„Wann machen wir die nächste Probe?“

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Sep. 032009
 

Manches hat sich geändert im neuen Schuljahr. Klassen wurden aufgelöst und neu zusammengelegt. Das erste Jahr mit dem Experiment „Jahrgangsübergreifendes Lernen“ läuft jetzt auch in der Fanny-Hensel-Grundschule an. „Wir sind jetzt drei Klassen in einer!“, berichtet stolz mein Sohn. Und er erzählt: „Wir sitzen jetzt alle sortiert.“ Uralte Schwarzweiß-Fotos fallen mir ein: Auf Holzbänken sitzend – die Kinder eines ganzen Dorfes nach Jahrgängen „sortiert“.

Trotz der verblassten Nostalgie-Fotos bleibe ich bei meinem Optimismus: In jeder Situation gilt es das Beste zu bewirken, egal ob man früher eher „dafür“ oder „dagegen“ war. Und ich bin sicher, dass die Lehrerinnen und die Schüler im Bunde mit uns Eltern auch in diesem Schuljahr wieder sehr viel Gutes schaffen werden. Ich setze mein Vertrauen ganz auf diese Menschen. Sehr viel weniger auf „die Schulpolitik“.

Heute lernte ich den neuen Religionslehrer kennen, der gerade die Schülerschar nach oben ins „Religionszimmer“ bringt. Da kommt ein 7-jähriges Mädchen auf mich zugestürzt: „Du, wann machen wir die nächste Probe? Bitte bitte!“ Kaum zu glauben: Die Proben für die Zauberflöte liegen doch jetzt schon viele Monate zurück. Aber immer noch sprechen mich die Mädchen und Buben darauf an, wollen wissen, wieviel so eine Geige kostet, wollen wissen, wie ich heiße, reichen mir die Hand, um Freundschaft zu schließen. Und dabei habe ich mich eigentlich nur an das Projekt meiner Frau Ira drangehängt.

Auffallend: Nicht die Aufführung des Mozartschen Singspiels bleibt offenbar als besonders glücksbringend im Gedächtnis, sondern die Arbeit vor der Aufführung, also die anstrengenden Proben.

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Juni 072009
 

Gleich am Morgen ging ich zu den Europawahlen in die Nikolaus-Lenau-Grundschule. Ich wurde von den Wahlhelfern freundlichst begrüßt – war ich doch um 9.20 Uhr schon der zwölfte Wähler, der seine Stimme abgab! Den langen Zettel las ich gründlich durch und setzte mein Kreuz bei der Liste eines Mannes, den ich kenne und schätze.

Ich rief aus: „Ich tippe auf 42% Wahlbeteiligung und leiste hiermit meinen Beitrag!“ Gelächter: „Sie sind zu optimistisch!“ – Das habe ich ja auch in diesem Blog geraten. Und so ist es auch gekommen. Der Wahlausgang bedeutet ein klares Votum für mehr Freiheit, für weniger Staatsgläubigkeit. Die niedrige Wahlbeteiligung und ebenso das Erstarken der Rechten in den anderen Ländern finde ich allerdings bedenklich.

Beim Umweltfestival der Grünen Liga, dem Netzwerk ökologischer Bewegungen, erzähle ich das Märchen vom Rabenkönig zweimal. Erst auf der großen Bühne vor dem Brandenburger Tor, dann auf der kleinen Bühne vor dem russischen Panzer. Nur mit einer Stimme und einer Geige vor die Menschen zu treten, das ist schon mehr, als sich in einem Ensemble einzureihen. Ich lasse mich tragen und die Worte strömen sozusagen aus mir heraus. Der Sohn, der sich aufmacht, um seine beiden Brüder und den Ochsen zu befreien, besteht alle Prüfungen: Er kann teilen, denn er gibt sein letztes Brot an ein Tier. Er hört zu, er ist mutig – und er geht sparsam mit den Schätzen der Erde um!

Das Tolle war: ich hatte keinen Text auswendig gelernt, sondern merkte auf die Reaktionen der Zuhörer – was kommt an? Wie alt sind sie? Wie gehen sie mit? Also waren die zwei Fassungen des Märchens heute recht unterschiedlich.

Die große ADFC-Sternfahrt endete hier am Brandenburger Tor. Durchnässt, aber zufrieden trudeln Tausende und Abertausende von Radlern ein. Ich spreche mit einigen ADFC-Freunden, darunter auch der ADFC-Landesvorsitzenden Sarah Stark.  – Es war ein erfolgreicher Tag, etwa 100.000 Teilnehmer folgten dem Lockruf der freien Straßen.

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Vorfreude auf das morgende Konzert

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Mai 262009
 

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Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) war der Bruder Fanny Hensels. Seine Berliner Kindheit verbrachte er mit seinen drei Geschwistern in einem Haus an der Leipziger Straße 3. Mit großem Fleiß lernte er mehrere Sprachen, Musik, Mathematik, Literatur, Sport, Zeichnen und Geschichte. Der Vater ermahnte die Kinder immer wieder, auch wenn er auf Reisen war: „Tut was für eure Bildung, lernt, übt, arbeitet!“ Die Eltern mussten damals noch aus eigener Tasche für den ganzen Unterricht bezahlen. Mehrere Jahre lebte er dann in verschiedenen Ländern, weil er nicht wusste, wo er eigentlich hingehörte. Endlich, am 21. Februar 1832, schrieb er an seinen Vater: „Das Land ist Deutschland; darüber bin ich jetzt in mir ganz sicher geworden.“  

Voller Vorfreude auf das morgige Konzert in der Fanny-Hensel-Schule studiere ich Partituren und Skizzen, Bücher und hochgelahrte Abhandlungen. Denn ich musste soeben noch ein komplettes Programm schreiben, bosseln, häkeln, drucken und falten. Obiges ist der Lebenslauf, wie ich ihn für die Kinder, die uns morgen zuhören werden, geschrieben habe. Die Kinder sind zwischen 6 und 12 Jahren alt. Sie kommen aus ca. 12 Ländern.

Das Foto zeigt Angela Billington und den hier bloggenden Komödianten bei der Aufführung der Mozartischen Zauberflöte, letzte Woche in der Fanny-Hensel-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Den Theatervorhang haben die Kinder der Klasse 1 B selbst gemalt.

Und so habe ich die Künstler-Biographien zurechtgehübscht:

 

Angela Billington (Sopran) kommt aus England und hat in Cambridge studiert. In Berlin hat sie bei diversen Oper- und Kabarettprogrammen mitgewirkt. Sie hat in letzter Zeit Solokonzerte in Kalifornien und England gegeben. Sie interessiert sich besonders für die russische Oper.

 

Irina Potapenko (Alt) stammt aus Moskau. Ausgebildet als Opernsängerin in Moskau und Leipzig an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie ist freiberufliche Sängerin und lebt in Berlin. Preisträgerin beim Bach-Wettbewerb in Leipzig. www.musikerportrait.de/irina-potapenko/

 

Ivan Hampel (Violine) geboren am 28.05.2002, besucht die Klasse 1 B der Fanny-Hensel-Grundschule. Er nimmt bei Tamara Prischepenko Geigenunterricht. Seine berufliche Zukunft sieht er gleichermaßen als Lokomotivführer und Geiger. Seine beiden Sprachen sind Deutsch und Russisch.

 

Johannes Hampel (Violine) spielt seit 40 Jahren nach Herzenslust Geige. Er arbeitet als Konferenzdolmetscher für Englisch, Italienisch und Französisch und lebt fünf Tandem-Fahrradminuten von der Fanny-Hensel-Schule entfernt.

 

Natalia Christoph (Klavier) stammt aus Kaliningrad (Königsberg). Sie wirkte als Pianistin an zahlreichen Opernaufführungen in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz mit. Pädagogische Tätigkeiten: Moldauisches Konservatorium Kischinjow, derzeit an der UdK Berlin, Meisterkurse in Frankreich und Belgien. Sie begleitete unter anderem Ute Trekel-Burckhardt und Hanno Müller-Brachmann. www.natalia-christoph.de/

Und das ist unser Programm (Dauer 45 Minuten):

1. Robert Schumann: Marsch

    Ivan Hampel, Geige

    Irina Potapenko, Klavier

 

2. Felix Mendelssohn Bartholdy: 3 Duette

    Ich wollt, meine Lieb ergösse sich (Worte: Heinrich Heine)

    Herbstlied (Karl Klingemann)

    Lied aus Ruy Blas (Victor Hugo)    

Angela Billington, Sopran

Irina Potapenko, Alt

Natalia Christoph, Klavier

 

3. F. Mendelssohn Batholdy

    Andante. 2. Satz aus dem Violinkonzert e-moll

            Johannes Hampel, Violine

            Natalia Christoph, Klavier

 

4. F. Mendelssohn Bartholdy

    Frühlingslied  (Nikolaus Lenau)

    Gondellied (Thomas Moore)

            Irina Potapenko, Natalia Christoph

 

6. F. Mendelssohn Bartholdy

    Rondo capriccioso

   Natalia Christoph, Klavier

 

7. Pjotr Ilijitsch Tschaikowskij: Zwei Duette

    Im Garten

    Duett der Lisa und Polina aus der Oper „Pique Dame“

    Angela Billington, Irina Potapenko, Natalia Christoph

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Anschwellende Glockentöne

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Mai 012009
 

30042009002.jpg Laue, herrliche Frühlingsabende bezaubern Berlin!

Gestern besuchten wir das Konzert des Russisch-belarussichen Jugend-Symphonieorchesters in der Heilig-Kreuz-Kirche. Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren spielen auf. Sie beginnen mit Mozarts Ouvertüre zur Hochzeit des Figaro. Hohes technisches Können, Hingabe, Ernst. Die Kirche ist gut gefüllt, es herrscht jene gesammelte Erwartung, wie sie sich nur dann einstellt, wenn Besucher und Musiker sich schon vorher verbunden fühlen.

In den Polowetzer Tänzen von Borodin werden Geschichten erzählt, vor meinem Auge ziehen Bilder auf. Überhaupt zeichnet das Spiele der jungen Musiker aus, dass sie eine Geschichte haben, es wird nicht nur ein Text heruntergespielt, nein, man spürt, wie sie etwas von sich zeigen, wie sie mitgehen. Wie mag das Leben der jungen Leute aussehen? Wahrscheinlich konzentrieren sie sich auf die Musik, sie haben Ziele. Wenn ich dagegen deutsche Jugendorchester oder Orchester von Musikhochschulen höre, drängt sich mir oft der Gedanke auf: Fein – aber die Musiker spielen so, als hätten sie noch was anderes vor. Nicht so gestern abend! Die jungen Russen und Weißrussen spielten mit Leidenschaft, mit Notwendigkeit spann sich ein Ton an den nächsten. Besonders stark bei Pjotr Tschaikowskijs „Festlicher Ouvertüre 1812“: Hier wird die Auseinadersetzung zwischen Russland und Frankreich geschildert. Kanondonner und Märsche ertönen, man hört die Marseillaise. Doch gegen Ende setzt sich sieghaft Russland durch, wir hören die Melodie von „Gott schütze den Zaren“.

Hier spielte das Orchester so, dass eindeutig erkennbar wurde: Mit dieser Musik meldet sich Russland als geistige Macht auf der europäischen Bühne zurück. „Wir sind wieder da – wir sind stärker als der Westen.“ Ich hörte dies heraus aus der musikalischen Interpretation. Es war wie ein Sog. In den letzten Takten erklingen hartnäckig, ohrenbetäubend anschwellend die Glocken einer orthodoxen Kirche. Sie schlagen dir etwas ins Gehör hinein. Eine überwältigende Erfahrung der inneren Gewißheit, der wir im Westen nichts entgegenzusetzen haben.

Mich bewegten Gedanken, weshalb unsere westliche Jugend im Gegensatz zu diesen Russen und Weißrussen oft so planlos, so unbeschäftigt, so satt auf mich wirkt. Wahrscheinlich haben sie zu viele Dinge, zu viel Zeit. Sie habe zu wenige Widrigkeiten zu überwinden. Deshalb bleiben viele Talente ungenutzt. Die Musik Tschaikowskijs oder Schtschedrins vermittelt schockartig ein Gefühl für die Kostbarkeit der Zeit: Denn all diese Momente, sie kommen nicht zurück. Auch jetzt, während du dies liest, erlebst du einen Augenblick, der nicht wiederkehren wird.

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Apr. 032009
 

  „Here, towards the end, the three players suddenly turn against the cellist. They condemn him, chasing him as a scapegoat. Haven’t you seen and heard that? Here, music is transformed into an archaic ritual. It is no longer a set-piece convention. It is utterly exciting, it goes right into your bone-marrow.“ Solcherlei Reden schwang ich am vergangenen Montag, als mich einige Mithörer ratlos befragten. Wir hörten ein weiteres Konzert des Artemis Quartetts. Rechts neben mir saß ein Österreicher, der drei Freunde aus Mauritius in den Kammermusiksaal der Philharmonie eingeladen hatte. Neben mir saß – eine Russin wie so oft.

„Na, mit dem Quartettsatz c-moll D 703 und dem Streichqartett a-moll Rosamunde sind Sie doch gut bedient und wie zuhause obendrein als Österreicher“, schmeichelte ich mich ein. „Freilich“, erwiderte mein netter Nachbar, „aber ich bin West-Österreicher. Mit dem ganzen Osten haben wir immer Schwierigkeiten gehabt. Das Völkergemisch ab Wien war für uns der Vorläufer des Balkans. Und der Schubert Franzl ist einer von denen.“ „Ja, was denn, habt auch ihr Österreicher die Ost-West-Spaltung noch nicht überwunden?“, frug ich listig zurück.

Wie auch immer: Alles war bestens vorbereitet. Das 4. Streichquartett und das 3. Streichquartett von Jörg Widmann überraschten die Zuhörer dann aber doch.

Das 4. Quartett beginnt mit Atemgeräuschen, die Bögen streichen über die Zargen, fahle Nicht-Musik gerinnt zu Klang, wird Musik. Großartig! Das Verfeinertste bricht sich selbst unvermittelt im Grob-Stofflichen. „Klang ohne Bezug auf anderes, etwa der bloße Ton einer Violin“, schreibt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, „darf nicht eigentlich schön geheißen werden, da ihm das hinzutretende Empfinden von Maß und Ordnung fehlt, welches ein Geschmacksurteil allererst möglich macht.“ So erinnere ich mich bei ihm gelesen zu haben.

Der bloße Ton einer Violin, einer Viola, eines Violoncells, eines Atems, eines Schreis, das ist es, woraus Jörg Widmann die üppig sprießenden Blumen seiner Kunst erwachsen lässt. Ich war hingerissen, die Männer aus Mauritius waren befremdet, die Russin neben mir war entzückt, der Österreicher enthielt sich salomonisch des Urteils und sagte: „Das ist Musik für Kenner“.

Widmann schafft es, in die Ausreiß-Versuche aus den letzten drei Jahrhunderten Musik den Ton des Neuen, des Uralten einzuflechten. Beim Zuhören musste ich an die Felsmalereien in Lascaux denken, steinzeitliche Jäger haben dort ihre Rituale des Versammelns, Hetzens, Stoßens und Tötens eingeritzt. So ist auch Widmanns 3. Streichquartett eine Art Einritzung in die Gehörnerven. Der Komponist sagt:

„Beim Betrachten der Partitur des 4. Streichquartetts ergibt sich der Eindruck eines dicht gedrängten Stückes. Die Informationsdichte einer jeden Stimme ist extrem hoch, da verschiedene Spieltechniken links und rechts gleichzeitig ausgeführt werden müssen und jeder Spieler zugleich noch eine ‚Atem-Partitur‘ auszuführen hat.“

Das bedeutet doch wohl: Der letzte Sinn der Musik erschließt sich erst beim Betrachten der Partitur und beim Betrachten der Musiker, wie sie das Ganze in Szene setzen. Es ist Musik auch für die Augen, wie es etwa im 16. Jahrhundert einige Madrigalkomponisten bezweckten. Widmann bettet die reiche Tradition des Streichquartetts in den Ursprung zurück: in Spiel, magisches Ritual, in den körperlich-geistlichen Vollzug.

Natalia Prishepenko und Gregor Sigl an der Violin, Friedemann Weigle an der Viola, Eckart Runge am Violoncell – sie boten uns erneut einen beeindruckenden Abend, wie schon am 28.01.2009,  worüber wir in diesem Blog berichteten.

Es hat sich ein Publikum um dieses Artemis Quartett gebildet, welches jeden Atemzug der vier neugierig, staunend, hingerissen aufsaugt. Die Reihe muss fortgesetzt werden. Die Jagd geht weiter!

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Ich grolle nicht

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März 082009
 

Heinrich Heine und die Frauen – das war das Thema, dem am Freitag ein ganzer Salon bei Marie-Luise gewidmet war.  Ort: In der Rosa-Luxemburg-Straße zu Berlin, ausgerechnet!

Die Sängerin Irina Potapenko trug, begleitet durch Uwe Streibel, fünf Lieder Heines in der Vertonung durch Robert Schumann vor. Großartig! Schumann schafft es, den tändelnden Texten Heines einen Gegen-Wortlaut anzuhängen. Dadurch werden sie schwer, bitter, widerständiger als sie es sind. Besonders das herrliche „Ich grolle nicht“ steht mir jetzt noch in Ohr und  Gedächtnis.

Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht,
Ewig verlornes Lieb! ich grolle nicht.
Wie du auch strahlst in Diamantenpracht,
Es fällt kein Strahl in deines Herzens Nacht.

Das weiß ich längst. Ich sah dich ja im Traum,
Und sah die Nacht in deines Herzens Raum,
Und sah die Schlang, die dir am Herzen frißt, –
Ich sah, mein Lieb, wie sehr du elend bist.

Schumann komponiert das Lied im Grunde über das eine Wörtchen „nicht“. In den Oktavschlägen der linken Hand, hervorgehoben im subito forte, wird das „nicht“ aufgehoben, ins Gegenteil verkehrt. Es ist, als hörte man: „Aber ja, ich grolle“ doch so sehr! Selten ward Freuds Einsicht, dass das Unbewusste kein „Nein“ kennt, so sinnfällig bewahrheitet wie in dieser Vertonung Schumanns. Und welche Wende steckt in diesem Wort elend!

Bei den Damen kam Heine erneut sehr gut an. Keine empörte sich, dass Heine die Frauen etwa nur benutzt habe als Muse, Stichwortgeberinnen – oder Vorwände, um unglücklich zu sein. Anderes hörte ich allerdings danach im Salon-Geplauder. Ein aufmerksam lauschender Iraker äußerte sich kritisch gegenüber Heine: „Er hat Frauen geschlagen. Deswegen mag ich ihn nicht.“ Mehrere der anwesenden Frauen verteidigten Heine mit dem Bedenken, dass auch er von Frauen geschlagen worden sei. Es müsse Waffengleichheit herrschen, diese sei auch einem gebildeten Manne wie Heinrich Heine unbedingt zuzubilligen.

Mir fiel die Rolle zu, Gedichte, Briefe und Prosatexte von Heinrich Heine vorzutragen. Dieser Aufgabe entledigte ich mich mit der mir eigenen Zungenfertigkeit. Im Wechsel dazu erklangen Musik, eine geraffte Erzählung der Heine’schen Frauenbeziehungen, deren es etliche gab – und Ausschnitte aus den allerlei Fehden und Bittgängen, die der deutsch-jüdische Dichter durchgefochten.

Madame Potapenko erklärte sich auch bereit, vor dem Auftritt mit mir zu posieren, was mich sehr gefreut hat. Das Portrait seht ihr oben.

Als Vorklang auf den heutigen Frauentag nahm ich aus der Küche in der Rosa-Luxemburg-Straße den bildlich-eindrücklichen Aufruf mit: „Auch du hältst die Küche sauber, Genosse!“

Was ich mir zur Verpflichtung nahm. Mindestens heute.

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Vierklang. Artemis. Anfang. Eine Suche

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Jan. 282009
 

Es begann mit – einer ausholenden Bewegung. Keinem Klang, sondern einer reinen Geste. Dann das Andrücken. Halt, zurück, alles auf Anfang! Kleine Bewegungen, Rucken, Pressen, Schaben. Ein Ticken und Klickern. Haar auf Saite. Hölzern, fahl. Als fielen Nüsse auf einen Holzboden. Dann das Zerren und Ziehen, das Gespräch der imaginären Bohrer. Akustische Ereignisse fielen ins Zeitkontinuum hinein. Das alles — ist auch Musik, aber Musik deren Entstehung man zusehen kann.

So schrieb es Jörg Widmann in seinem 1. Streichquartett vor. Gestern besuchte ich im Kammermusiksaal der Philharmonie  das Konzert des Artemis-Quartetts. „Auf der Suche nach dem Anfang“, so erläuterte der 1973 geborene Komponist selbst sein Werk. Eine Art Gesprächsversuch zwischen vier Menschen, die erst mühsam zu einer gemeinsamen Sprache finden müssen und dies auch schaffen – aber immer nur für einen Augenblick. Und dann wieder zurückfallen ins Verstummen, ins Ticken, Klopfen, Zirpen und Flöten.

Mozarts Klarinettenquintett erinnerte mich früher oft an eine Art festliche Gelegenheitsmusik. Man könnte an den Landrat eines schwäbischen Kreises denken, der den Festakt zum 50. Gründungsjubiläum der Handwerksinnung begeht. Ich hörte in den blühenden Klarinettengirlanden oftmals schon eine Art Vorfreude auf den Freßkorb samt Champagner voraus, den der Landrat gleich nach der Musik erhalten wird.

Seit gestern – höre ich das Stück in ganz anderem Licht. Das Artemis-Quartett spielte des Werk so, wie ich es noch nie gehört habe. War es das vorausgehende Stück von Jörg Widmann, das den ganzen scheinbar wohlbekannten Mozart in ein anderes Licht rückte? Jedenfalls schien mir nichts mehr selbstverständlich. Das Artemis-Quartett lässt jeden einzelnen Ton, jede Phrase neu entstehen. Kein blühendes Dauervibrato überzuckert die Stimmen. Ein ganzes Register an Klängen wird aufgefächert! Mozart ist nicht mehr der ewige Spieler, der fröhliche Allerweltsliebling. Nein, es tauchte ein anderer Mozart auf. Ein Mozart, der urplötzlich ins 21. Jahrhundert katapultiert erschien.

Gregor Sigl an Violine 2 und Friedemann Weigel an der Viola bildeten eine Art tragende Achse. Diese beiden Stiummen, die Mittelstimmen, werden häufig bei anderen Streichquartetten als Füllstimmen aufgefasst – nicht so beim Artemis-Quartett. Diese beiden „Mittelstimmen“ bildeten gestern, so empfand ich, das tragende Fundament für die beiden „Außenstimmen“. Der Cellist Eckart Runge erhielt dadurch einen riesigen Freiraumgeschenkt – einen Freiraum für Übergänge, für Abstufungen in Dynamik und Klangfarbe, einfach nicht das sind, was man sonst von einem „Bass-Instrument“ erwarten würde. Die wunderbare Geigerin Natalia Prishepenko, die wir bereits am  24.11.2008 in diesem Blog einführten, schwebte, schwerelos eingeflochten in diesem häufig irisierenden Klanggebilde.

Das Quartett hat eine überragende Geschlossenheit erreicht – viel stärker als in der früheren Besetzung, die ich vor einigen Jahren im Wissenschaftskolleg hörte.

Schuberts Streichquartett Nr. 15 G-Dur war die zweiteStrecke diese großen, alle ergreifenden Suchbewegung. Fahl, zuckend, schwer lastend der Anfang. Wie die vier da mit minimalen Temporückungen spielten – das war schon verteufelt raffiniert, abgefeimt, spannend bis fast zum Unerträglichen. Das Andante, der zweite Satz mit dem herrlichen Cello-Solo, vermittelte Glück – aber es war ein Glück aus der Erinnerung, ein Glück, dass seiner selbst nie ganz gewiss ist.

Auch bei Schubert pflegt das Artemis-Quartett seine in Frage und Antwort sprechende Klangrede. Sie spielen von Linien her, jede Stimme bleibt jederzeit vollkommen durchhörbar. Nie verschwimmt der ganze Klang zu einem flächigen Gebilde, wie ich das oft bei andern Streichquartetten hörte. Diese vier  Musiker arbeiten vor allem mit dem Bogen, ihm entlocken sie alles. Die linke, die greifende Hand unterstützt, setzt Glanzlichter auf, belebt – aber sie presst und drängt nicht. Das bloß Musikantische, das Melodienselige, das ach so Wienerische beim Schubert Franzl wird abgesagt.

Es ist ein Schubert, der um alle Schrecken des 20. Jahrhunderts weiß. Freunde, Blogger, wisst ihr denn am heutigen Tage, worauf ich anspiele? Täusche ich mich? Wir hörten gestern ein Konzert vom Überleben. Vom Weiterleben der Musik.

Nur an einer einzigen Stelle – dies war etwa 30 Takte vor dem Schluss des Konzerts überhaupt – brauste der volle Klang des Quartetts im Fortissimo auf. An genau dieser Stelle kam das gesamte Unternehmen, dieser ganze Konzertabend, diese hochgespannte, vom Düsteren zum Erlösten pendelnde Fahrt zu ihrem Ende. Das können sie also auch, dachte ich. Sie, die sonst mit atemberaubenden Zwischentönen, mit endlos abgestuften, treppenartig zueinanderlaufenden Übergängen spielen – sie ließen ein einziges Mal im ganzen Abend die Fülle des Wohllauts aufrauschen. Um diesen dann gleich zurückzuholen ins Mezzoforte.

Eine lange, vom ersten bis zum letzten Moment gespannte Suchbewegung durch drei Stücke hindurch war an ihr Ende gelangt. Es war für mich ein großes, ein lange nachwirkendes Konzert. Ein Konzert, in dem die drei Stücke architektonisch aneinandergefügt wurden, so dass sie wie Bruchstücke einer einzigen großen Konfession erschienen. Was für eine geniale Politik in der Programmauswahl, den Widmann an den Anfang zu stellen! Was für ein atemberaubendes Demontieren und Neumontieren alles dessen, was uns beim Popmusikanten Mozart lieb und teuer schien! Was für ein atemloses, langgedehntes Abschiednehmen beim Schubert!

Ich werde ab diesem Konzert Streichquartette mit ganz anderen Ohren hören – und auch selber spielen. Das Artemis-Quartett hat die Kraft, scheinbar bekannte Werrke neu aufzuschließen, als hörte man sie zum ersten Mal, ja, als hörte man zu, wie der Komponist sie gerade jetzt schreibt. Wie er sie jetzt gerade zu Papier bringt. Und diese Kraft des Jetzt, sie besiegt alle Trauer über die Vergänglichkeit, über die Begegnung mit dem Tod.

Das Publikum, in dem ich viele kundige Musiker, viele junge Menschen entdeckte,  war aus dem Häuschen – rief, jauchzte, brüllte. Sie alle spürten von Anfang an: Umsonst. Es gab kein Da-capo, keine Zugabe. Was hätte das auch sein können? Ein Wiederanheben nach diesem Abschied? Unmöglich!

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Bildungsvergleich: Ost-Schüler bringen West-Mann in Bedrängnis

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Nov. 242008
 

Immer wieder gerate ich als einzelner West-Mann unter Druck in den fröhlichen Versammlungen meiner durch Kommunismus und Diktatur geprägten Freunde und Verwandten. So auch wieder gestern: Gemeinsam hörten wir – eine Runde von Musikern und Sängern aus aller Herren Länder, darunter ich als einziger West-Mann – einen privaten Mitschnitt vom Wieniawski-Wettbewerb Lublin 1988. Junge Geiger mussten in drei Runden ein anspruchsvolles Programm vorführen, darunter eben auch einige der schwersten Stücke, die es überhaupt in der Violinliteratur gibt, solche Leckerbissen wie die Variationen über ein eigenes Thema von Henri Wieniawski. Die spätere Siegerin, Natalia Prischepenko aus der damaligen Sowjetunion, hatte es uns gleich von Anfang an angetan: Eine bezaubernde Erscheinung, brachte sie die Emotionen der Musik voller Lebendigkeit, mit Stolz, Selbstgewissheit und Charme über das Podium in den ganzen Saal hinein, technisch makellos, brillant, angriffslustig, aber im Tempo absolut unerschütterlich. Selbst die allerschwersten Variation mit den Pizzicati der linken Hand „stand“ sie ohne Tempoverzögerungen! Jeder einzelne Ton perlte. Hinreißend, und das alles im Alter von 15 Jahren! Ihr Lehrer Zachar Bron saß irgendwo in einer der letzten Reihen, spielte im Geiste und sogar mit Gesten alles mit, ackerte, litt mit der Schülerin … Aber der Erfolg gab den beiden recht.

Oft höre ich dann: „Solche Höchstleistungen in den Bereichen Musik, Naturwissenschaften und Sport brachte eben nur das alte System hervor! Es gab weniger Ablenkung durch Gameboys, Handys und MP3-Player. Talente wurden bis in die hintersten Winkel der Sowjetunion gezielt gefördert. Herkunft zählte nicht – nur die Begabung. Solange man politisch nicht aneckte, konnte man sicher sein, dass eigene Leistungsreserven optimal ausgeschöpft wurden. Ihr im Westen habt dem nichts entgegenzusetzen. Bei euch herscht Kuschelpädagogik. Die soziale und ethnische Herkunft entscheidet hier in Berlin im großen und ganzen über den Bildungserfolg! Ausländer schaffen es kaum nach ganz oben. Das Niveau wird nach unten angeglichen, Leistung wird kaum gefördert.“

Schluck! Ich kann dem kaum etwas entgegensetzen. Das Niveau etwa in der Musikerausbildung war in den Staaten des Ostblocks deutlich höher als in Westeuropa. Dies meine ich wirklich nach Dutzenden von direkten Begegnungen mit Musikern feststellen zu können.

Wer weiß – vielleicht hat das bessere Abschneiden der Ost-Bundesländer auch etwas mit dieser Kultur der Leistung und des Lernens zu tun? Ich vermute dies. Denn die Mehrzahl der Lehrer, die etwa in Sachsen und Thüringen unterrichten, dürften noch aus der DDR stammen. Doch halt – es gibt ja noch Bayern … und da kenn ich mich aus. Denn ich habe mein Abitur in jenem fernen Lande errungen – das allerdings weder dem Osten noch dem Westen, sondern dem stolzen Süden der Republik angehört! Vivat Bavaria.

Bildungsvergleich: Ost-Erfolg bei Pisa macht Westländer neidisch – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – SchulSPIEGEL

Hauptschulen? Nicht in OstdeutschlandSachsen und Thüringen zählen jetzt zu den großen Gewinnern des innerdeutschen Ländervergleichs Pisa-E der 15-jährigen Schüler. Sachsen eroberte den Spitzenplatz in Mathematik und Lesekompetenz sehr knapp vor Bayern. Beim Schwerpunkt Naturwissenschaften liegt das Land international sogar auf dem zweiten Rang hinter Finnland, wenn man die deutschen Bundesländer in die weltweite Studie einsortiert.

 Posted by at 10:41
Nov. 072008
 

Nach langer Plackerei gibt es für mich nichts Schöneres als mit anderen zusammen oder allein Geige zu spielen. Meist ergibt es sich von selbst, welche Stücke ich spiele. Denn ich wähle aus, was mir am ehesten zuzusagen scheint – und oft wählen andere aus, was uns zusagt. Seit neuestem spiel ich wieder Violin-Duo mit einem neuen Duo-Partner. Wir haben uns für die Drei Duos op. 67 von Louis Spohr entschieden. Duo II in D-dur spricht besonders klar, laut und deutlich. Der erste Satz strömt unbezwingbare Lebensbejahung aus. Der zweite Satz Larghetto ruht ganz in sich, eine wunderbare Mondscheinstimmung wird ausgebreitet. Das abschließende Rondo hat etwas leicht Jahrmarkthaftes, Tänzerisches. Herrlich! Manche Stellen erinnern in ihrer Doppelgriff-Fülle schon an einen Quartettklang.

Daneben studiere ich eine leckere Besonderheit ein: Der Stier Ferdinand für Erzähler und Violine. Worte von Munro Leaf, Musik von Alan Ridout. Schauspielerin Silvia Freund bereitet die Erzählung vor, ich die Musik. Herrlich – der Stier Ferdinand ist ein besonderer Stier, er durchbricht das Ideal des stampfenden, kämpfenden, rangelnden Stiers, ergötzt sich lieber am Blumenduft. Die Musik von Ridout gibt mir die Möglichkeit, beides auszuleben: das Ungebärdig-Stierhafte und das Besinnlich-Weiche. Die Versöhnung von beidem gelingt in der Musik.

Die erste Aufführung ist fest geplant für Freitag, den 5. Dezember in unserer alten Kita am Kleistpark.

 Posted by at 22:30
Apr. 062008
 

Am Abend erreichte mich gestern noch ein Anruf: „Ja schaut ihr denn nicht auf ARTE das Geburtstagskonzert für Herbert von Karajan an? Es ist ein wunderbares Konzert, Anne-Sophie Mutter spielt gerade – wunderschön!“ Ich frage zurück: „Wer oder was ist wunderschön? Die Musik oder die Frau?“ „Beides!“, lautet die Antwort. Ich folge der Aufforderung sofort, schalte ARTE ein. Und es stimmt! Mutter, die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa haben schon die ersten 20 Takte aus dem Larghetto des Beethovenschen Violinkonzertes gespielt. Die Musik trägt scheinbar alle, strömt dahin. Wirklich? Nach wenigen Takten ändert sich mein Eindruck: Die Kamera ruht ganz vorwiegend auf der Solistin, fängt gelegentlich auch einzelne Musiker ein. So bemerkt das Auge, was mein Ohr ebenfalls hört: Die Solistin arbeitet fortwährend am Klang einzelner Töne, hebt einzelne Noten, die zu Ruhepunkten führen – also vor allem solche auf schwachen Zählzeiten-, gewollt hervor. Sie scheint beweisen zu wollen, dass weder sie noch wir mit dem Beethoven-Konzert schon ganz fertig sind, dass es immer noch Neues, Unbekanntes, Unerhörtes zu entdecken gilt! Die Philharmoniker lassen es zu, Ozawa folgt bereitwillig. Dieses Kräftverhältnis bleibt auch im dritten Satz durchweg erhalten, und zwar selbst dann, wenn die Solovioline eindeutig nur umspielende, dienende Funktion gegenüber dem Hauptmotiv hat. Es ist schade, dass Dirigenten und leider auch die Toningenieure es mittlerweile offenbar aufgegeben haben, das Verhältnis zwischen Orchester und Solist so einzustellen, dass Sinn und Struktur eines solchen symphonisch angelegten Konzerts wirklich fassbar hervortreten. Man will den Weltstar sehen, man will dabeigewesen sein, man hat dafür bezahlt. Deutlich wurde das beispielsweise in der d-moll-Episode des dritten Satzes in jenen Takten, wo eindeutig den Holzbläsern die dominierende Rolle anvertraut ist. Mutter führte auch hier, das hörte ich auf Schritt und Tritt heraus.

Bei den wirklich großen, mir im Gedächtnis haftenden Aufführungen dieses Konzerts hatte ich hingegen nie den Eindruck, dass nur der Solist führt – sondern dass der Solist sich führen lässt … sich tragen lässt auf einem rückhaltlosen Vertrauen, Vertrauen in die Komposition, in den Dirigenten und in das Orchester. Es bedarf dann keiner weiteren Zutaten und hingestreuter Perlen.

Aufschlussreich war das Pauseninterview mit Anne-Sopie Mutter über Karajan, über Beethoven, über Bach: „Karajan führte uns so mitreißend, dass wir am Schluss auch wirklich für ihn spielen wollten.“ Eine respektlose Zwischenfrage fiel mir ein: Und wer führte heute abend? „Dieses Konzert ist der Mount Everest, an dem jeder Geiger sich immer wieder erproben muss, und bei dem Kunstverständnis und Virtuosität gleichermaßen gezeigt werden müssen“, so sprach Anne-Sophie Mutter sinngemäß in ihrem wunderbar klaren, schönen, persönlich eingefärbten Deutsch. Aber genau in diesen Aussagen treten auch die Grenzen einer solchen Werkauffassung hervor. Denn dieses Werk kann nicht als bloße einsame Auseinandersetzung der „Gipfelbezwingerin“ gelingen. Dann wird Beethovens opus 61 lange, langatmig, und je länger die drei Sätze dauern, desto stärker wird der Solist sich herausgefordert fühlen, selbständig Glanzlichter an verschiedenen Stellen aufzusetzen, es allen zu beweisen, was er oder sie „drauf hat“. Nein, nur in beharrlicher gemeinsamer Bemühung – vorzugsweise in den Proben – können Dirigent, Orchester und Solist so zusammenfinden, dass daraus der große gemeinsame Atem wird. Karajan, den ich leider nur von Tonträgern kenne, schaffte dieses Wunder immer wieder. Die Beethoven-Aufführung gestern blieb mir zumindest diesen großen, erhebenden Gesamteindruck schuldig. Dabei muss durchaus hervorgehoben werden, dass Mutter die Kreisler-Kadenz des dritten Satzes atemberaubend brillant und mit halsbrecherischem Accelerando spielte, mit einem Spiccato, dass mir schier das Herz stehen blieb – großartig, begeisternd, eine herausragenden Geigerin!

Auch die Zugabe, die Sarabanda aus Bachs d-moll-Partita, entsprach genau diesem Ideal eines Glanzlicher aufsetzenden, um Schönheit der einzelnen Phrase, des Tons bemühten Geigenspiels. Was weniger hervortrat, war die verdeckte Polyphonie, das quasi-ensemblehafte Gepräge dieses gemessen-melancholisch schreitenden Satzes. Beispielsweise in Takt 15: hier hat Bach zweistimmig mit einem einfachen Motiv aus zwei Sechzehnteln komponiert, sinnvollerweise getrennt in der ersten Lage auf A- und E-Saite zu spielen. Mutter entschied sich anders: Sie legte die Phrase ganz auf das unbetonte Tonika-g“ vor dem Taktstrich an, hob dieses sogar noch durch Lagenwechsel auf der A-Saite in die vierte Lage und Vibrato hervor – fürwahr ein hübscher Effekt, den auch andere große Geiger verwenden. Aber sind derartige Effekte wirklich das Beste, was sich aus dieser barocken Komposition herausholen lässt? Ein solches Fragezeichen bleibt. Karajan selbst, wenn er denn zugehört hätte – hätte er kein solches Fragezeichen gesetzt?

Bild: Johann Sebastian Bach: Drei Sonaten und drei Partiten für Violine solo. Hg. von Günter Haußwald, Bärenreiter Verlag, Kassel 1959. S. 30: Sarabanda aus der Partita d-moll

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März 202008
 

Mit einer russischen Altistin, die sich um Hilfe an mich gewandt hat, gehe ich Silbe um Silbe einiger Arien aus der Matthäuspassion von Bach durch. Diese Genauigkeit der Aussprache, dieses Hinarbeiten an einzelnen Wörtern, bis jeder Buchstabe verschmilzt mit dem gesungenen Ton, das Ganze zu belebter Klangrede wird – es ist mir eine tiefe Freude, und Bachs Musik rührt mich immer wieder zu Tränen.

„… dass die Tropfen deiner Zähren … „ Wie oft habe ich diese Arien schon gehört – 50 Mal, hundert Mal? Jedesmal ergreifen sie mich anders.
Wer gibt sich heute in unseren elektronischen Massenmedien noch echte Mühe mit dem guten gepflegten Wort, abseits der vorgestanzten Formeln? Am Abend ruft mich ein Marktforschungsinstitut an. Thema: Berliner private Rundfunksender. Ob ich lieber alte oder neue Musik höre? Ich ziehe vom Leder, sage: „Die alte Musik, also die Musik bis etwa zum 15. Jahrhundert, kommt nicht an die innovative Ausdrucksfülle der neuen Musik eines J.S. Bach heran.“ „Für Hörer wie Sie haben ich keine Felder zum Ausfüllen“, klagt Frau Köhler, „meine Zeitschema geht nicht hinter 1970 zurück.“ Na, dann quälen wir uns noch weiter mit allerlei Fragen zu beliebten und unbeliebten Frühstücksmoderatoren, die mir alle unbekannt sind. I couldn’t care less about your breakfast moderators, Frau Köhler, Ihre Fragen gehen an meiner Bandbreite vorbei.

Irgendwann antworte ich nur noch: Radio Fritz. Damit bin ich wieder im Spiel, denn dieser Sender steht auch auf ihrem Zettel. Hurra! Aber ich bringe sie auch in Verlegenheit durch die Nennung einiger Berliner UKW-Sender, von denen sie noch nie gehört hat. Etwa Radio France International (106,00 FM) oder National Public Radio aus den USA (104,1 FM), ganz zu schweigen von Radio Russkij Berlin (97,2 FM).

Wir beenden das 20-minütige Interview im besten Einvernehmen: Wir haben beide Zeit verschwendet und gestehen dies einander ganz offen ein. Schön, dass es diese Ehrlichkeit gibt, Frau Köhler.

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Handverlesenes Publikum in der Tee-Lese

 Musik  Kommentare deaktiviert für Handverlesenes Publikum in der Tee-Lese
Dez. 162007
 

Je weniger Zuhörer ein Konzert besuchen, desto enger ist die Bindung zwischen Spielenden und Hörenden, desto stärker beeinflussen die Hörer durch ihre Art der Aufmerksamkeit das Spiel. So war es gestern abend: Alle Finger einer Hand hätten nicht ausgereicht, um all die Zuhörer zu zählen! So bot unser Publikum uns denn das denkbar beste, empfangend-gebende Hinhören. Wir weihten unser neues digitales Klavier durch diese Darbietung ein. Es war eine Freude! Fortan sind wir unabhängig und können an jedem bewohnten Ort der Erde ein Konzert mit Klavierbegleitung geben, vorausgesetzt, ein elektrischer Stromanschluss ist vorhanden.

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Dez. 102007
 

Zwei Mal, am 8. und am 9. Dezember, spiele ich als Geiger bei Bachs Weihnachtsoratorium mit. Am Samstag in der Emmauskirche in Kreuzberg, am Sonntag in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg. Die Gethsemanekirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Großes Glücksgefühl für alle, jeder und jede lässt sich tragen von den Wellen dieser unendlich reichen Musik. Dahinter steckt aber auch viel konzentrierte Arbeit, vor allem für den Chor studiosi cantandi mit dem Dirigenten Norbert Ochmann. Wir laden zwei Freunde zu uns ein, um noch ein Glas Wein zu trinken. Wie bei Musikern üblich, lassen wir auch die Einzelleistungen Revue passieren. Unser Freund sagt: „Die Einzelbewertung interessiert mich nicht besonders, ich schließe die Augen und – ich höre Bach!“

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