dann leeren sich die Kirchen. Und zuletzt werden sie gnadenlos gesprengt, und einige Jahrhunderte oder Jahrtausende menschlicher Geschichte werden gewaltsam weggesprengt, wie in Magdeburg oder Potsdam in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach geschehen.
Quelle des Zitats:

Wolfgang Klien: „Er sprach viel und trank nicht wenig“. Goethe. Wie berühmte Zeitgenossen ihn erlebten. Mit 22 Abbildungen. Langen Müller, 2. erw. Auflage, München 2000, S. 34
Bild: eine Krippe vor der Petrikirche in Magdeburg.

 Posted by at 10:25

Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer

 1968, Goethe, Philosophie, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer
Nov 192013
 

„Nazi bleibt Nazi“, mit diesen Worten formulierte Christian Ströbele, Deutscher, geb.  1939, seinen Glauben an die Unveränderlichkeit, an die sozusagen genetische Determiniertheit des Menschen.

Wir bilden ähnliche Sätze: Nazi bleibt Nazi, Gewalttäter bleibt Gewalttäter, Frankfurter Putztruppe bleibt Frankfurter Putztruppe, Steinewerfer bleibt Steinwerfer. Die Zahl der Variationen ist beliebig. Goethe dichtete diesen Glauben an den unveränderlichen Kern der Persönlichkeit so:

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Der heutige Unternehmensberater und Vortragsredner Joschka Fischer, 1948 geborener Deutscher, ehem. Chef des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland, erweist erneut, wie recht doch Goethe mit seinen Urworten. Orphisch hatte, wie tief eingewurzelt bei uns Deutschen eine gewaltgeprägte, brutal zuschlagende, verrohte Sprache ist. Höchst aufschlussreich ist die metaphorische Sprache, mit der Joschka Fischer, der deutsche Spitzengrüne, sich in einem Gespräch mit Fritz Stern über seinen Versuch, einen ganz großen Stein auf die von ihm geführten Mitarbeiter  im AA zu werfen, zu Protokoll nehmen lässt (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich allerdings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne die ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissionsberichtes, selbst nicht mehr im Amt erleben würde.“

Zitiert nach:
Thomas Schmid: Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt. WELT online, 19.11.2013
http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article122017508/Joschka-Fischers-Rache-am-Auswaertigen-Amt.html

Ein farbenprächtiges Zitat, ein Beispiel brauner Kontinuität aus dem Munde eines deutschen Spitzengrünen! Die Vorstellung, dass man politisch Andersdenkende  einfach mit einem Stein zerschmettern könne, aber auch der Mut, mit dem Joschka Fischer offen diese feldherrngleich ausgebrütete Gewaltphantasie ausspricht, sind höchst bemerkenswert und verdienen Anerkennung. Joschka Fischer, der typische Deutsche, hat sich von der Sprache der braunen, der auch roten, der steinewerfenden Vergangenheit, wie man sieht, nicht verabschiedet, sondern führt sie – zumindest in seiner Phantasie – ganz ungescheut fort.

Feinde werden von Joschka Fischer im Geiste mit Hinkelsteinen zerschmettert.  Das ist richtig gutes Deutsch, Joschka! „Gefangene werden nicht gemacht“, so sagte es Kaiser Wilhelm in seiner berühmten „Hunnenrede“ am 27.07.1900. Joschka Fischer, der typische, allzutypische Deutsche stellt sich in eine unselige Tradition deutscher Gewaltrhetorik, deutscher Außenpolitik. Mimesis ans Verkehrte, hätten Adorno und Horkheimer wohl gesagt.

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Zwei in einem – das offenbar Geheimnis des Kreuzberger Ginkgo biloba

 Friedrichshain-Kreuzberg, Goethe  Kommentare deaktiviert für Zwei in einem – das offenbar Geheimnis des Kreuzberger Ginkgo biloba
Aug 292013
 

Gingko biloba

 

Gute, treffende Gespräche führten uns gestern im warm durchsonnten Spätsommer durch den Mendelssohn-Bartholdy-Park in Kreuzberg. Ich geriet ins muntere Gespräch mit einem schwäbischen Landschaftsgärtner, der an der Anlage mit Kennerblick manche sorgfältig bedachte Einzelnheit hervorhob, wenn auch an einigen Stellen eine gewisse Pflegebedürftigkeit durchschimmere.

Ein prachtvoller, wohl etwa 25 Jahre alter Ginkgo biloba fesselte unsere Aufmerksamkeit. Hier steht ein offenbar Geheimnis, das wir deutlich aussprachen: Zwei in einem! – Die Klasse der Ginkgo-Gewächse steht morphologisch zwischen Laub- und Nadelgewächsen. Sie ist also sinnbildlich die Vereinigung des Gegensätzlichen, des Mannes und des Weibes, von links und von rechts, des Sohnes und der Mutter, des Alten und des Jungen, der Behinderten und des Unbehinderten. Der einzelne Ginkgo-Baum ist jung, aber die Klasse der Ginkgo-Gewächse gibt es schon weit länger als das Menschengeschlecht – wohl 180 Millionen Jahre! Der Ginkgo ist ein lebendes Fossil.

Wir riefen die unsterblichen Verse zu Ehren Marianne von Willemers, die uns Goethe überliefert hat, aus dem Gedächtnis auf und sprachen sie laut und deutlich zu den Anwesenden und zu dem Baum hin:

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?

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