„Freiheit ist wie Radfahren ohne Stützrad“

 Fahrrad, Freiheit, Person, Philosophie  Kommentare deaktiviert für „Freiheit ist wie Radfahren ohne Stützrad“
Sep. 242012
 

peter-fechter-2012-08-17.jpg

„Radfahren ist etwas Schönes. Es kommt aber der Moment, da müssen die Eltern den Sattel loslassen oder das Stützrad abschrauben.“ Es ist schon erstaunlich, zu wievielen Gedanken das Fahrradfahren die Menschen bringen kann. Verteidigungsminister Thomas de Maizière erzählt in dichten, sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen im zentralen Sinnbild des Fahrradfahrens seinen Begriff der Freiheit, nachzulesen heute in der FAZ-Beilage unter dem Titel „Wie wollen wir leben?“.

Beachtlich auch: Die für zwei oder drei Jahrzehnte in der politischen Arena eher belächelten Werte wie Familie, Ehe, Treue, Verlässlichkeit, Freundschaft nimmt de Maizière völlig angstfrei in den Mund. Sollten diese personalen Werte irgendwann wiederkommen?

Warum auch nicht? Ich finde das gar nicht so schlimm, wenn ein aktiver Politiker sich dazu bekennt, dass nicht Gender equality, Ressourcenmanagment, equal access oder Nachhaltigkeit die Leitwerte der Politik sind, sondern dass die Politik aufruht auf diesen unvorgreiflichen Werten, die jeder Mensch, jede Gesellschaft vor oder neben der Politik spürt, empfindet oder eben vor-findet.

Die vor-findlichen Werte, die sind es. Das ist die Nabe, um die das Rad der Freiheit sich dreht. Gender equality, Ressourcenmanagment, equal access oder Nachhaltigkeit sind ja gar nicht so schlecht, aber sie sind nichts Erstes, sie können geleistet werden, sofern die Verankerung in den Nabenwerten der Freiheit stimmt. Gut! Selbstbegrenzung des Machtanspruches der Politik – die Politik muss loslassen können, so wie Eltern irgendwann ihre Kinder auch allein Rad fahren lassen müssen. Danke, Herr Minister.

 Posted by at 14:24
Aug. 262012
 

Zło jest w nas – dies scheint mir eine sehr taugliche Friedensformel für die Aussöhnung zwischen Menschen und Völkern. Ich übernehme sie von dem Polen Leszek Kolakowski, einem marxistischen Philosophen und Professor.

Das Böse ist in uns und lauert jederzeit an der Schwelle. Ungefähr so steht es auch bereits in den alten Büchern, etwa im Buch Genesis der Bibel. Kain, der seinen Bruder aus Neid tötete, wurde zum Stammvater des Menschengeschlechts.

Warum tötete Kain? Nicht weil er verführt wurde, sondern weil das Böse in ihm hervorstieg.

Das Böse, so sagen es Kolakowski und vor ihm bereits das erste Buch der Bibel, wohnt in uns. Es gehört zum Menschen.

Einen Menschen, der das Böse in sich nicht kennt und nicht anerkennt, den würden wir wohl unvollständig nennen.

So fährt ja auch Jesus  – laut Markusevangelium Kap. 10,17-18 – einem Mann recht unwirsch über den Mund, als dieser ihn „guter Meister“ nennt. Jesus weist es ausdrücklich zurück, gut genannt zu werden. Er weiß auch vom Bösen. Nur der Mensch, der auch von Missetaten etwas weiß, kann in vollem Sinne Mensch genannt werden.

Hier das Zitat im Original, entnommen dem Interview  „Kołakowski: Religia nie zginie“ in der Zeitung Dziennik, 21. März 2008:

Prof. Kołakowski dla DZIENNIKA:

O upadku utopii doskonałego społeczeństwa: Zło jest w nas i to jest jeden z powodów, bo nie jedyny, dlaczego świata doskonałego nie można zbudować, dlaczego te nadzieje okazały się próżne. To nie oznacza, że nie można różnych rzeczy ulepszać. Doskonałości jednak nie osiągniemy.

„Über den Zusammenbruch der Utopie/der Utopien der vollkommenen Gesellschaft: Das Böse ist in uns, und das ist einer der Gründe, wenngleich nicht der einzige, weshalb eine vollkommene Welt nicht aufgebaut werden kann, und warum sich diese Hoffnungen als vergeblich erwiesen haben. Das bedeutet nicht, dass nicht Verschiedenes verbessert werden könnte. Die Vollkommenheit werden wir jedoch nicht erreichen.“ Übersetzung aus dem Polnischen: Johannes Hampel
 Posted by at 21:17
Aug. 202012
 

Auch ein Vertriebener,  wie die Deutschen Thomas Mann, Albert Einstein, Bert Brecht, der Italiener Dante Alighieri e tutti quanti: Der Pole Leszek Kołakowski.

Bis 1989 genoß er Einreiseverbot nach Polen – zweifellos eine Auszeichnung, deren in Diktaturen immer nur ein kleiner Teil des Volkes zuteil wird, denn keine Diktatur kann es sich nach den Worten Bert Brechts bekanntlich leisten, ein komplett neues Volk zu wählen.

Soeben lese und übersetze ich aus der polnischen Zeitung Dziennik ein Interview mit diesem mutigen Kämpfer. Titel: Die Religion wird nicht verschwinden – religia nie zginie.

„Der geistige Weg des Professors Kołakowski führt vom Marxismus über den Revisionismus zum Christentum. Aber Kolakowski, obwohl marxistischer Philosoph, hatte herausragende Kenntnis über die Religion, [an der er sich stets faszinierte=]die ihn stets faszinierte.“

„Droga intelektualna prof. Kołakowskiego prowadzi od marksizmu przez rewizjonizm do chrześcijaństwa. Ale Kołakowski, nawet będąc filozofem marksistowskim, miał olbrzymią wiedzę o religii, którą zawsze się fascynował.“

 Posted by at 11:53
Mai 262012
 

Ein Hauptsatz dessen, was ich hier den Personalismus der Mitte nenne! Diese Fähigkeit, sich der Mehrheit zu widersetzen. Allerdings unter Einhaltung der bestehenden Gesetze. Sokrates, aus dessen Apologie hier zitiert wird, erkennt die Gültigkeit der Gesetze an, er unterwirft sich dem Recht und der Ordnung.

Und genau darin halte ich ihn für vorbildlich auch in unserer Demokratie. In der Mitte steht der einzelne Mensch, der sich aller Rechte und Pflichten bewusst ist und diese auch nutzt.

„Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure,
doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück.“

Grass identifiziert offensichtlich in seinem neuesten Gedicht Griechenland mit Sokrates. Ein großer Fehler! Nicht ein Land kann man mit Sokrates identifizieren, sondern nur einen einzelnen Menschen. Jedem – auch Günter Grass – steht es frei, sich mit Sokrates zu identifizieren.

Jeder kann Sokrates nacheifern, aber eben nicht als Land, sondern als Person. Prüfen, bedenken, Rechenschaft ablegen, das Für und Wider erörtern im Gespräch unter Einhaltung anerkannter Regeln, das ist sokratisch. Steuern zahlen, Schulden zurückzahlen, nicht lügen und nicht betrügen, das ist sokratisch.

Das ist zugleich das Lebenselement der Demokratie und des Rechtsstaates.

 Posted by at 09:11

Gemeinsame Aufmerksamkeit

 Kinder, Natur, Philosophie  Kommentare deaktiviert für Gemeinsame Aufmerksamkeit
Juni 232011
 

Gemeinsame Aufmerksamkeit – unter diesem Ausdruck beschreibt Michael Tomasello etwas fundamental Neues, das die Säuglinge im Alter von etwa 9-12 Monaten zu entwickeln beginnen: die Fähigkeit des Menschen, über längere Zeit hinweg mit anderen Menschen ein gemeinsames Objekt des Merkens, des Hinschauens, des Zeigens und Beobachtens zu verfolgen. Durch Gebärden, durch Bewegungen und Zeigehandlungen stellen Babies lange lange vor der Entwicklung von Sprache mehr oder minder dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen her. So kann ein Kind durch Zeigen oder Berühren einer Rassel den Erwachsenen dazu veranlassen, ihm diesen Gegenstand zu reichen. Das Kind „zeigt“ dem Erwachsenen die Rassel. Nur dem Menschen eignet diese Fähigkeit!

Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Englischen von Jürgen Schäfer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, hier S. 84-94

Ich füge hinzu:

Diese Fähigkeit muss durch Erziehung nach und nach über lange Monate und Jahre gepflegt und ausgebaut werden. Tausenderlei Objekte können den älteren Menschen als Brücken dieser gemeinsamen Aufmerksamkeit dienen: gemeinsames Singen eines Volksliedes ebenso wie das gemeinsame Betrachten der Bewegungen einer lederummantelten Gummiblase (adulte Exemplare der Art Homo sapiens nennen es: „ein Fußballspiel“), das gemeinsame Rechnen ebenso wie das Bergwandern.

Es handelt sich bei all diesen Ereignissen nicht um sprachähnliche oder sprachvermittelte kulturelle Tätigkeiten, wie man im Zuge der Wendung zur Sprache ab etwa 1970 glaubte, sondern um originär auftretende, Gemeinsamkeit stiftende Haltungen oder besser „Verhaltungen“ des Menschen, die ihn bereits vor dem Erwerb von Sprache zu einem sozialen Wesen werden lassen.

Die Aufmerksamkeit dauerhaft gemeinsam auf etwas richten  – dies scheint etwas zu sein, was den Menschen doch recht deutlich von anderen Tierarten abhebt.

Wenn dem Kind in den ersten Jahren zu wenig Gelegenheiten gemeinsamer Aufmerksamkeit geboten werden, verkümmern seine sozialen Fähigkeiten. So erklärt es sich, wenn Berliner Grundschullehrer immer wieder klagen: „Dieses Kind kann sich nicht konzentrieren. Sein Geist gleitet gewissermaßen stets ab. Es kann die Augen nicht auf eine Zeile im Heft richten. Es kann nicht länger als wenige Sekunden zuhören.“

 Posted by at 22:47

Überwiegt das Gute oder das Schlimme in deinem Leben?

 Aus unserem Leben, Das Böse, Das Gute, Freude, Geige, Leidmotive, Liebe, Nahe Räume, Personalismus, Philosophie, Zählen  Kommentare deaktiviert für Überwiegt das Gute oder das Schlimme in deinem Leben?
Apr. 292011
 

Of course there is love as well as war, laughter as well as howling, joy as well as torture. But have these two sets of features, positive and negative, really balanced out in the account book of human history to date? The answer is surely no. On the contrary …

Freunde, was würdet ihr auf diese Frage Terry Eagletons antworten? Ich las diese Frage heute Vormittag. Bitte eine rationale Begründung eurer Antwort!

Am besten fangen wir bei uns selbst an. Jede möge sich fragen: Was überwiegt in meinem Leben? Das Böse oder das Gute?

Zitat:
Terry Eagleton: On Evil. Yale University Press, New Haven and London 2010, Seite 146

Bild: der hier schreibende, geigende Blogger im Hof

 Posted by at 22:51

Auf verwachsenen Pfaden: der Satz des Anaximander

 Anaximander, Griechisches, Klimawandel, Natur, Ökologie, Ostern, Philosophie, Störfaktor Mensch  Kommentare deaktiviert für Auf verwachsenen Pfaden: der Satz des Anaximander
Apr. 282011
 

„Durch den Tod zahlen die Menschen die Schuld, die sie durch Ressourcenverbrauch eingegangen sind, an die Natur zurück. Und der naturnahe Wald ist die CO2-Senke, die Grabsenke, das Zu-Grunde-Gehen des Störfaktors Mensch!“

So deuteten wir vor wenigen Tagen die Philosophie, die hinter dem RuheForst Nauen steht. Schon beim Schreiben fiel mir auf, wie nahe diese Formulierung dem ältesten Fragment der europäischen Philosophie steht – Zufall? Nein, ich glaube dies nicht. Die Fahrten in den Wald führten über Ostern ins Uralt-Halbvergessene, auf Holzwege – und Holz lautet ein alter Name für Wald. Diese Wege enden im Unbegangenen, das eben weil es unbegangen scheint, so plötzlich ins Unverborgene tritt. Der älteste erhaltene Satz der europäischen Philosophie lautet:

ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν

Wir übersetzen:

Woher den Seienden  ihre Entstehung ist, in dieses hinein entsteht auch das Verderben. Denn sie geben einander Strafe und Ablösung des Unrechts gemäß der Aufreihung der Zeit.

Modernes ökologisches Bewusstsein sieht  die Menschen, die „Seienden“ im herausgehobenen Sinne, als unrechtbegehende Ressourcenverbraucher, die einander die Schuldigkeit ablösen müssen gemäß der Ordnung der Zeitverläufe. Es gibt also keine Erlösung für den Menschen von außen her oder durch eigene Bemühung, sondern nur das Zugrundegehen in den Ursprung. Zyklisches Bewusstsein!

 Posted by at 23:23
Apr. 252011
 

„Lassen Sie uns in den kommenden Monaten gemeinsam mit vielen anderen Menschen für die fundamentalen Werte unserer Partei, für Freiheit und Verantwortung arbeiten.“

So schrieb ich vor wenigen Tagen in meinem Osterbrief an die Mitglieder des kleinen Ortsverbandes der kleinen Kreuzberger Splitterpartei, dem ich seit wenigen Wochen als schwacher Vorsitzender diene. Sind dies hohltönende, phrasenhafte, abgedroschene, muffige Worte?

Freiheit und Verantwortung – das halte ich in der Tat für ein äußerst wichtiges Pärchen! Oder sagen wir: ein jederzeit vom Streit bedrohtes Ehepaar, – wobei beide allerdings unlösbar aufeinander angewiesen sind. Freiheit und Verantwortung – klingt das muffig? Ich meine: nicht unbedingt. Und zwar dann nicht, wenn man die beiden Werte nicht auf andere abschiebt, sondern bei sich selbst anfängt und dann sofort beim Nächsten besten oder auch beim Nächsten, der ja immer der Beste ist, weitermacht.

Die beiden Werte fasse ich also personal und nicht struktural. Ich setze beim Menschen an, nicht bei der großen Politik. Ich setze ganz unten bei der Person an, nicht ganz oben bei der Institution. Und am allerwenigsten setze ich beim Staat an. Der Staat kommt erst zum Schluss. Zuerst kommt die Person und ihre Beziehung zu anderen Personen: die Familie, dann die Gemeinschaft in mancherlei Gestalt, dann die Gesellschaft in mancherlei Gestalt, und zuletzt kommt der Staat. Bei Schwierigkeiten ist stets zunächst der einzelne gefordert, dann die Familie, dann die Gemeinde in mancherlei Gestalt, und zuletzt der Staat. Der Einzelne, die Familie, die Gemeinde, die Gesellschaft, der Staat – diese Größen treten in mancherlei spannungsvolle Wechselbeziehung. Sie mögen auch in offenen Konflikt geraten. Dann gilt es zu vermitteln, zu schlichten, zu versöhnen. Dabei muss das eine vom anderen her gedacht werden. Die einzelne, also das Kind, wird ohne die Hilfe der Familie oder ersatzweise bzw. ergänzend der sorgenden Gemeinschaft nicht überleben, geschweige denn erwachsen werden. Die Familie wird ohne den stützenden Rahmen der höherstufigen Institutionen unrettbar im Überlebenskampf verstrickt sein.

Entscheidend bleibt für mich: Der Staat ist nichts Erstes. Das Erste, der Grundanker ist die Freiheit und die Verantwortung der Person. Diesen Grundanker-Werten dient der Staat. Kindererziehung bedeutet nichts anderes, als die Kinder nach und nach so weit zu führen, dass sie schrittweise mündig werden und ohne dauernde fremde Hilfe, vor allem ohne dauernde staatliche Hilfe dieses Paar der Werte nachleben können.

Ich versuche das Pärchen mal weniger muffig auszudrücken, es sozusagen auf eine Versöhnungsformel zu bringen:

Ich traue dir. Du traust mir. Vertraue dir selbst. Vertraue dem anderen Menschen. Sorge für einen anderen Menschen oder für deine nächsten Mitmenschen, das wird auch deinem Leben einen Sinn geben. Befreie dich und andere aus der falschen Abhängigkeit vom Staat. Sei frei. Kümmere dich. Ich trau es dir zu!

Weit besser, weit überzeugender, weit weniger muffig als ich drückt es Claudia Keller soeben im Tagesspiegel aus:

Ostern: Das Fest der Freiheit – Glaube und Unglaube – Kultur – Tagesspiegel
Freiheit bedeutet nicht nur, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen, sondern auch Verantwortung für die anderen. Jesus und seine Jünger wollten Freiheit nicht wie die Herodes’ dieser Welt, um ihr eigenes Leben oder das ihrer Clique angenehmer zu machen, sondern auch das der anderen. Martin Luther hat die Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung so formuliert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Das kann ganz schön einsam machen. Denn wer will schon diese Anstrengungen auf sich nehmen?

Bild: Blick auf den Marktplatz in Wittenberg, aufgenommen im September 2010

 Posted by at 08:57

Ruhe sanft, ruhe im Forst: Bilder des Todes

 Anaximander, Antideutsche Ideologie, Fahrrad, Klimawandel, Ökologie, Philosophie, Rilke, Störfaktor Mensch  Kommentare deaktiviert für Ruhe sanft, ruhe im Forst: Bilder des Todes
Apr. 242011
 

Der Karsamstag  führte mich erneut ins Havelländische Luch. Von Spandau aus lenkte ich das Rennrad, den treuen Burâq, quer über die Dörfer, hin zum immer wieder gesuchten, immer wieder verfehlten Radfernwanderweg Havelland. Endlich, in einem der zahlreichen Ortsteile von Schönwalde hatte ich das asphaltierte Band, die „Fahrradstraße“ erreicht. Was für ein Vergnügen! Nun flog ich rauschend mit meinem Burâq dahin, was die Beine hergaben. Rapsfelder, Kiefernwälder, Büsche, Luche, zart belaubte Birken, Dörfer und Hütten rauschten vorbei.

Bei Paaren bog ich – abweichend von der ausgeschilderten Führung – Richtung Nauen. Was mich leitete? Kein Plan, nur das Gefühl, dort noch etwas  entdecken zu können. Und wirklich, nach wenigen Hundert Meter entdeckte ich den RuheForst Nauen. Was war das?

YouTube – RuheForst Nauen entdecken23042011158

Ruhe sanft, ruhe forst! Hier war der RuheForst Nauen. Kein Geräusch störte den Besucher. Schweigen umfing mich. Nach wenigen Minuten entdeckte ich die Tafel, welche die Bewandtnis erklärte.

Ich war auf eine Weihestätte der neuesten Natur-Religiosität gestoßen – sterben, und dann wieder zurücksinken, ohne eine dauerhafte Spur zu hinterlassen! Die Idee hat etwas Verblüffendes. Anders als Faust, der sich noch brüstete

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn

versucht der heutige Naturgläubige, alle Last, die er für die Mutter Natur gebracht, wegzunehmen. Der Naturgläubige sagt:

Es soll die Spur von meinen Erdentagen
nicht in Äonen noch bestehn.

Denn „Jeder Mensch, der geboren wird, ist doch nur eine zusätzliche CO2-Quelle.“  In Abwandlung jenes bekannten Mephisto-Wortes könnte man sagen:

So ist denn jeder, der entsteht,
Auch wert, dass er zugrunde geht.

Durch den Tod zahlen die Menschen die Schuld, die sie durch Ressourcenverbrauch eingegangen sind, an die Natur zurück. Und der naturnahe Wald ist die CO2-Senke, die Grabsenke, das Zu-Grunde-Gehen des Störfaktors Mensch! Es ist genau dieses Denken, das in den Kreisen gebildeter deutscher Akademiker durchaus großen Anklang findet. Ich nenne es: das neopagane Denken, welches häufig mit der antideutschen Ideologie ein verschwiegenes Bündnis eingeht.

Weiter fuhr ich in den Kathedralen-Saal des deutschen Nachhaltigkeitsdenkens: den deutschen Wald im Havelländischen Luch. Es wehte ein entgotteter Karfreitagszauber um die Speichen. Verse von Rilke kamen mir in den Sinn:

Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, vom ihren,
wird auch den leisesten Ton
nicht mehr verlieren.

Tröstung rann mir aus diesen Versen, aus diesem planlosen Dahinfahren. Und das Sterben? Ich stellte es mir in jenem Augenblick so vor: das Zufahren auf ein großes Portal, hinter dem der Weg in einer Biegung weitergeht. Der Tod als solches muss nichts Schreckliches sein, wenn man ihn so fasst: ein Sich-Einfügen in das, was vor uns war und nach uns sein wird. Das Zugehen auf eine Biegung, hinter der noch etwas kommt. Genau dies erfuhr ich im Fahren im alten Holze:

RuheForst Nauen erfahren

Vom Ruheforst aus kehrte ich nach Berlin zurück. Ab Niederneuendorf bis nach Spandau, von Spandau wiederum bis nach Berlin-Mitte führt der vorbildlich ausgeschilderte Radweg fast durchweg am Wasser entlang, erst an der Havel, dann am Hohenzollernkanal und schließlich am Spandauer Schifffahrtskanal entlang. Ein überwältigend schönes Erlebnis im Abendsonnenschein!

Ein ganz anderes Todesbild steuerte ich auf der letzten Etappe an: gleich zwei der vom ADFC aufgestellten Geisterräder entdeckte ich bei der Querung der Seestraße. Hier muss der Tod furchtbar schrecklich, dumpf, unfassbar, qualvoll  gekommen sein. Eine Radfahrerin war hier – obwohl vorfahrtberechtigt – durch einen rechtsabbiegenden LKW erfasst worden, die andere war beim Queren der Straße erfasst worden.

Ich murmelte einige Worte des Gedenkens. Nicht allen ist das sanfte Sterben und Zurücksinken vergönnt. Manche werden getroffen und mitgeschleift. Wie und wann es uns treffen wird, können wir nicht wissen – sehr zu unserem Besten.  Aber die Vorbereitung, die können wir sicherlich leisten, etwa durch das bewusste Uns-Öffnen für die verschiedenen Arten der Todesbewältigung.

Meinen letzten starken Eindruck von der Fahrt nahm ich ausgerechnet vom Reichstag mit. Die Fassade leuchtete plastisch und deutlich skulptural in sandigem, warmem Braun auf. Und gerade hier am Reichstag gelangte mein Radausflug zu einem versöhnlichen Abschluss: Denn als ich anhielt, um das Foto zu machen, hörte ich vor mir eine spanische Gesellschaft, hinter mir eine russische Gesellschaft sich unterhalten. Dass hier und heute Spanier, Russen und Deutsche sich bei der Betrachtung dieses Monuments, das nicht frei von düsteren Schatten ist, treffen und verbinden können, war für mich eine starke, eine ermutigende Botschaft: Ich sehe den Menschen nicht als schädliches Ereignis in der Natur, sondern als etwas Gutes. Die Menschen sind hier willkommen. Denn ich glaube: Das menschliche Leben ist über die gesamte Länge der Fahrt hinweg etwas Gutes, das es zu hegen, zu schätzen und zu pflegen gilt.

Wisse das Bild! Fasse das Leben. Du hast Rückenwind!

 Posted by at 23:46
März 142011
 

Am Donnerstag wird der Bundestag über eine gesetzliche Zulassung der Präimplantationsdiagnostik debattieren. Darüber schreiben heute Ernst-Wolfgang Böckenförde und Giovanni Maio zwei sehr beherzigenswerte Artikel in der FAZ (S. 27 bzw. S. 10). Es geht darum, ob menschliche Embryonen vor der Einpflanzung auf genetische Defekte untersucht und ggf. ausgesondert werden dürfen.

Ich persönlich bin gegen eine Zulassung der PID. Ich meine, dass menschliche Eizelle und Same von Beginn an menschliches Leben sind. Embryonen sind zwar keine entwickelten Personen, aber eben doch menschliches Leben. Es sollte der Verfügung, der Aussonderung nach selbstgewählten Kriterien entzogen bleiben. Insofern gilt der Schutz der Menschenwürde in meinen Augen absolut. Keines der Argumente, die für die PID ins Feld geführt werden, halte ich für zwingend, am allerwenigsten jenes, wonach es widersprüchlich sei, PID zu verbieten und Schwangerschaftsunterbrechung zu erlauben.

Die PID greift verfügend in das Schicksal menschlichen Lebens ein.

Atomenergie tut dies auf andere Weise auch. Die Risiken für völlig unbeteiligte Menschen, aber auch für künftige Generationen sind zu hoch. Ich meine deshalb, dass die Atomkraftwerke wegen der nicht hinreichend gegebenen Sicherheit und der ungelösten Entsorgungsfragen rasch außer Dienst gestellt werden sollten. Ich bin zunächst für die Wiedereinsetzung des unter rot-grün ausgehandelten „Atomausstiegskompromisses“ und für ein glaubwürdiges Ausstiegsszenario.

Feuilleton – FAZ.NET

 Posted by at 16:23
März 122011
 

Sicher, zielstrebig, auf geraden Gleisen brachte mich der ICE gestern von Hamburg nach Berlin zurück. Das schreckliche Unglück in Japan erschütterte mich mit Magnitude.

Von irgendwoher erinnerte ich mich des großartigen Augustinus-Wortes: ama et fac quod vis. „Liebe und tu was du willst.“ Bei allen Zweifelsfragen, bei allem  Tappen und Tasten kann dieses starke Wort helfen, den richtigen Weg, den Weg der Mitte zu finden.

Beim Blättern einer in Hamburg erscheinenden Tageszeitung stieß ich auf die Wendung „personalistische Mitte“. Ein bekannter Diener des Wortes und Diener der Gemeinde hat diese gute Wendung gefunden! Die Welt berichtet darüber:

Die Vernunft ist nicht ewig haltbar – Nachrichten Print – DIE WELT – Kultur – WELT ONLINE

„Wie man ein Kind lieben soll“ – dieser Titel eines großen Buches von Janusz Korczak fiel mir ein, nachdem der ICE-Schaffner seinen Zangenabdruck hinterlassen hatte. Kann man Liebe lehren? Ich meine: ja! Das richtige Erziehen, die richtige Liebe zu Kindern ist kein Zauberkunststück. Sie muss das Kind annehmen und ernstnehmen, dem Kind bedingungslose Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen, aber auch feste Grenzen und erreichbare Ziele setzen. Dies alles in einen Ausgleich zu bringen, zwischen den Extremen der Verwöhnung und der Vernachlässigung die rechte Mitte zu finden, ist nicht leicht. Aber es ist möglich, sofern nur die Person des Kindes mit seinen Grundbedürfnissen nach Geborgenheit und Selbständigkeit ganz im Zentrum steht.

Diese Haltung nenne ich den Personalismus der Mitte.  Der Personalismus der Mitte – das sei meine Haltung in vielen Dingen – im Umgang mit Menschen ebenso wie in der Politik.

 Posted by at 21:13

Das unbezwingliche Vertrauen des konstruktiven Charakters

 Angst, Gemeinschaft im Wort, Philosophie  Kommentare deaktiviert für Das unbezwingliche Vertrauen des konstruktiven Charakters
Feb. 182011
 

„Wir vertrauen dem Menschen.“ In diesem Satz finde ich mich wieder. Und gerade weil ich dem Menschen vertraue, halte ich wenig davon, wenn Menschen ihr Tun und Lassen zu sehr von einer kollektiven Instanz abhängig machen, etwa von einem Staat, einer Partei, einem religiösen Lehrgebäude.

Ebensowenig halte ich von einer Kultur des umfassenden Misstrauens, wie sie etwa Walter Benjamin seinem Lob des destruktiven Charakters anstimmt.

Der japanische Sozialphilosoph Ken’ichi Mishima hat Benjamin in diesen Tagen ausführlich zitiert, als er den Ehrendoktor der Freien Universität Berlin erhielt. Jürgen Habermas hielt die Laudatio.

Lob des destruktiven Charakters – Berliner Zeitung
„Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst. Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen.“

Vertrauen in meinem Sinn bedeutet nicht, dass man nicht damit rechnen würde, dass auch etwas schiefgehen könnte. Selbstverständlich kann vieles schiefgehen. Vieles geht schief, wir scheitern, werden getrogen, wir leiden. Aber ich gehe davon aus, dass Menschen, wenn sie einander vertrauen, mehr Gutes als Falsches bewirken. Dieses Grundvertrauen in den Menschen kann, wenn es gehegt wird, alle Enttäuschungen und Kränkungen überstehen. Es wird dann nahezu unbezwinglich. Es wird zum Merkmal des konstruktiven Charakters. Der konstruktive Charakter sieht wenig Dauerndes, aber er bejaht den Wandel. Er sieht stets mehrere Wege und weiß, dass Wege selten alternativlos sind. In der Freiheit des Wählens werden die Berge des Misstrauens abgetragen und die Mauern des Verhinderns stürzen ein.

 Posted by at 23:04

Response:ability – oder: Freiheit und Verantwortung

 Freiheit, Philosophie, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Response:ability – oder: Freiheit und Verantwortung
Feb. 142011
 

„Meine zentralen Leitbegriffe in der Politik sind Freiheit und Verantwortung. Sie  sind für mich wie die zwei Seiten einer Medaille. Freiheit ohne Verantwortung für sich und die Nächsten führt zu schrankenlosem Egoismus, zu Gier, zur Ausbeutung der Natur und des Menschen, zur Spaltung der Gesellschaft! Umgekehrt gilt: Verantwortung ohne Freiheit der Wahl gibt es nicht. Wenn die staatliche Macht zu viel vorschreibt und sich um zu vieles im Leben der Menschen kümmert, erstickt letztlich die Verantwortung!“

So hausbacken und schlicht würde ich antworten, wenn man mich unter Androhung von Strafen zwänge, die Leitwerte meines politischen Engagements zu benennen. Ebenso sprach etwa kürzlich Cem Özdemir von „Ökologie und sozialer Gerechtigkeit“ als den Markenkernen der Grünen.

Was aber ist Verantwortung? Das Wort klingt so altväterlich! Kann man es auffrischen? Ja! Übersetzen wir es versuchsweise ins Englische:

Freedom and responsibility

Klingt schon besser. Aber noch nicht griffig, noch nicht vermarktungsfähig!

Was ist Verantwortung? Verantwortung ist die Fähigkeit, Rede und Antwort zu stehen für das, was man unterlässt und was man tut.

Grundform: „Was hast du da unterlassen? Was hast du da gemacht?“ Wer gut darauf antworten kann ohne rot zu werden, der handelt verantwortlich. Also: Wer gut antworten kann, wer gut Rede und Antwort stehen kann, der ist ver-antwort-lich.

Verantwortung ist die Fähigkeit, die Ability, auf eine Frage oder Anforderung eine gute Reaktion oder eine gute Antwort, eine gute Response, zu geben.

Responsibility = Response:ability

So auch das Motto der diesjährigen Transmediale!

Selbst bei einer Fruchtfliege stellten wir gestern eine geringe Fähigkeit zur Wahl fest. Keine Freiheit in unserem Sinne, aber doch eine wie immer beschränkte  Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen. In sehr rudimentärem Sinne hat die Fruchtfliege ein Minimum an Reaktionsmöglichkeiten.

Freiheit und Verantwortung

Freedom and response:ability

So wird ein Schuh draus. Besser: zwei Schuhe.

Freiheit und Verantwortung sind die beiden Schuhe eines Paares. Beide Schuhe muss man sich anziehen! Wer nur einen Schuh anzieht, hinkt, hüpft oder fällt!

Freiheit ohne Verantwortung ist leere Selbstsucht, Verantwortung ohne Freiheit ist knechtische Lähmung.

transmediale

 Posted by at 14:13