Feb 132016
 

Morgen ist der 14. Februar, der Gedenktag der beiden Slawenapostel Kyrill und Method, die zweifellos ebenso bedeutend sind wie der Bischof Valentin, der Bischof von Interamna, dem heutigen Terni in Umbrien, der neben Ambrosius von Mailand einer der Schutzpatrone der Imker (und neuerdings der Chocolatiers und Pralinenhersteller) ist, wovon gerade heute wieder zahlreiche Poster und Plakate kündeten.

Nun Kyrill und Method, beide aus dem griechischen Thessaloniki stammend! Sie sind gewissermaßen die Patrone der orthodoxen, der slawischen Spielart des Christentums. Kyrill schuf die glagolitische Schrift, aus der sich die heutige kyrillische Schrift ableitet.

Unter der „Griechischen“ Religion verstand man zu den Zeiten eines Grimmelshausen die orthodoxe Spielart des Christentums; hinwiederum die „Lateinische Religion“ wäre demnach die westliche Religion, das „Abendland“, das das Neue Testament in einer Ableitung, also in der lateinischen Übersetzung des griechischen Urtextes empfing.

Ein schöner Beleg für die beiden gleichberechtigten Lungenflügel Europas, von denen Papst Johannes Paul II. oft sprach! Die östliche Hälfte Europas empfing das Neue Testament aus dem Griechischen; die Slawenapostel Kyrill und Method formten das kyrillische Alphabet nach dem griechischen Alphabet und übersetzten aus der Weltsprache Griechisch ins damalige Slawische, das „Alt-Bulgarische“, oder auch „Altkirchenslawische“, wie es heute meist genannt wird.

Unter unseren europäischen und nahöstlichen Mitvölkern sind es beispielsweise die Bulgaren, die Russen, die Griechen, aber auch viele syrische Christen, die bis heute das orthodoxe Christentum mit seinen „autokephalen“, also von einer zentralen Amtskirche unabhängigen Patriarchen weitertragen. In gewisser Weise sind also die ostkirchlichen Patriarchate die Vorbilder der viel späteren lutherischen oder reformierten „Landeskirchen“.

Im Jahr 1054 kam es zu einem tiefen Bruch zwischen den beiden Lungenflügeln, der erfreulicherweise in diesen Tagen allmählich zusammenzuwachsen scheint. Es wurde aber auch Zeit. Ich habe selbst dem heutigen Patriarchen Kyrill im Jahre 2014 bei einer Messe in der Moskauer Erlöserkathedrale gelauscht und fand, dass jedes seiner Worte auch für einen abendländisch-lateinischen Christen völlig nachvollziehbar und glaubwürdig war. Die beiden gleichberechtigten Spielarten – die morgenländische und die abendländische – sind geeint in der Person Jesu Christi und im Geist und im Buchstaben der Bibel. Das ist das Wesentliche. Auch die Taufe erkennen sie gegenseitig an.

Grimmelshausen beschreibt im 5. Buch seines Simplicissimus sehr lebendig und amüsant, wie der Held auf seiner kriegerisch-abenteuerlichen Tour in Moskau aufgefordert wird, vom lateinischen Glauben zur griechischen Spielart der christlichen Religion überzutreten. Er widersteht, so sehr ihm aus Opportunitätsgründen der Konfessionswechsel auch zupaß gekommen wäre.

Hier der ganze Passus in der Fassung des Erstdruckes:

Nach dem wir nun sicher in der Statt Moscau ankommen / sahe ich gleich daß es gefehlt hatte / mein Obrister conferirte zwar täglich mit den Magnaten, aber viel mehr mit den Metropoliten als den Knesen / welches mir gar nicht Spanisch / aber viel zu pfäffisch vorkam; so mir auch allerhand Grillen und Nachdenckens erweckte / wiewol ich nicht ersinnen könte / nach was vor einem Zweck er zielte; endlich notificirt er mir / daß es nichts mehr mit dem Krieg wäre / und daß ihn sein Gewissen treibe die Griechische Religion anzunehmen; Sein treuhertziger Rath wäre / weil er mir ohne das nunmehr nicht helffen konte wie er versprochen / ich solte ihm nachfolgen; Deß Zaarn Mayestät hätte bereits gute Nachricht von meiner Person und guten Qualitäten / die würden gnädigst belieben / wofern ich mich accommodiren wolte / mich als einen Cavallier mit einem stattlichen Adelichen Gut und vielen Unterthanen zu begnädigen; Welches allergnädigste Anerbieten nicht außzuschlagen wäre / in deme einem jedwedern rathsamer wäre / an einem solchen grossen Monarchen mehr einen allergnädigsten Herrn / als einen ungeneigten Groß-Fürsten zu haben; Jch wurd hierüber gantz bestürtzt / und wuste nichts zu antworten / weil ich dem Obristen / wann ich ihn an einem andern Ort gehabt / die Antwort lieber im Gefühl als im Gehör zu verstehen geben hätte; muste aber meine Leyer anders stimmen / und mich nach dem jenigen Ort richten / darinn ich mich gleichsam wie ein Gefangner befande / weßwegen ich dann / ehe ich mich auff eine Antwort resolviren konte / so lang stillschwi>
|| [594]
ge: Endlich sagte ich zu ihm / ich wäre zwar der Meinung kommen / ihrer Zaarischen Mäyestät / als ein Soldat zu dienen / warzu er der Herr Obriste mich daselbst veranlaßt hätte / seyen nun Dieselbe meiner Kriegsdienste nicht bedörfftig / so könte ichs nicht ändern / viel weniger Derselben Schuld zumessen / daß ich Jhrentwegen einen so weiten Weg vergeblich gezogen / weil sie mich nicht zu Jhro zu kommen beschrieben / daß aber Dieselbe mir ein so hohe Zaarische Gnad allergnädigst widerfahren zu lassen geruheten / wäre mir mehr rühmlich aller Welt zu rühmen / als solche allerunterthänigst zu acceptiren und zu verdienen / weil ich mich meine Religion zu mutiren noch zur Zeit nicht entschliessen könne / wünschend / daß ich widerumb am Schwartzwald auff meinem Bauren-hof sässe / umb niemanden einiges Anligen noch Ungelegenheiten zu machen;

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Frieden bei Annahme der „Griechischen Religion“?

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Feb 132016
 

[…] endlich notificirt er mir / daß es nichts mehr mit dem Krieg waere / und daß ihn sein Gewissen treibe die Griechische Religion anzunehmen; […]

So weit ein Satz aus der Lebensbeschreibung des Melchior Sternfels von Fuchshaim, erschienen in der editio princeps bei Wolff Eberhard Felßecker zu Nürnberg im Jahr 1669, in V. Buches XX. Kapitel.

Was mochte damit gemeint sein, mit dem Ausdruck „Griechische Religion“, die man annehmen solle, wenn es nichts mehr mit dem Krieg wäre? Steckte 1669 in der „Griechischen Religion“ gar eine Friedenshoffnung?

Beleg:
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Simplicissimus Teutsch. Herausgegeben von Dieter Breuer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 530-531

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Feb 132016
 

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Wieder und wieder stoße ich auf ungläubiges Staunen, wenn ich vorschlage, man sollte die alten maßgeblichen Schriften der europäischen Geschichte in den Originalsprachen studieren, ggf. auch singen und nicht bloß stumm in Übersetzungen lesen. „Das Neue Testament auf Griechisch singen? Wie schräg ist dieser Vorschlag denn!“

Nun, ich vertrete den Standpunkt, daß man Albert Einsteins Weg zur Relativitätstheorie, ja die Relativitätstheorie selbst umfassend nur erklären und verstehen kann, wenn man Albert Einsteins Schriften im Original, also in deutscher Sprache, d.h. in der Kindheits-, Mutter- und Arbeitssprache Albert Einsteins liest. Ein gleiches gilt für die Quantenmechanik Werner Heisenbergs, bei der ebenfalls sehr gute Deutschkenntnisse zum Verständnis unerlässlich sind.

Goethes West-östlichen Divan wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man ihn im Original, also in deutscher Sprache liest, und auch den Faust und auch seine Italienische Reise sollte man ruhig in deutscher Sprache lesen.

Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels Phänomenologie des Geistes, das Kapital Karl Marx‘, die Psychoanalyse Sigmund Freuds, Grimmelshausens Simplicissimus teutsch, die deutschen Predigten des Meisters Eckhart, Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen und all die anderen überragend wirkungsreichen Schriften der europäischen Geistesgeschichte, ja der Weltgeschichte wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man sie im Original, also in deutscher Sprache liest. Um überhaupt europäische Geschichte verstehen und lehren zu können, muss man die sieben oder acht großen, wirkungsmächtigen Europasprachen lernen und kennen, zu denen nun einmal neben und hinter dem Griechischen und dem Lateinisch-Romanischen auch das Deutsche gehört.

Ohne gute bis sehr gute Deutschkenntnisse wird man Albert Einstein nicht verstehen. Und dasselbe gilt eben auch für die fortzeugenden Urschriften des Christentums, die samt und sonders in griechischer Sprache verfasst worden sind, so wie die Bibel der Juden in hebräischer – und zu kleinen Teilen auch in der eng verwandten aramäischen Sprache – verfasst worden ist.

Alle Autoren unseres vielzitierten Neuen Testaments, aber auch noch die maßgeblichen östlichen UND westlichen Kirchenväter des 2. Jahrhunderts wie etwa Clemens von Rom (sic!) und Hippolytos von Rom (!) dachten und schrieben nachweislich in griechischer (nicht in lateinischer!) Sprache. Das Griechische und nur das Griechische ist die entscheidende Sprache, in der sich im 1. bis 3. Jahrhundert alle noch heute geglaubten Grundlagen der verschiedenen christlichen Konfessionen ausbildeten.

Das Christentum lässt sich also in diesem angedeuteten historischen Sinne cum grano salis als „West-östliche griechische Religion“ bezeichnen. Ohne Griechisch kein Christentum! Alle bis heute grundlegenden Bekenntnisschriften des Christentums sind griechisch verfasst.

Wer also beispielsweise den ersten Korintherbrief des Apostels Paulus mit dem Hohenlied der Liebe, das Johannesevangelium oder auch das noch heute im Gottesdienst verwendete Nikänische Glaubensbekenntnis umfassend verstehen, auslegen und in moderne Muttersprachen übersetzen will, muss sich mit der griechischen Urfassung kritisch und auch textkritisch auseinandersetzen.

Wer dies verweigert und sagt, dies – also die Befassung mit den griechischen Quellen oder mit der griechischen Sprache – sei nicht mehr nötig, da dies die „Kirchen es im Laufe der Jahrhunderte schon alles richtig gemacht“ hätten, der leistet Verzicht auf einen großen Teil der Bedeutungsfülle, die jenen uralten Glaubenszeugen innewohnt. Er beschneidet sich und seine Freiheit unnötig!

„Aber auf die heutigen Übersetzungen der Bibel ist doch wenigstens Verlaß, oder?“, so fragte den Gräzisten ein Sangesbruder einmal.

Antwort des Gräzisten: „Die Übersetzer haben das Neue Testament verschieden übersetzt. Es kömmt aber heute drauf an, die verschiedenen, teilweise einander glatt widersprechenden Übersetzungen richtig zu interpretieren!“

Sangesbruder: „Du redest und singst in Rätseln. Nenne mir ein Beispiel!“

Der Gräzist: Gern, hier kommt es: καὶ καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν (sprich: kai ho logos ähn pros ton theón). Johannesevangelium Kapitel 1, Vers 1.

Die übliche deutsche Übersetzung lautet: „und das Wort war bei Gott“. Eine mögliche, nicht völlig falsche Übersetzung!

Richtiger wäre aus dem gut bezeugten griechischen, eindeutig belegten und textkritisch gesicherten Wortlaut jedoch: „zu Gott hin“, oder auch „gegen Gott hin“, „angesichts Gottes“ und nicht „bei Gott“.

Denn die griechische Präposition πρὸς mit Akkusativ bezeichnet in all den Jahrhunderten des alten griechischen Sprachgebrauchs – und ohne Zweifel auch im Neuen Testament – keine räumliche statische Nähe („bei“), sondern vielmehr eine gerichtete Bewegtheit zu etwas hin, keine Identität, sondern dynamische Spannung, kein Zusammen, sondern ein Auseinander und ein Zueinander. Eine pulsierende kosmische Bewegung! Gravitationswellen! Saiten, „Strings“, wie die Astrophysiker heute sagen würden, die das gesamte Universum durchziehen! Johannes verfasste lange vor den Astrophysikern der heutigen Zeit eine bildliche String-Theorie des Kosmos.

„Das Wort war zu Gott“, darin steckt eine geradezu Heisenbergsche Unschärferelation, ein energetisches Kraftfeld, eine komplexe Gleichung mit Unbekannten, eine geradezu einsteinisch anmutende Formel, bei der nicht klar ist, ob es sich um Materie, Energie, Gravitation, um dunkle Masse oder um Licht handelt, oder ob alles sich in alles hinein verwandelt.

Beleg:
„Die Präpositionen“, in: Eduard Bornemann, Oberstudienrat i.R. und Honorarprofessor in Frankfurt Main: Griechische Grammatik. Unter Mitwirkung von Ernst Risch, Ordinarius für indogermanische Sprachwissenschaft in Zürich. Verlag Moritz Diesterweg, 2. Aufl., Frankfurt am Main u.a. 1978, S. 197-208, hier insbesondere zu πρὸς cum accusativo S. 204-205

Bild:
Morgenröte, das Heraufdämmern eines neuen Tages über dem Gasometer! Das Heute, das Itzt, das Nu, das Hier!

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Ungeheures Getöse: weitere Betrachtungen zu 1 Kor 13

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Jan 282016
 

„Die jüdische Übertragung der jüdischen Bibel ins Griechische wurde zur Voraussetzung der Kirche aus Juden und Heiden.“
Michael Tilly

“ Christianity is not buried in a book. It existed before the N. T. was written. It made the N. T. It is just because Christianity is of the great democracy that it is able to make universal appeal to all ages and all lands and all classes. The chief treasure of the Greek tongue is the N.T.“
A.T. Robertson

Wir spinnen den Faden fort:
Das Griechische ist immerfort die eigentliche Muttersprache, der Mutterschoß des Christentums, so wie das Hebräische die Muttersprache und Vatersprache des Judentums war, ist und immerfort bleiben wird. Wenn man wissen will, was Paulus von Tarsus, – der Hl. Paulus, der Apostel Paulus, der Heidenapostel, wie er auch genannt wird – in seinem Hohenlied der Liebe gesagt, gedacht, geglaubt, gefühlt und gesungen hat, wird man um eine nachhaltige Befassung mit den ältesten, in griechischer Sprache überlieferten Textzeugen nicht herumkommen.

Ja noch einen Schritt weiter müssen wir gehen: wenn wir wissen und erfahren wollen, was die Zuhörer Jesu, die Zuhörer Pauli, die Zuhörer des Evangelisten Johannes fühlten, glaubten, hörten, oder gar was Jesus Christus selbst wohl dachte, glaubte, lehrte, werden wir um eine eifrige Versenkung in die verschiedenen griechisch überlieferten frühesten Fassungen des Evangeliums nicht herumkommen.

Griechisch war die Muttersprache des Apostels Paulus, in der er geläufig predigte und gerne schrieb und dichtete; Hebräisch und Aramäisch sowie etwas Latein kannte und konnte er sicherlich auch; Aramäisch war eine wichtige Umgangs-, Alltags-, und auch Amtssprache im Ostteil des Imperium Romanum. Hebräisch war, ist und bleibt die Kult- und Kultursprache der Juden, von denen der Apostel einer war. Paulus hatte die Bibel sicherlich im Gottesdienst in hebräischer Sprache gehört.

Aber sein eigenes dichterisches Schaffen und griechisches Predigen beruhte – bis heute hörbar! – auf der verbreitetsten griechischen Übersetzung der Bibel, der sogenannten Septuaginta.

Das Hohelied der Liebe (1 Kor, 13) ist ein kultischer Gesang, eine Dichtung in freien Versen („vers libres“), ein Psalm, der nahtlos an den Schluß des Psalters (Ps. 150) aus der Septuaginta anschließt. Das geht bis in einzelne Wendungen hinein.

So sagt etwa Septuaginta in Ps 150,3-5:
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν ἤχῳ σάλπιγγος
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν ψαλτηρίῳ καὶ κιθάρᾳ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν τυμπάνῳ καὶ χορῷ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν χορδαῖς καὶ ὀργάνῳ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν κυμβάλοις εὐήχοις
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν κυμβάλοις ἀλαλαγμοῦ

Paulus singt in 1 Ko 13,1:
Ἐὰν ταῖς γλώσσαις τῶν ἀνθρώπων λαλῶ
καὶ τῶν ἀγγέλων, ἀγάπην δὲ μὴ ἔχω
γέγονα χαλκὸς ἠχῶν ἢ κύμβαλον ἀλαλάζον

Man höre, singe und staune beide Psalmen einmal hintereinander weg! Was hört man da? Etwas Unerhörtes, nämlich die drei unterschiedlich gebeugten Wörter ἤχῳ/ἠχῶν/εὐήχοις (Hall, Schall, wohlklingendes Getöse), κύμβαλον/κυμβάλοις (Metallbecken), ἀλαλαγμοῦ/ἀλαλάζον (ängstliches oder kriegerisches Schreien).

Das ist kein Zufall! Es ist ein klarer, unüberhörbarer Anklang, ein Anknüpfen des Paulus an die ihm so vertraute, ihm so geläufige Dichtungstradition seines Herkunftskultes!

1 Ko 13, 1 ist also selbst ein lauttönender, ungeheurer Widerhall, ein Echo, eine gewaltige Überbietung, eine unerhört kühne Neuausprägung von Ps 150!

Paulus selbst nennt seinen hyperbolischen Psalm mit einem Terminus technicus der griechischen Rhetorik einen „Weg gemäß der Überbietung“ eine „καθ’ ὑπερβολὴν ὁδὸν“ (1 Ko 12, 31b).

Nur der singende Vortrag der Psalmen in Ps 150 und 1 Ko 13 wird die gesamte Bedeutungsfülle – das „ungeheure Getöse“, wie es zu Beginn des Faust II heißt – sinnlich und sinnesfroh erfahrbar machen.

Zitatnachweise:

Michael Tilly: Einführung in die Septuaginta. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Stuttgart 2005, S. 103

A. T. Robertson: GRAMMAR OF THE GREEK NEW TESTAMENT IN THE LIGHT OF HISTORICAL RESEARCH, 3. Auflage, Hodder&Stouton, London 1919, S. 1207
https://faculty.gordon.edu/hu/bi/ted_hildebrandt/new_testament_greek/text/robertson-greekgrammar.pdf, hier Seite 1207

https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/septuaginta-lxx/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/19/1500001/1509999/ch/05bb088a3c63bdd063c4c227d0c8f351/

https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/novum-testamentum-graece-na-28/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/56/120001/129999/ch/f31d4ef29b41e6c819548227babea05c/

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Was hat der Mutmacher gesagt: „In verità“, oder „wahrhaftig“ oder „for truly“? Zu Mt. 18,3

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Okt 312015
 

Martin Walser schreibt heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf S. 18: „Nur Jesus beginnt seine Sätze mit Wahrlich.

Ist das wahr? Hat Jesus seine Sätze echt mit „Wahrlich“ begonnen? Sprach er echt so gut deutsch? Ich schlage die von Walser zitierte Stelle im Evangelium nach Matthäus 18,3 in verschiedenen Fassungen des Neuen Testaments auf und finde folgende Wörter, die Jesus in echt gesagt haben soll, wobei ich hier jeweils in Klammern Ort und Jahr der Erscheinung des Buches beifüge: „In verità“ (Roma 1974), „warlich“ (Wittenberg 1545), „Amen“ (Freiburg 1980), „Wahrhaftig“ (Gütersloh 2006), „Truly“ (Stonehill Green 1971), ἀμὴν (Stuttgart 2012).

7 unterschiedliche Worte, die Jesus gesagt haben soll! Ja was denn nun? Wer hat nun recht? Wer sagt uns denn endgültig die volle Wahrheit über Jesus Christus? Martin Walser am 31.10.2015, Martin Luther im Jahr 1517, Holger Strutwolf im Jahr 2012, die Conferenza Episcopale Italiana im Jahr 1974, die Katholische Bibelanstalt im Jahr 1980, The Bible Societies im Jahr 1971, das Projekt Bibel in gerechter Sprache im Jahre 2006?

Eine Entscheidung muss gefällt werden! Und ich entscheide … als guter Demokrat … mit der Mehrheit! Gewinner sind: Stuttgart 2012 und Freiburg 1980! Also „Amen“ bzw. „ἀμὴν“. Hurra! Diese beiden Wörter – so glaube ich – hat Jesus ausgesprochen.

Meine sachliche Begründung dafür lautet: Da Jesus (trotz rudimentärer Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen, die wir annehmen dürfen) meist in Aramäisch gepredigt und sicher auf Hebräisch aus den Schriften zitiert hat, dürfte er wohl auch die aramäische bzw. hebräische Bekräftigungsformel Amen verwendet haben. Offen muss bleiben, wie er dieses Amen genau ausgesprochen hat; aber dass Jesus genau diese Formel „Amen“ verwendet hat, glaube ich fest.

Amen (auch „aman“, „amin“ lautend) ist eine Formel, mit der damals ein festes Vertrauen, eine persönliche Gewissheit ausgedrückt, besser „gesetzt“ oder auch „eingesetzt“ wurde. Durch Amen, eine mündliche Bestätigungsformel, wurde eine sprachliche gegebene Gewissheit bekräftigt. Jesus verwendet Amen stets, bevor er seine höchst persönliche Lehre, also die „Lehre Jesu Christi“, wie wir heute sagen dürfen, in Wahrheit in der Ich-Form verkündet. „Ich sage euch…“ folgt dann, „Ego de… “ auf griechisch, … und dann folgt stets eine ganz bestimmte, durch das Ich Jesu bekräftigte Behauptung. Jesus verkündet also die Wahrheit im Lichte des Ich.

Amen, zu deutsch also „so sei es“, „so ist es“, „so will ich es“, ist also Wahrheit im Lichte des Ich!

O ihr Lehrlinge Jesu Christi, o ihr deutschen Martins und Friedrichs, tilgt nun einige Buchstaben nach und nach weg! Schrumpft sie auf das Mindestmaß! Magert die sieben Übersetzungen des griechisch verfassten neuen Testaments auf Gerippe und Knochen ab! Entschlagt euch für einen Augenblick eurer Kenntnisse aus Theologie, Kirchen- und Literaturgeschichte! Vergesst ein winziges Nu lang die gesamte Kirchengeschichte! Seid oder werdet wie er!

Dann, Martin, Friedrich bzw. Fritz (darf ich dich so nennen?), Hans, Hermann, Hinz und Kunz, Lehrling Jesu Christi, nimm diese abgemagerte Fassung herab vom Kreuz deines philologisch-theologischen Seziertisches. Gib dem komplett abgemagerten Jesus, diesem überragenden, großartigen Muthmacher, dem Mutmacher und Bekräftiger Raum in dir. Und dann hast du auch die beste Übersetzung des hebräischen Amen, das es dich drängt – wie sagtest du doch? – „in dein geliebtes Deutsch zu übertragen“.

WAHR (heit im) L (ichte des) ICH

Amen, warlich (Martin Luther), wahrlich (Martin Walser).

Die beiden Martins haben recht. Das „Wahrlich/warlich“ der beiden Martins ist die Übersetzung, die Inhalt und Botschaft des hebräischen bzw. aramäischen oder auch jesuanischen Amen am besten wahrt und bewahrt.

Beleg:
Martin Walser: Der Muthmacher. FAZ, 31.10.2015, S. 18

Bild:
Kreuzabnahme. Ein tiefes Relief, tief tief verborgen im Teutoburger Wald, 11 km Fußmarsch vom Hermannsdenkmal bei Detmold entfernt. Eigenes Smartphone-Foto des Bloggers vom 25.10.2015
20151025_161045

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„Was will das Volk?“ Pelasgos‘ Einsicht in das Wesen der Demokratie

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Okt 222015
 

ὑμῖν δ᾽ ἂν εἴη δῆμος εὐμενέστερος
τοῖς ἥσσοσιν γὰρ πᾶς τις εὐνοίας φέρει.

„Euch mög das Volk nun zugeneigter sein
Den Schwächren will doch jeder wohl.“
(Hiketides, Vers 488-489, eigene Übersetzung des Vf.)

Ein bis heute ergreifendes Zeugnis echter Humanität und echter Barmherzigkeit bietet der mythische König von Argos, Pelasgos, in Aischylos‘ Tragödie „Flehende“ (Hiketides). „König“ Pelasgos? Nun, Herrscher war Pelasgos zweifellos. Herrscher? Nicht wirklich! Ehe er die schutzlosen 50 jungen Frauen vor den bewaffnet heranstürmenden jungen Männern rettet und ihnen Asyl gewährt, befragt er das Volk (δῆμος). Er ruft eine Volksversammlung ein und lässt per offenem Handzeichen darüber abstimmen, ob die 50 Töchter des Danaos unter den Schutz der heimischen Götter gestellt werden sollen. Und er gewinnt den Volksentscheid triumphal!

Kurz und gut: Pelasgos entscheidet nicht im Alleingang. Er lässt sich nicht erweichen und erpressen, etwa durch den bühnenwirksam angedrohten Suizid der 50 Jungfrauen, obwohl tatsächlich Gefahr im Verzuge ist. Stattdessen fragt er: Was will das Volk?

Ja was ist denn das für ein König, der sein Volk befragt, ehe er die Landesgrenzen öffnet? Ist das dargestellte Geschehen glaubwürdig? Antwort: Aischylos blendet die politische Realität seiner Zeit mit in den mythischen Stoff ein. Ihm ging es nicht darum, nur eine spannende Sage dramatisch auf die Bühne zu bringen, nein, er inszenierte ganz bewusst eine politisch-moralische Streitfrage der Gegenwart in mythischer Einhüllung.

Und die Gegenwart, das war nun einmal die damals (ca. 470-460 v. Chr.) noch junge, noch ungefestigte Demokratie. Athen war zweifellos seit den Reformen des Kleisthenes (509 v. Chr.) im echten Sinne, auch in unserem Sinne eine Demokratie, wahrscheinlich die erste in Europa überhaupt; Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Aufnahme oder Abweisung fremder Volksgruppen, über Steuerfragen durften seitdem nicht mehr durch einen obersten Herrscher alleine getroffen werden. Träger der Souveränität, ja der Souverän selbst, war nunmehr das Volk (Demos), das durch Wahl und durch Los Körperschaften zu seiner Vertretung schuf (den „Rat der 500“, die 9 „Archonten“, das „Volksgericht“), aber zugleich noch durch Volksabstimmungen starke Züge der „direkten“, nicht-repräsentativen Demokratie beibehielt.

Die Athener Bürger hatten also bei allen wesentlichen Entscheidungen Mitspracherechte. Gegen und ohne das Volk lief nichts. Es gab keinen Platz für einsame Entscheidungen eines Königs oder einer Großherrscherin mehr.

Was lernen wir für die Bundesrepublik Deutschland daraus? Nun, wir sind auch eine Demokratie. Wir haben heute kaum mehr die direkte, sehr wohl aber die repräsentative Demokratie. Und das bedeutet, das Volk, der Souverän, wird durch gewählte Abgeordnete in Parlamenten vertreten. Träger der staatlichen Souveränität und der Daseinsvorsorge sind zunächst einmal bei uns im Alltag die 16 Bundesländer. Sie sind gefragt, wenn es um die Unterbringung der aus allen Richtungen regellos Zuwandernden geht. Der Bund hat keine Berechtigung, den Bundesländern Aufgaben der Daseinsvorsorge ohne deren Zustimmung zuzuweisen, insbesondere ohne ihnen die nötigen Sach- und Finanzmittel zur Verfügung zu stellen (vgl. Artt. 28 und 30 GG).

Die 16 Landesparlamente und der Bundesrat sollten also – so meine Meinung – auch jetzt Herren des Verfahrens werden. Die 16 Landesparlamente müssen bei so weitreichenden Entscheidungen wie der nunmehr faktisch verkündeten völligen Öffnung der deutschen Grenzen für ausnahmslos alle Zuwandernden vorher gefragt und vorher einbezogen werden. Auch der Bundestag sollte vor allen vorschnellen Entscheidungen intensiv gefragt und einbezogen werden. Die 16 Länderkammern, der Bundesrat und auch der Bundestag müssen nun entscheiden, wohin die Reise geht. Sie – die 16 Länderparlamente, der Bundesrat, der Bundestag müssen das Heft des Entscheidens in die Hand nehmen. Von ihrem Willen hängen die Regierungen der 16 Bundesländer ab. Ein bundesweiter Volksentscheid ist dann unnötig, zumal er sowieso rechtlich nicht zulässig ist.

Denn staatliches Handeln muss auch in Krisenzeiten weiterhin an Recht und Gesetz gebunden bleiben.

Durch intensive gemeinsame Entscheidungsfindung, durch offenes Ringen und Austauschen der Argumente in Rede und Gegenrede wird die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ihre Stärke und ihre Humanität beweisen!

Es ist möglich, so glaube ich, eine Lösung der Zuwanderungsfragen und der Flüchtlingskrise zu finden, wenn zu dem humanitären Impuls der sittlich gebotenen Nothilfe für Schwache, Kranke, für schutzlose Frauen, Kinder, Arme und Notleidende eine rechtlich gebotene Besinnung auf das Wesen und die Eigenart der parlamentarischen Demokratie hinzutritt.

Und Wesen der Demokratie ist es nun einmal, dass das Volk Träger der Souveränität ist.

Ich meine: Schwache, Arme, Kranke, Kinder, Witwen und Waisen, schutzlose verfolgte Frauen, Hilflose, die sich bei uns innerhalb unserer Grenzen aufhalten, verdienen unser Mitgefühl. Ob wir die Hunderttausenden voll arbeitsfähiger, voll mobiler junger Männer aus aller Herren Länder weiterhin wie bisher unterschiedslos bei uns aufnehmen wollen, darüber sollten wir uns in Rede und Gegenrede unterhalten.

Letztlich sollte diese Fragen das Volk (der Demos) über die gewählten Parlamente entscheiden.

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Nuscheln, Murmeln, Schweigen: Das verstummende kulturelle Gedächtnis

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Sep 082015
 

Manchmal frage ich mich, wie wohl Goethe seine Gedichte und Dramen vorgetragen hat. Seine „Regeln für Schauspieler“ aus dem Jahr 1803 liefern Hinweise darauf! Das heute so modische, lässig-unterkühlte Murmeln und Nuscheln, z.B. das silbische M, war ihm zuwider, das Verschlucken etwa von unbetonten Vokalen, das sich heute überall in Fernsehen und Vortrag – auch bei geschulten Bühnenschaupielerinnen – ausgebreitet hat, suchte er seinen Darstellern auszutreiben. Goethe schreibt etwa unter § 7 seiner Regeln:

Bei den Wörtern, welche sich auf e m und e n endigen, muß man darauf achten, die letzte Silbe deutlich auszusprechen; denn sonst geht die Sylbe verloren, indem man das e gar nicht mehr hört.

Z.B. folgendem, nicht folgend’m
hörendem, nicht hörend’m

Ganz offenkundig schrieben Goethe und all die anderen Dichter ihre Verse zu lautem, klingendem Vortrag nieder. Das geschriebene Wort diente nur als eine Stütze, die das klar, frei und deutlich erschallende Wort trug und vorgab, wie die gedruckte Stimme in der Musik – in Goethes Worten – als Anleitung „zum richtigen, genauen und reinen Treffen jedes einzelnen Tones“ hilft.

Die heutigen deutschen Kinder lernen die klingende, singende Sprache oder vielmehr Aussprache eines Goethe, eines Paul Gerhardt, eines Thomas Mann oder Friedrich Hölderlin nicht mehr kennen und nicht mehr schätzen, da auch die Erwachsenen sie nicht mehr kennen und schätzen.  Es ist so, als würde man im Instrumentalspiel nicht mehr Bach, Mozart und Brahms in allen Noten spielen, sondern nur noch darüber hinweghuschen, diese oder jene Notengruppe nicht mehr spielen.

Mit der Kenntnis der relativ einheitlichen deutschen Sprache oder mindestens Aussprache der Dichter, Wissenschaftler und Philosophen von Immanuel Kant und J.W. Goethe bis hin zu Albert Einstein, Sigmund Freud und Thomas Mann droht nun seit Jahrzehnten in Deutschland selbst auch die Kenntnis des ehemaligen Kernbeitrages der deutschsprachigen Länder zur Weltkultur verloren zu gehen.

Nun könnte man sagen, es sei doch unerheblich, ob noch irgend jemand in Deutschland die Relativitätstheorie Albert Einsteins, die Buddenbrooks Thomas Manns, das Kapital von Karl Marx, die Traumdeutung Sigmund Freuds, die Gedichte Goethes oder die Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants im deutschen Original zu lesen vermöchte. Schließlich gebe es überall englische Übersetzungen, Deutschland und Europa würden  sowieso irgendwann nur noch Englisch reden – oder mit Blick auf die neuesten demographischen und migratorischen Entwicklungen – Arabisch oder Chinesisch.

So wie heute in Deutschland in aller Öffentlichkeit das klingende, gesprochene, gepflegte Deutsch aus der Zeit eines Immanuel Kant oder eines Goethe nach und nach vergessen und verschüttet wird, so vergaß Europa im ersten Jahrtausend nach und nach die griechische Vortragskunst.

Irgendwann hatte man einfach vergessen, wie die Epen Homers, die Tragödien eines Aischylos, Sophokles oder Euripides geklungen hatten – ein Kernbestand des kulturellen Gedächtnisses wurde weitgehend ausgelöscht, insbesondere natürlich das alte Griechisch, die Sprache Homers, Herodots, Sokrates‘, Platons und Aristoteles‘, die Sprache auch der Urschriften des Christentums. Der lateinische Westen kannte und konnte etwa ab dem 5. Jh. n. Chr. kein Griechisch mehr, selbst die großen abendländischen Theologen konnten das Neue Testament bis ins 15. Jh. hinein meist nicht mehr im griechischen Original lesen, mit all den verheerenden, teils gewalttätigen theologischen Fehldeutungen und Irrtümern, die die Nichtbefassung mit dem griechischen bzw. hebräischen Urtext auslösen sollte.

Die griechischen Originalklänge der europäischen Kulturen gingen damals verloren, das kulturelle Urbild Europas ward im Westen komplett vergessen. Lateinisches Abendland und griechisches, später arabisches, später türkisches Morgenland drifteten auseinander und sind bis heute nicht wieder zusammengewachsen.

Verlust des Originalklanges! Allerdings hat sich in der Musik bereits vor Jahrzehnten eine mächtige Gegenbewegung gesammelt: Heute strebt man bei der Aufführung eines Bach, eines Vivaldi oder eines Palestrina eine klug abwägende Wiederannäherung an den früheren Klang an. Bach soll eben nicht wie Brahms, W.A.Mozart soll nicht wie Richard Wagner klingen. Man bemüht sich mindestens einmal herauszufinden, wie es damals geklungen haben mag, um die Werke besser verstehen und aufführen zu können.

Und so meine ich, dass auch wir uns darum bemühen sollten, die Werke Goethes oder Friedrich Schillers, Lessings oder Immanuel Kants auch heute noch im Originaltext zu verstehen, vorzulesen und so erklingen zu lassen, dass auch die Verfasser von damals uns heute noch zustimmend verstehen könnten.

Ein ähnliches Bild dürfte sich übrigens im Englischen ergeben. Man vergleiche etwa die Art, wie William Butler Yeats sein Gedicht The Lake Isle of Innisfree vorträgt, mit irgendeiner aktuellen Einspielung eines heutigen Schauspielers, wie man sie ohne Mühe auf Youtube finden kann. Auch hier wird man sachlich, unterkühlt und nüchtern feststellen: Der Originalklang war ganz anders, er ist nahezu schon verloren. Komplette Register des Sprachlichen, die noch vor 50 oder 70 Jahren Allgemeinbestand waren, sind fast unwiederbringlich verschüttet – oder abgetönt.

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Haben uns Sophokles und die Griechen noch etwas zu sagen?

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Jul 112015
 

Immer wieder tauchen wir hinab in die alte, griechisch sprechende Welt, die Europa zu dem werden ließ, was es heute zu werden verspricht. In den attischen Tragödien des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus werden zahllose Fragen erörtert, die uns bis zum heutigen Tage beschäftigen. Etwa die folgende:

Was hält Europa und die Europäische Union zusammen?

“Die Wirtschaft!” werden die meisten sagen. “Der freie Austausch an Waren und Dienstleistungen sichert den Zusammenhalt!”.

“Der acquis communautaire!” schallt es aus Brüssel zurück. “Die etwa 100.000 Seiten gemeinsamer Rechtstexte über Ansprüche und Rechte der Mitgliedsstaaten sind eine unlösbare institutionelle Klammer!”

“Der Euro!”, werden wieder andere einwerfen. “Nur durch die Gemeinschaftswährung werden die Schicksale der Staaten so unlösbar verknüpft, dass Wohlstand, Wachstum und soziale Gerechtigkeit gesichert sind.”

Kaum ein Zweifel darf bestehen, dass die Europäische Union und überhaupt europäische Politik auf der Wirtschaft und auf dem Geld begründet ist. Das Geld und die Wirtschaft sind – nach der aktuellen Politik zu urteilen – die eigentlichen Fundamente und der Maßstab der Europäischen Union.

“Lernt doch erst mal griechische Texte lesen”, begehre ich auf, wenn wieder einmal derartige Reden geführt werden. “Habt ihr nicht die Antigone des Sophokles gelesen?”

Erstaunlich etwa, was König Kreon in der Antigone des Sophokles über das Geld sagt:

οὐδὲν γὰρ ἀνθρώποισιν οἷον ἄργυρος

κακὸν νόμισμ᾽ ἔβλαστε. τοῦτο καὶ πόλεις

πορθεῖ, τόδ᾽ ἄνδρας ἐξανίστησιν δόμων·

τόδ᾽ ἐκδιδάσκει καὶ παραλλάσσει φρένας

χρηστὰς πρὸς αἰσχρὰ πράγματ᾽ ἵστασθαι βροτῶν·

Meine deutende Übersetzung in modernes Deutsch lautet:

“Denn keine so schlimme Gesetzesgrundlage erwuchs für Menschen wie das Geld. Es zerstört sogar Städte, es vertreibt Männer aus den Häusern, Geld prägt Mentalitäten um, so dass die an sich richtige Gesinnung zum Niederträchtigen gewendet wird.”

In diesen Versen (295-299), die wohl um das Jahr 442 vor Christus entstanden, schreibt Kreon dem Geld eine unterminierende, gemeinschaftsszerstörende Kraft zu. Keine schlechtere Grundlage für Gesetze als das Geld gibt es. Fremdes Geld zerstört den Zusammenhalt der Polis, Geldgier führt zu Hader, Zank und Zwietracht in der Stadt, die Gier nach Silber brachte die griechischen Städte gegeneinander auf.
Ich meine: Der Ansatz, die Europäische Union vornehmlich auf dem Geld begründen zu wollen, hat uns alle in die Irre geführt.

Die Europäische Union muss stattdessen auf anderen, auf kulturellen Werten, vor allem auf dem freien Wort stets von neuem begründet werden!

Weit geschmeidiger, weit moderner als der Kreon des 5. Jahrhunderts v. Chr. drückte dies kürzlich ein Schriftsteller, der unter uns lebende Petros Markaris in folgenden Worten aus:

Wir haben mit der Einführung des Euro diese Werte vernachlässigt und Europa mit dem Euro identifiziert. Und jetzt, mit der Rettungsaktion für den Euro, werfen wir die gemeinsamen Werte, die Diversität der europäischen Geschichte, die verschiedenen Kulturen und Traditionen als Ballast über Bord. Europa hat viel in die Wirtschaft investiert, aber zu wenig in die Kultur und die gemeinsamen Werte.

Quellen:

Sophoclis fabulae. Ed. A.C. Pearson, Oxonii 1975, Ant. vv. 295-300

Süddeutsche Zeitung, 26.01.2012:

http://www.sueddeutsche.de/politik/reise-des-schriftstellers-petros-markaris-die-krise-hat-das-letzte-wort-1.1267452

The Little Sailing: Ancient Greek Texts

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Jul 112015
 

Vita enim sine verbo incerta est et obscura, so sagt es Martin Luther aus tiefer Überzeugung und völlig zu Recht (WA 18, 655, 10).

Zu deutsch: „Ein Leben ohne das Wort ist ungewiß und dunkel.“

So dürfen wir heute sagen: „Ein Europa ohne Wort ist ungewiß und dunkel.“ Europa sine verbo incerta est et obscura.

Zu griechisch: Η Eυρώπη χωρίς το λόγο είναι αβέβαιο και σκοτεινό.

Das Licht, die Wahrheit Europas kommt nicht vom mythischen Geld und nicht vom märchenhaften Gold her, sondern vom Wort, – vom „Logos“ also, vom logischen Denken, Erkennen, Fühlen und Handeln.

„Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ Diese Festnagelung der Europäischen Union, schlimmer noch diese Festnagelung Europas auf das Geld, auf den Euro, dieses monetaristisch-kapitalistische Euro-Evangelium war eine falsche Erlösungslehre, eine Irrlehre, ein trügerischer Mythos, der zu nichts Gutem geführt hat außer zu der Erkenntnis, dass nicht der blind geglaubte Mythos vom Euro, sondern nur der vernünftige Glaube an die gute, verbindendende, versöhnende Macht des Wortes den Frieden und die Eintracht stiften kann, die wir dringend brauchen.

Luther (WA 18, 655, 10) hier zitiert nach:
Joachim Ringleben, Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2014, S. 465 (Anm. 71)

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Η Επέτειος του Όχι έρχεται πίσω – Der Große Ochi-Tag ist wieder da!

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Jun 282015
 

Große Inszenierung des großen, des allergrößten Volkes des europäischen Theaters! Auch angesichts des heutigen europapolitischen Coup de théâtre dürfen wir nie vergessen, dass wir dem alten, dem uralten Griechenland sehr vieles, letztlich fast alles verdanken, worauf der europäische Weg in Ost und West beruht.

Die Griechen haben das reichste, das älteste Gedächtnis, zumal die griechische Sprache ununterbrochen viel weiter zurückreicht als jede andere heute noch verwendete europäische Sprache. Bei den alten Griechen gab es eine Un- und Überzahl von solchen, die vor sich selber schauspielerten: sie glaubten offenkundig das, was sie auf der großen Bühne vortrugen. Die Schauspieler des Aischylos und des Sophokles, ja Sophokles und Aischylos selbst glaubten das, was sie sangen, sagten, tanzten! Sie glaubten – vermutlich – an ihre Götter!

Aber warum sollen wir das glauben? Woran glauben wir überhaupt?“ Derartige unbequeme Fragen wurde Sokrates nicht müde zu stellen. Er spielte gewissermaßen bei den mannigfachen Theaterinszenierungen, aus denen ein großer Teil des griechischen Politik bestand, nicht mit. Er war der große Unzeitgemäße, der untypischste aller Griechen!

Τσίπρας: Ο λαός θα πει το μεγάλο «όχι»

Das große Nein, das große OCHI! Neuester Beweis des überragenden theatralischen Genius der Griechen: die Rhetorik, mit der der griechische Ministerpräsident das Referendum des 5. Juli 2015 ankündigt. Er greift dazu insgesamt – mit den Leitworten von Würde, Freiheit, Stolz und Volk – und in den Metaphern auf den griechischen Feiertag des 28. Oktober zurück. Der 28. Oktober wird bis heute jedem Schulkind in Griechenland gelehrt, er wird festlich begangen.

Damals, am 28.10.1940 wandte sich das stolze griechische Volk unter Führung des griechischen Diktators Metaxas gegen das erpresserische Ultimatum des stolzen italienischen Volkes unter Führung des italienischen Diktators Mussolini; so begann der italienisch-griechische Krieg, den Italien entfesselte und mit dem das so stolze Italien das nicht minder stolze Griechenland als weiteren Kriegsschauplatz eröffnete und in den 2. Weltkrieg hineinzog.

Das feierliche NEIN der Griechen gegen Italien ist bis heute ein nationaler Feiertag! Außerhalb Griechenlands ist der Festtag unbekannt. Ein weiterer schlagender Beweis dafür, dass die EU-„Partner“ unablässig aneinander vorbeireden. Freunde, amici miei: Wir wissen viel zu wenig voneinander.

War 1940 das erpresserische Italien der Feind, so glaubt der griechische Ministerpräsident heute das erpresserische Deutschland als Hauptgegner auszumachen.

So erleben wir im Jahr 2015 die feierliche Wiederkehr des 28.10.1940. Nil novi sub sole europeo!

Η Επέτειος του ΟΧΙ

Source: Επέτειος του Όχι – Βικιπαίδεια

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zu Ferrari, le principe, page 7 und Plutarch, De Pythiae oraculis, stephpage 404e

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Feb 212015
 

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„Le maître dont l’oracle est à Delphes ne dit rien, ne cache rien – mais il fait signe.“
So zitiert es der 1968 n. Chr. in Paris geborene Schriftsteller Jérôme Ferrari im Anfang seines Buches „Le principe“, das im März 2015 in Paris erscheinen wird. Wir übersetzen aus dem Französischen ins Deutsche: „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts, verbirgt nichts – sondern er gibt ein Zeichen.“
Gestern hörten wir der Vorstellung des Buches in der Französischen Botschaft am Pariser Platz zu Berlin zu.
Was ist damit gemeint? Was bedeutet das?
Offenbar zitiert Ferrari hier eine Übersetzung einer Äußerung des etwa 525 v. Chr. geborenen Schriftstellers Heraklit von Ephesos, wie sie in der griechisch verfassten Schrift „De Pythiae oraculis“ des wahrscheinlich 45 n. Chr. in Chaironeia geborenen Schriftstellers Plutarch zitiert wird.

Wir schlagen heute den entsprechenden Abschnitt in Plutarchs Schrift auf, um dem rätselhaften Spruch Heraklits über das delphische Orakel auf die Spur zu kommen, und zitieren aus der im Internet bequem einsehbaren Ausgabe von Bernardakis, die 1891 bei Teubner in Leipzig erschien (Steph. p. 404e):

οἶμαι δὲ σὲ γιγνώσκειν τὸ παρ᾽ Ἡρακλείτῳ 2 λεγόμενον ὡς ‘ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει.’ πρόσλαβε δὲ τούτοις εὖ λεγομένοις καὶ νόησον τὸν ἐνταῦθα θεὸν χρώμενον τῇ Πυθίᾳ πρὸς ἀκοήν, καθὼς ἥλιος χρῆται σελήνῃ πρὸς ὄψιν.

Wir übersetzen aus dem Griechischen ins Deutsche! Plutarch schreibt hier in etwa:
Ich glaube, du kennst den bei Heraklit zitierten Ausspruch, dass „der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, weder sagt noch verbirgt, sondern bedeutet„. Nimm nun zu diesen treffenden Aussagen hinzu und bedenke, dass der hiesige Gott über die Pythia in Orakeln zum Gehörsinn spricht ebenso wie die Sonne über den Mond zum Sehsinn in Orakeln spricht.

Bild: Tief aus der Erde wächst ein hoch aufragender winterlicher Baum! Darunter ein kleines gelbes Haus. Schöneberg, Aufnahme vom 22.02.2015

Quellenangaben:
Jérôme Ferrari, Le principe. Roman. Actes Sud, Paris, mars 2015, Seite 7
Plutarch, De Pythiae oraculis 404e:
via Plutarch, De Pythiae oraculis, stephpage 404e.

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Historische Tiefenprägungen: Griechenland als Teil des europäischen Ostens

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Jan 282015
 

Bezeichnend für den europäischen Osten, wie er sich etwa ab dem 8. Jahrhundert deutlicher und deutlicher vom Westen absetzt, ist das klare Bekenntnis der weltlichen Obrigkeit zu einer geistlich-kulturellen Obrigkeit. Als Beleg dafür mag gelten, dass der neue griechische Ministerpräsident Tsipras noch vor der Vereidigung seine Loyalität gegenüber dem Patriarchen der griechisch-orthodoxen Kirche bezeugt hat.  Der Osten pflegt seit mehr als 1000 Jahren – im Gegensatz zum europäischen Westen – bis zum heutigen Tage die Einheit von Thron und Altar, und zwar sowohl in den weiterhin christlichen Ländern, die eine echte Staatskirche, eine Staatsreligion haben, wie auch in der Türkei, dem mittlerweile komplett islamisierten Mutterland des Christentums, in dem das junge Bekenntnis nominell  im ersten Jahrhundert die erste Christengemeinde gründete. Auch die Türkei hat – wie Griechenland – bekanntlich eine Staatsreligion, den an allen staatlichen Schulen für alle Schüler  als Pflichtfach gelehrten sunnitischen Islam.  Griechenland hat – ebenso wie Russland wieder – eine Staatsreligion: die griechisch-orthodoxe bzw. russisch-orthodoxe Kirche.

Völlig konsequent ist es auch, dass Griechenland den engeren politisch-ökonomischen Schulterschluss mit dem orthodoxen Bruderland, mit Russland, sucht und findet.

Es ist ein Jammer, dass die EU sich eigentlich derzeit nur noch um das Geld dreht. Am Gelde hängt doch alles, zum Gelde drängt doch alles. Jammerschade, denn die EU böte eigentlich ein Dach, um die seit 1054 n. Chr. bestehende Spaltung in Westen und Osten durch die zeitüberdauernden echten Werte, die Werte der Demokratie, der Freiheit, durch den Dialog der der drei abramitischen Religionen im Geist der Solidarität zu überwinden.

Aber im Zeichen des Euro, unter dem Bann der philargyria (der schrankenlosen Liebe zum Geld, wie dies der griechischsprachige Apostel Paulus aus Tarsos nannte), befestigt sich die historische Tiefenspaltung Europas derzeit. Die europäische metanoia ist ausgeblieben.

Unerlässlich ist jetzt die Rückbesinnung, die Metanoia, auf die gemeinsamen – in griechischer Sprache verfassten – Grundpfeiler und Grundtexte Europas (die Philosophen Plato und Aristoteles, namentlich die Apologie des Sokrates, die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, also die Septuaginta, und das griechisch verfasste Neue Testament).

Die gegenwärtige EU-Politik hingegen mit der absoluten, pseudoreligiösen Anbetung des Geldes schadet der Einheit Europas in höchstem Maße, weil ihr jeder geistige und kulturelle Kompass fehlt. Es fehlt die Verankerung im griechischen Mutterboden. Es ist ein Offenbarungseid der Extraklasse.

Η εικόνα του ηγέτη του ΣΥΡΙΖΑ Αλέξης Τσίπρας απελευθερώνοντας ένα περιστέρι έχει γίνει με τον οικονομολόγο.

Σε μια κάπως ειρωνικό άρθρο με τίτλο «φτερά του», το βρετανικό περιοδικό αναφέρει ότι το στιγμιότυπο θα κάνει εκλογική τύχη του τίποτα, αλλά καλό.

 

via Economist: Ο Αλέξης Τσίπρας, ο Θεοφανείων και το περιστέρι … | Ορθόδοξοι περιοδικό Ορθόδοξη Περιοδικό.

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„Das Eifern für den eifernden Gott ist dem Monotheismus eingeschrieben“

 31. Oktober 1517, Griechisches, Religionen  Kommentare deaktiviert für „Das Eifern für den eifernden Gott ist dem Monotheismus eingeschrieben“
Nov 032014
 

2014-08-13 17.31.43

 

 

 

 

 

 

 

Dem Monotheismus ist eine Anlage zum Zelotismus  – zum (auch) gewalttätigen Eifern für den eifernden Gott eingeschrieben, der mit der Verteufelung der Bilder zusammenhängt.“

So sprach der Ägyptologe Jan Assmann am Reformationstag in der fünften seiner bewusst zugespitzten, gleichsam keilschriftartig verknappten Thesen bei der Disputation in der Wittenberger Leukorea.

Der Disputant Ralf Elger, Islamwissenschaftler und Arabist an der Martin-Luther-Universität,  bemerkte diesen metaphorischen Gebrauch des Verbums „einschreiben“, er bezeichnete das Verbum „einschreiben“ als ein neuartiges, geradezu modisches, ihn offenkundig nicht überzeugendes  Sprachbild.

Neuartig, modischer Sprachgebrauch? Ein Blick in den vielfältigen Gebrauch des Wortes „einschreiben“ vermag zu enthüllen, dass bereits im 3. Jh. v. Chr. dieser metaphorische Gebrauch des Tätigkeitswortes „einschreiben“ gut belegt ist!

Hier ein paar Belege aus dem Liddell-Scott-Wörterbuch! Besonders hervorzuheben, wie Xenophon in seiner Kyrupädie schreibt, den Menschen könnten gewisse „Gedanken“ eingeschrieben, „eingeritzt“ werden wie etwa die Inschriften auf den Spruchbändern eines ägyptischen Obelisken!

 

ἐγγράφω engrave, inscribe, ἐν τῇσι στήλῃσι Hdt.2.102, cf. 4.91; νόμους Lys. 30.2 of codifiers, opp. ἐξαλείφω: —Med., ἢν ἐγγράφου σὺ μνήμοσιν δέλτοις φρενῶν A.Pr.789:— Pass., to be written in, ἐνεγέγραπτο δὲ τάδε ἐν αὐτῇ sc. τῇ ἐπιστολῇ Th.1.128; αὑτὸν εὗρεν ἐγγεγραμμένον κτείνειν found his name entered in the letter for execution, ib. 132; δέλτον ἐγγεγραμμένην συνθήμαθ’ S. Tr.157. 4. metaph., εἰ μέλλουσι τοιαῦται διάνοιαι ἐγγραφήσεσθαι ἀνθρώποις X.Cyr.3.3.52. 5. Geom., inscribe a figure in another, εἰς . . Euc.4.4, al.; ἐν . . Archim.Sph. Cyl.1

Assmann entfaltete vor dem dichtgedrängten, staunend lauschenden Publikum seine Gedanken häufig in bildlichen Wendungen, die das Gemeinte besser hervortreten lassen als es rein begriffliche Abstraktion vermöchte.

Einen besonders schönen Beleg für diesen übertragenen Gebrauch des Wortes einschreiben fand ich in meinem Gedächtnis bei Andreas Gryphius, und zwar in seinem Sonnett auf den dritten Ostertag:

Doch wenn mich dünckt/ daß ich im Elend itzt vergeh/
Vnd meine daß vor mich kein Mittel zu gewinnen/
So werd ich deiner Hülff vnd gegenwart recht innen/
Vnd daß in deine Hand ich eingeschriben steh:
Denn sagstu wie der Zorn deß Höchsten abgelehnet
Wie Gott mit mir zu fried’/ vnd wie du mich versöhnet.
Denn lern ich/ daß ich Fleisch/ gleich deinem Fleische sey.

Der Mensch ist eingeschrieben in die Hand Gottes – das ist doch ein herrliches Bild! Man möchte es jedem Sterbenden hinterherrufen, dessen Dasein verweht und vergeht. „Du bist eingeschrieben in die Hand des Höchsten!“ Nicht eingemeißelt, sondern weich hineingezeichnet, hineingedrückt in die Hand eines Größeren.

Nicht das eifernde Zupacken der gewalttätigen Hand des Eifersüchtigen, sondern das bergende, hegende, aufnehmende Umfassen drückt sich darin aus.

Bild: ein kleiner Frosch am Fluss Moskwa, 13.08.2014

 

 

 Posted by at 23:54