Punkt um Punkt arbeiten die Verfasser Funk, Höhler, Kneist und Simantke diese Analogie ab. Sehr schön, lesenswert!
Mentalitätsgeschichtlich zeigen sich große Parallelen. Die Griechen verweisen gerne auf die Lasten der Vergangenheit, wahlweise die Kolonialherren, die Osmanen mit ihrem Schlendrian, dann wieder die Obristen, dann die Deutschen, dann die böse EU mit ihren Sparauflagen. Immer sind die anderen schuld.
Dasselbe gilt für die Berliner! Sie verweisen gern auf die Lasten der Vergangenheit, die vereinigungsbedingten Sonderaufgaben, das Wegbrechen der Industrie, die SPD, die SED, die CDU, die Linke, die Grünen oder die FDP, dann die böse Bundesrepublik mit ihren Sparauflagen. Immer sind die anderen schuld.
„Immer sind die anderen schuld.“ Dies ist das Ergebnis unserer langjährigen philosophisch-politischen Betrachtungen.
Ich habe noch von keiner der 5 großen Berliner Parteien das Anerkenntnis gehört: „OK Jungs. Wir geben es zu. Wir waren dabei. Wir haben mitgemacht und haben kräftig davon profitiert.“
In meinen kühnsten Entwürfen hab ich mir mal gewünscht, dass eine Partei oder alle Parteien den Mut fänden, etwa folgendes zu erklären:
Mitschuld an Schulden eingestehen – um Vertrauen werben!
Wir vertrauen dem Menschen und wir bitten um das Vertrauen der Menschen.
Wir bekennen uns darum als Berliner Partei XYZ ausdrücklich und feierlich zu unserer wesentlichen Mitschuld an dem heutigen Zustand des Landeshaushaltes. Denn auch die Berliner Landesregierungen und die Bezirksregierungen mit [setze deinen Parteinamen ein!] XYZ-Beteiligung haben die bekannten, seit 1989 absehbaren Fehlsteuerungen nicht verhindert, sondern waren ein tragender Teil davon. Allzu leichtfertig sind wir mit öffentlichem Geld umgegangen. Wir haben staatliche Mittel im Übermaß verteilt und zu viele ungedeckte Sicherheiten und Bürgschaften auf die Zukunft ausgeschrieben. Wir erklären hiermit entschlossen unseren Abschied vom alten Muster der staatsverquickten Verteilungspolitik, wie sie sich in beiden Hälften der Stadt Berlin auf so unverantwortliche Weise seit dem Mauerbau am 13. August 1961 über Jahrzehnte hinweg herausgebildet hat.
Die alte Verteilungspolitik, die bekannte Günstlingswirtschaft, der bürgerverhätschelnde Staatssozialismus, an dem die Stadt heute noch leidet, ist nicht mehr der Weg der Berliner Partei XYZ.
Stattdessen werden wir die Bürger ermutigen, ihr Schicksal im Geist der großartigen friedlichen Revolution von 1989 in die eigene Hand zu nehmen. Wir wollen, dass die Menschen für ihr Wohlergehen selber arbeiten statt weiterhin wie gewohnt die Segnungen und Vergünstigungen des bemutternden Staates einzufordern. Wir setzen unser Vertrauen nicht vorrangig in die Regelungsmechanismen des Staates, sondern in die Kreativität, den Fleiß und die Tatkraft der Menschen.
Die Bürger sollen sich ihre Stadt vom verwöhnend-ohnmächtigen und deshalb bis zur Halskrause verschuldeten Staat zurückholen. Leistung, Gemeinsinn, Redlichkeit, die persönliche Verantwortung des Einzelmenschen und der Familien, der Respekt voreinander, die Fürsorge der Menschen füreinander, die jüdische, christliche, muslimische und atheistisch-humanistische Nächstenliebe, die Einhaltung der Regeln des zivilen Zusammenlebens: zu diesen Tugenden und Grundwerten bekennen wir uns hiermit als die XYZ-Partei Berlins. Aus diesen grundlegenden Elementen wird die lebendige, die starke Bürgergesellschaft unserer gemeinsamen, zu unserem Glück nicht mehr geteilten Stadt zusammenwachsen.
Daran glauben wir. Dafür arbeiten wir. Dafür treten wir im Dienst des Gemeinwohls an. An diesen Werten wollen wir gemessen werden.
Ob wohl irgendeine Partei in Berlin sich finden wird, die ein derartiges Bekenntnis ablegt? Mich würde es sehr freuen! Die Berliner würde es auch freuen!
Und diese Partei – die es leider nicht zu geben scheint – würde auf einen Satz 7-8% zulegen. Sie würde mit Sicherheit in die nächste Stadtregierung gelangen.
Also – Berliner Parteien! Gebt euch einen Ruck! Warum nicht einmal eigene Schuld an Schulden eingestehen, wenn’s der Machterweiterung dient?
Als echter Kreuzberger Minderheitendeutscher spreche ich täglich mit Angehörigen anderer Staaten – wobei naturgemäß die Türkei, die arabischen Staaten und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine besondere Rolle spielen.
Heute geht es aus traurigem Anlass um Ägypten und die arabischen Staaten insgesamt. Wie ist die politische Lage in Ägypten, Syrien, Algerien und den anderen arabischen Ländern? Darauf antworte ich in grobschlächtiger Holzschnittart: Die politische Lage ist schlecht.
Ein beliebiger Beleg: Die Nachfolgeregelung in Ägypten ist noch nicht geklärt. „Wird es der Sohn oder ein anderer?“ Nun, diese Frage stellt sich so oder ähnlich regelmäßig in allen arabischen Staaten. Denn die arabischen Staaten werden als erbliche Lehens-Diktaturen einer Sippe geführt. Gibt es Ausnahmen? Meine arabischen Zuwanderer in Deutschland sagen: nein. Es gibt graduelle Unterschiede. Aber die brutal agierende Geheimpolizei, die Justizwillkür, die hemmungslose Selbstbereicherung der regierenden arabischen Familiendynastien sind aus den gegenwärtigen politischen Verhältnissen nicht wegzudenken. Selbstverständlich gilt dies auch für die palästinensischen Gebiete. Hier leisten wir Europäer uns sogar den Luxus einer doppelten Verwaltung – die mit EU-Geldern finanzierte ausgemusterte Fatah-Verwaltung, und die ebenfalls mit ausländischem Kapital finanzierte Hamas-Verwaltung.
Welche Rolle spielt der Islam im politischen Leben? Eine fundamentale! Einerseits erzieht er die Menschen von Kindesbeinen an zu einer Grundhaltung der persönlichen „Unterwerfung“ (so ja auch die Wortbedeutung). In allen arabischen Staaten ist Gehorsam vor den Machthabern gewissermaßen die erste Bürgerpflicht. Selbst in Libanon, dem vergleichsweise liberalsten aller arabischen Staaten, empfiehlt es sich im wohlverstandenen Eigeninteresse nicht, die Person des Herrschenden offen zu kritisieren.
Andererseits gibt es Spielarten des Islam, die die koranischen Gebote der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Fürsorge ernst nehmen und sich dann gegen die unvermeidbare Korruption, die Willkür in den Regierungsapparaten auflehnen und selbst die Macht anstreben. Die ägyptische Moslembruderschaft ist ebenso wie die Hamas auf diesen Grundsätzen aufgebaut. Soziales Engagement für die Unterdrückten und Entrechteten geht Hand in Hand mit den eigenen Versuchen, die Macht im Lande zu erkämpfen. Namentlich die Palästinenserfrage ist ein unerschöpflicher Nährboden zur Legitimation eigener Machtbestrebungen. „Wir kämpfen für die Sache der Palästinenser!“ unter dieser Flagge segeln eine Vielzahl von Organisationen im Nahen Osten, aber auch in Europa. Selbst die deutsche RAF einer Ulrike Meinhof, eines Andreas Baader, und die deutsche Stasi konnten mühelos an diese „Befreiungsbewegung“ andocken. Strange bedfellows, wie der Brite sagt, geeint durch einen starken Machtwillen, der buchstäblich über Leichen geht. Nach dem Scheitern der kommunistischen Ideologie rückt in diesen Befreiungsbewegungen nunmehr ein rabiater Islamismus in die Rolle der Leitkultur auf. Die Übergänge sind fließend. Ein exemplarischer Terrorist wie der berüchtigte Carlos segelte unter beiden Flaggen mühelos mit.
Das Aufhetzen der Bevölkerungsgruppen gegeneinander – etwa der Muslime gegen die Nichtmuslime – ist eine jahrzehntelang erprobte Technik der Machtgewinnung und Machterhaltung. Dem dienen auch Attentate wie etwa das Sprengstoffattentat gegen koptische Christen. Neben dem furchtbaren Leiden der Opfer und der getroffenen Familien bleibt die Fernwirkung des zersetzenden Misstrauens zwischen den Muslimen und den Nichtmuslimen.
Soweit unser grobschlächtiger Befund. „Würden Sie denn diesen Befund auch öffentlich wiederholen?“, frage ich. „Nein, ich habe noch Verwandte dort, die darf ich nicht gefährden. Und ich möchte auch mal in dieses Land reisen können.“ Angst, Einschüchterung, Terror! Auf diesen Säulen ruht Herrschaft.
Wer in Europa wagt es, diese Zustände öffentlich zu benennen? Mir fallen nur wenige Namen ein. Hamed Abdel-Samad (deutsch) oder Boualem Sansal (französisch) würden meinem oben gezeichneten grobschlächtigen Holzschnitt wohl zustimmen. Und sonst? Ich höre viel Schweigen im Walde, oder sagen wir mal: diplomatische Rücksichtnahme … Einer der ganz wenigen deutschen Politiker, die offene Worte zur politischen Lage in den arabischen Staaten finden, ist Volker Beck, der Bundestagsabgeordnete, dessen Forderungen ich hiermit ausdrücklich zustimme:
Reaktionen auf Anschlag: „Islamistischen Wirrköpfen die Stirn bieten“ | Politik – Frankfurter Rundschau
Im Falle Ägyptens spotte der Umgang mit allen Formen von Opposition jeder Beschreibung. Polizeiwillkür bis hin zu einer „Folter auf Bestellung“ seien „Teil eines staatlichen Kalküls der Abschreckung“ von Oppositionellen. Ägypten gewähre Religionsfreiheit nur im Rahmen der Regeln der Scharia, des islamischen Religionsgesetzes. Das reiche aber nicht aus, „um islamistischen Wirrköpfen die Stirn zu bieten.“ Es sei auf Dauer schädlich, „wenn die unterdrückte Bevölkerung in Ägypten und anderen Ländern Deutschland nicht als Sachwalter von Freiheit und Menschenrechten wahrnimmt“.
Sehr gutes, aufschlussreiches Interview mit Syriens Präsident in der BILD! Worin liegen die Probleme des Nahen Ostens begründet?
Die Antwort des Präsidenten erfolgt mit wünschenswerter Deutlichkeit und Eindeutigkeit:
a) „In der Besatzung“ – jahrhundertelange Besatzung! Erst durch den Westen, dann durch Israel. Spannend zu sehen, dass weder die Herrschaft der Mameluken über Syrien noch die jahrhundertelange Herrschaft der Osmanen über Syrien (ab 1516) als Besatzung gilt. Die Besatzer – das ist immer nur der „Westen“. Alles Übel rührt von daher. Das ist heute felsenfeste Überzeugung in großen Teilen der arabischen Welt. Der Präsident sagt wörtlich:
„Die Ursache aller Konflikte hier ist Besatzung: erst durch die Briten, dann durch die Franzosen, jetzt durch die Israelis. Das führt zu Verzweiflung, die wiederum zu Extremismus führt. Das ist der Grund, warum wir keinen Frieden finden.“
b) „Im Westen„. Das Problem liegt immer und einzig im Westen.
BILD: Sie sind seit zehn Jahren der Präsident Syriens. Wie sehen Sie das Image Ihres Landes in der Welt?
Präsident Assad: Meinen Sie den Westen oder die Welt? Ich frage das, weil das Problem im Westen liegt, nicht in der gesamten Welt. Das Problem mit dem Westen ist, dass man sich dort für die gesamte Welt hält und dabei den Rest der Welt einfach vergisst. Der Westen kann nicht immer weiter seiner Strauß-Politik folgen, einfach den Kopf in den Sand stecken und dabei nicht sehen wollen, was im Rest der Welt vor sich geht. Syriens Image in der Welt ist sehr gut.
Ich empfehle dieses Interview wirklich der genauen Lektüre! Es ist ein überragendes Beispiel für rhetorisches Geschick.
Wenn ich mit Syrern oder Ägyptern oder Türken hier in Berlin spreche und sie frage: „Worin liegt das Problem? Wer ist schuld?“ werden die meisten antworten:
Das Problem liegt an der deutschen Gesellschaft. Das Problem liegt in der deutschen Schule. Das Problem liegt an Sarrazin: er hat alle Integration kaputtgemacht. Das Problem liegt an der Bundesregierung. Das Problem liegt im Rassismus der Deutschen. Die Deutschen sind ausländerfeindlich. Das Problem liegt in der Islamfeindschaft. Das Problem liegt an den Zionisten (jawohl, auch das hört man hier in Kreuzberg). Das Problem liegt darin, dass der deutsche Staat uns nicht genug Geld gibt zur Integration und um Deutsch zu lernen. Der Staat tut nichts für uns.
Diese Melodien kann man wirklich auf allen Ebenen hören – im Deutschen Bundestag ebenso wie in Kreuzberger Kneipen.
Mein Problem mit solchen Argumenten ist: Es wird stets die Schuld an den Schwierigkeiten auf andere abgewälzt. Nie wird gefragt: Was haben wir versäumt?
Beispiel: Eine viel zu hohe Zahl, vielleicht die Mehrheit unserer jungen Deutschtürken lernt weder genug Deutsch noch genug Türkisch, um einen anspruchsvollen Beruf zu erlernen. Das ist nun mal derzeit leider noch so, da mag man drum herumreden wie man will. Warum? Antwort: „Wir sind Opfer des Schulsystems. In diesem Schulsystem können wir weder Deutsch noch Türkisch lernen. Die deutsche Schule ist schuld.“ Hab ich selbst wörtlich so gehört!
Diese beiden Strategien –
1) Suche die Schuld stets bei anderen!
2) Erkläre dich zum Opfer der anderen!
sind absolut fundamental in dem Reden sowohl über den Nah-Ost-Konflikt wie auch im Reden über die Integration in Deutschland!
Wobei man durchaus auch beides zusammenführen kann! „Ich kann mich nicht in Deutschland integrieren, weil Israel unser Land besetzt hat!“
Diese Fundamentalstrategien muss man durchschauen. Sonst kommen wir nicht weiter.
Einen sehr guten Beleg für die herkömmliche, gut eingeschliffene Integrationsauffassung liefert der Bundestagsabgeordnete Memet Kilic in seiner Rede vom 07.10.2010!
Hier finden wir wirklich geradezu in Reinkultur jene Auffassung vor, wonach Integration eine staatliche Leistung ist, vergleichbar etwa der Arbeitslosenversicherung oder dem Katastrophenschutz.
Der Staat muss Integration leisten! Wenn Integration nicht gelingt, ist der Staat schuld. Oder auch die konservative Bundesregierung. Das kann jeder Migrant selber entscheiden, wem er die Schuld gibt.
Immer sind jedenfalls die anderen schuld. Ich nenne es: den wohlbekannten Klageton.
SündenböckeKommentare deaktiviert für Wandernd und zugfahrend dem Volk aufs Maul schauen!
Okt.172010
Im Gegensatz zu gepflegten Umfragen, Soziologieseminaren, dicken Büchern beziehe ich Unterschichtler einen großen Teil meiner Überlegungen und Einsichten aus direkten Gesprächen mit den Menschen, sehr gerne bei Zufallsbegegnungen im Regionalexpress oder an der Kasse beim LIDL oder beim ALDI, beim Warten im LABO (Ausländerbehörde) oder an der roten Ampel (wenn die anderen Radfahrer durchrauschen).
Ergebnis: Die riesigen Umfragen hinken meistens hinterdrein, geben aber ungefähr das wider, was man ohnehin durch direktes Fragen auch herausbekommt. Das Umfragendesign kann in Maßen stets so gestaltet werden, dass der Auftraggeber zufrieden ist. Ein vortreffliches Beispiel für dieses gedungene Umfragenwesen ist die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Rechtsextremismus. Nach dieser Studie ist die deutsche Bevölkerung bis weit in die Mitte hinein durchzogen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus.
Gewünschtes Ergebnis: Mehr Geld für Initiativen gegen rechts, heldisches Kämpfen gegen Adolf Hitler und seine Mordbuben, Poststempel gegen „Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt“ werden weiterhin auf Berlins amtliche Post gedruckt, Klüngel und Grüppchen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus werden überall herangezogen. Heldisches Kämpfen gegen rassistische Mörderbanden, gegen „Nazi-Methoden“ wird belohnt und gefördert und durch Preise, Fördermittel, Pöstchen und Posten belohnt.
Ich meine: Neben „Nazi-Methoden“ sollte man auch „Stasi-Methoden“ entschlossen bekämpfen, wo immer man sie vorfindet oder vorzufinden glaubt.
Die Reaktionen auf das Sarrazin-Buch etwa ahnte ich schon 2 Tage nach Erscheinen des Buches. 3 Tage nach Erscheinen hatte ich das Buch fertig gelesen und habe sofort meine Meinung in dieses Blog reingehämmert, des Sinnes: „Dem guten Herrn Sarrazin wird aus der Bevölkerung quer durch alle Parteien eine riesige Woge der Zustimmung entgegenschlagen. Abgesehen von seinen merkwürdigen biologischen Aussagen trifft er vielfach den Nagel auf den Kopf.“
Ich riet damals öffentlich in diesem Blog zu einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit dem Buch, da ich ebenfalls voraussah, dass die Meinungsführer zahlreicher wichtiger Parteien und Verbände sofort wie eine hexenhungrige Meute über den armen Herrn Sarrazin herfallen und ihn zerfetzen würden – selbstverständlich ohne das Buch gelesen zu haben.
Es ist alles so gekommen, wie es mir schwante.
Mitunter geht es dem hier bloggenden wackeren S-Bahn-und-RE-Reisenden beim Lesen von Umfragen wie dem Mephisto in der Klassischen Walpurgisnacht:
Da ist für mich nichts Neues zu erfahren
Das kenn ich schon seit hunderttausend Jahren
Was tun? Warum hauen die bestallten Politiker und Funktionäre so oft neben den Nagel und schreien dann laut auf? Ich meine: Wie weiland der Kalif von Bagdad sollten Politiker, bestallte Verbandsfunktionäre, Fraktionsvorsitzende einfach mal einen Monat das Auto stehen lassen und nur RE, Fahrrad, S-Bahn und U-Bahn fahren, selber in die Kaufhalle, zum LIDL oder zum ULRICH gehen und in der Schlange ein Gespräch anfangen.
Das verliehe einfach eine größere Sicherheit in der Einschätzung von Stimmungen. Überhaupt: Mehr zu Fuß gehen, mehr wandern, weniger im Auto rumhocken!
Ein vortreffliches Hilfsmittel zur wandernden Entdeckung unserer schönen Heimat nutzten wir gestern: Nachdem wir den RE nach Ludwigsfelde verlassen hatten, verließen wir uns auf die
„Schöne Heimat
GROSSE RADWANDER- UND WANDERKARTE
Teltow, Ludwigsfelde und Umgebung
Ausflüge zwischen Potsdam, Luckenwalde, Trebbin und Zossen, an Nuthe, Nieplitz und NottekanalMaßstab 1: 35.000
GPS-fähig
2. Auflage
Ohne verbindliche Grundhaltungen, ohne gemeinsame Werte fliegt uns dieser Laden genannt Bundesrepublik Deutschland bald um die Ohren.
Solche guten, erwünschten Grundhaltungen nenne ich gerne zum blanken Entsetzen aller Zuhörer Tugenden. Beispiele für Tugenden sind Hingabe, Fürsorge, Fleiß, Ausdauer, Klugheit, innere Gesammeltheit, Mut, Tatkraft, Gemeinsinn.
Alles Dinge, an denen es uns in Berlin gebricht.
Ich meine, die Besinnung und die Pflege der bewährten Tugenden ist Zeichen einer konservativen Grundhaltung. Konservativ bedeutet meines Erachtens, zunächst einmal von sich selbst und in seinem familiären Umfeld die gute, die tugendhafte Haltung, die Bewährung zu verlangen und erst danach den versorgenden Staat in Haftung zu nehmen.
Wenn ich dieses Unwort Tugend in den Mund nehme, schalten jedoch viele Diskutanten in den Debatten auf Durchzug. „Wie? Ein Mangel an Tugenden ist mitursächlich für unsere Übel?“
Sollte nicht der böse rot-rote Senat oder der böse präfaschistische Staat oder die muslimischen Migranten oder Thilo Sarrazin oder die schwarz-gelbe Bundesregierung oder das Hartz- IV-macht-arm-Syndrom oder die Bankenkrise oder die Gentrifizierung oder JüL an allem Schlamassel schuld sein?
„JüL ist Käse!“ So erzählen es viele Eltern und viele Lehrer. Wie schaut es damit aus?
JüL wurde in Berlin gegen den Willen der allermeisten Lehrer und der Eltern an fast allen staatlichen Schulen durchgesetzt.
Wir sind jetzt an der privaten russisch-deutschen Grundschule: herrlich! Kein Mobbing, kein Prügeln, kein Fluchen. Alle Kinder wollen und müssen lernen, es gibt Leistungsdruck, Schulbücher, Noten, Prüfungen, Schuluniform ist vorgeschrieben, es herrscht Disziplin, gute, ermunternde Grundhaltung bei allen Eltern, Lehrern und Kindern. UND KEIN JÜL, stattdessen gemeinsame Feiern und gemeinsame Konzerte.
Meine Berliner Russen sind eigentlich alle sehr bedacht auf konservative Tugenden wie Fleiß, Disziplin, Ehrgeiz, Gemeinsinn. Dasselbe beobachte ich bei den meisten muslimischen Eltern. Die allermeisten muslimischen Eltern sind konservativ. Sie wollen mehr Leistungsanreize, mehr Druck, mehr Strafen, mehr Regeln für ihre Kinder, die sie dem deutschen Staat zur Rundum-Erziehung und Rundum-Bildung überreichen. Den deutschen Staat erleben die allermeisten zugewanderten Eltern als viel zu lasch und schwach.
Ich meine: Von den herrlich-konservativen Russen können wir labbrigen, progressiven Wischi-Waschi-Deutschen viel lernen. Unter anderem leben sie uns bestimmte Tugenden vor, die bei uns mehr und mehr in Vergessenheit geraten sind.
Eine der besten, klarsten Stimmen, die aus dem heißen afrikanischen Wüstensand zu uns herüberschallen, stammt von — Aurelius Augustinus! Der christliche Kirchenvater des 4. Jahrhunderts erforscht sein Selbst, erzählt die langen gewundenen Pfade, auf denen er zu einer inneren Ruhe findet. Inquietum cor nostrum est! Lange her.
Aber heute würde ich diesen Titel der besten, klarsten und eindrucksvollsten „Stimme aus dem afrikanischen Wüstensand“ ohne zu zögern an meinen zugewanderten Mit-Augsburger Hamed Abdel-Samad verleihen. „Die Hölle war auch in mir.“ So spricht er im aktuellen Spiegel 37/2010, S. 124. Allein für eine solche Aussage verdient er fast schon, noch in Hunderten von Jahren gelesen zu werden!
Vergleicht diese Aussage: „Die Hölle war auch in mir“ mit dem scheinbar völlig entgegengesetzten Satz von Sartre: „L’enfer, c’est les autres!“ Die Hölle sind immer die anderen. Auch dieser Satz Sartres hat seine Berechtigung. Die Hexenjagden und Hexerjagden unserer Tage (vide causa Sarrazin, vide causa Steinbach) sind ohne diesen tiefen Drang, alles Böse im anderen zu suchen, die Hölle in den anderen zu sehen, nicht verständlich.
Sie werden zu den Bösen, zu den Sündenböcken erklärt, deren man sich entledigen muss. Sie werden in die Wüste geschickt.
Sündenböcke oder Hexen können viele sein – auch der aktuelle Spiegel, den ich nachdrücklich zum Kauf empfehle, bietet reichlich Beispiele dafür: etwa FJ Raddatz und einige andere mehr 🙂
Einer der wichtigsten Sätze aus den 5 Büchern Moses meint etwas ganz Ähnliches: „Die Sünde, das Böse lauert stets an der Tür deines Herzens, wenn es dir nicht wohl ergeht.“ So lässt sich 1. Buch Moses, Kapitel 4, Vers 7 verstehen.
In den Ferien hatte ich leider wegen der Torfbrände um Moskau herum wieder reichlich Zeit, mich im Rahmen bibliothekarischer Streifzüge in die bolschewistische und die nationalsozialistische Propagandasprache einzulesen. Wir wohnten in der Datscha, in der früher russische Abweichler ein- und ausgegangen waren, wie etwa der Ökonom Nikolaj Kondratjew (erschossen während der großen Säuberungen 1938).
Ganz besonders häufig wurde von den sowjetischen und den deutschen Diktaturen gegen „Abweichler“, gegen „Beschmutzer“, gegen die „Giftmischer“ und „Brunnenvergifter“, gegen zersetzende Propaganda des Feindes zu Felde gezogen.
Die Beleidigung und Herabwürdigung anderer Menschen als „Giftmischer“ oder „Rattenfänger“ ist kennzeichnend für die totalitäre, menschenverachtende Propaganda der Kommunisten und der Nationalsozialisten.
Wichtig: Die Fakten spielen keine Rolle. Es wird nur immer wiederholt: Dieser oder jener Mensch – z.B. der Okönom Kondratjeff – ist ein Abweichler, er muss entsorgt, er muss beseitigt werden. Er beschmutzt das hehre und reine Anliegen der Bewegung.
Kommunistische Propaganda und später auch die faschistische und die nationalsozialistische Propaganda sind hocheffizient darin gewesen, abweichende Meinungen zu brandmarken, nicht durch sachliche Widerlegung, sondern durch Rufmord, durch gezielte Beschimpfung von Menschen.
Es fehlt hier an der Redlichkeit des Wortes, an einer respektvollen Befassung mit dem parteipolitischen Gegner. Es fehlt an echter Debattenkultur.
Genau dasselbe Verfahren wird derzeit wieder einmal gegen Erika Steinbach angewendet. „Frau Steinbach ist eine Giftmischerin“ – so wörtlich Thomas Oppermann, Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. „Giftmischerin?“ – da fehlt nur noch die Aussage: „Es gibt Hexen. Steinbach ist eine von ihnen.“
Die Sprache verrät die Absicht. Sie enthüllt eine unredliche Grundhaltung. Statt sich auf der Sachebene mit dem Gegner einzulassen, wird er dämonisiert und seiner Würde beraubt. Zuletzt gilt es ihn zu „entsorgen“. Das ist LTI – Lingua Tertii Imperii!
Steinbachs Aussagen sind sachlich nicht zu widerlegen. Das würde weder Herrn Oppermann noch Herrn Nouripour (ebenfalls MdB) gelingen. Zumal die deutsche politische Klasse über recht eingeschränkte Kenntnisse der osteuropäischen Geschichte verfügt. Wer kennt sich heute noch im komplizierten Bündnissystem der Zwischenkriegszeit aus, das es beispielsweise der Republik Polen ermöglichte, im Zuge des Münchner Abkommens eigene Gebietsansprüche gegenüber der Tschechoslowakei zu befriedigen, indem sie das tschechische Gebiet um Teschen für sich einkassierte?
Ja, wer hättte das gedacht – die Republik Polen paktierte 1934 mit dem Deutschen Reich, schloss 1934 bzw. 1932 Freundschaftsverträge mit Hitler und Stalin, profitierte auch vom Münchner Abkommen 1938, um ein Teilgebiet der Tschechoslowakei für sich zu erobern. Hätten Sie’s gewusst?
„Aber sie könnte ja etwas damit gemeint haben, die sagt das doch nicht einfach so dahin.“
Hierauf ist zu erwidern: Sie, Erika Steinbach, verleugnet doch gar nicht die deutsche Schuld! Was wollt ihr eigentlich?
Ich meine: Es ist höchst gefährlich, jemand anderen des „Beschmutzens“ oder des Giftmischens zu bezichtigen. Die Vorwürfe gegen Erika Steinbach, wie sie etwa Omid Nouripour oder Thomas Oppermann erheben, erinnern an die uralten antijüdischen Vorwürfe der Giftmischerei und der Brunnenvergiftung. Sie gemahnen an mittelalterliche Hexenjagd. Wir sollten diese Vorwürfe entschlossen zurückweisen.
Und heute mal im ZDF die tschechische Dokumentation „Töten auf Tschechisch“ ankucken.
Hier noch zwei teuflisch böse kleine Zitate für alle antirassistischen KämpferInnen aus taz und Tagesspiegel:
„Die besten Lehrkräfte, Institutionen und Strukturen werden aber daran scheitern, auch für Kinder aus weniger begünstigten Elternhäusern individuelle Aufstiegsperspektiven zu schaffen und zu verbessern, wenn es dem Einzelnen an Leistungswillen und der Bereitschaft zur Anstrengung mangelt.“
Schiller hätte gesagt:
Auf der Tugend arbeitvoller Bahn
werdet ihr den Preis erringen
Tja, ich muss es so sagen, die ganze an den Schuhsohlen abgelaufene, die ach so ermüdende deutsche Integrationsdebatte kreiselt meinem Empfinden nach im luftleeren Raum, weil sie ständig die Schuld den Strukturen und Institutionen gibt, dann auch wieder dem deutschen Alltagsrassismus, dann dem gegliederten Schulwesen, dann dem ungegliederten jahrgangsübergreifenden Lernen, dann den Lehrern, dann der Politik, dann den Parteien, dann der Regierung, dann der Opposition. Alle sind schuld – alle anderen sind schuld! Immer sind die anderen schuld!
Niemand fragt die Frage, die Necla Kelek kürzlich bei Anne Will stellte: „Was können die Migranten selber beitragen?“ DAS ist fürwahr die entscheidende Frage!
Ich frage: „Du willst den Erfolg? Wie hinderst du dich daran?“
Das Haupthindernis der Integration ist meines Erachtens und nach meinen jahrzehntelangen eigenen leidvollen Erfahrungen in Kreuzberg und anderswo – neben erstickend hohen staatlichen Zahlungen an Hinz und Kunz, an Mehmet und Ali – eine unfassbare geistige Trägheit, ein Mangel an Fleiß, eine zähe Bequemlichkeit, eine Selbstabschottung, eine alle Grenzen sprengende Unlust, sich anzustrengen und sich zu konzentrieren.
Es fehlt bei uns im Lande ganz allgemein an Einsicht in die wichtigen, unverzichtbaren Tugenden, wie sie noch jede Volksschule noch im hintersten Dorf der Türkei vom ersten Schultag an vermittelt.
„Ich brauchte erst einmal sechs Monate, um die Schüler so weit zu haben, dass wir richtig zu arbeiten anfangen konnten“, solche Sätze wird man immer wieder von Berliner Lehrern hören können.
Es fehlt unseren Dauerbenachteiligten in der Regel an Arbeitswillen, an Fleiß und an Mut, an Selbstbeherrschung und Höflichkeit. Das sind alles uralte individuelle Haltungen, die dringend dem Einzelnen abverlangt werden müssen. Vulgärsprachlich früher Tugenden genannt. Uralte Hüte, die dringend der Entstaubung bedürfen.
Ha! Tugend! Potz! Ein leeres Wort! Wahrhaftig – ein leeres Wort?
Hören wir abschließend noch einmal einen der vielen vergessenen großen Dichter der Deutschen, nämlich Friedrich Schiller:
Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt er auch straucheln überall,
Er kann nach der göttlichen streben.
Ich sage:
Oh ihr grantigen Dauerbenachteiligten!
Rafft euch auf! Lernt und arbeitet!
Kämpft und lernt auf der Tugend arbeitvoller Bahn!
Dann werdet ihr den höhren Preis erringen.
Zitatnachweise:
Armin Laschet: Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, hier S. 234
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte. Dramen I [=Lizenzausgabe des Hanser Verlags], Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1987, hier S. 171 („Die Götter Griechenlands“) sowie S. 215 („Die Worte des Glaubens“)
Sarrazin razzista. Europa schüttelt den Kopf über Deutschland. Mittlerweile ist es den Verächtern Sarrazins gelungen, ihn durch böswillige Verleumdung im Ausland als „Rassisten“ hinzustellen. Der Schaden dieser Verleumdung ist für uns alle enorm. Denn was muss das für ein Land sein, in dem 70 bis 90 Prozent einem „Rassisten“ zustimmen? Wenn ein „Rassist“ Finanzsenator und Bundesbankmitglied werden konnte?
Das europäische Ausland sieht sich in dem früher lange gehegten Bild der Deutschen als einer Horde von Rassisten und Nazis bestätigt. Natürlich wird kein Korrespondent einer europäischen Zeitung bisher die Zeit gehabt haben, Sarrazins sperriges Buch zu lesen. Er berichtet nur über das, was er in den deutschen elektronischen Medien hört oder in den Tageszeitungen liest, und wie auf den diversen Empfängen für Journalisten über den „Rassisten“ abgelästert wird.
Sarrazin razzista? Sarrazin ist in Wahrheit das Gegenteil eines Rassisten. Sich selbst bezeichnet er gerne als „genetische Promenadenmischung“. Sarrazin legt immer wieder den Akzent seiner Überlegungen auf den individuellen Leistungswillen, der dem Einzelnen den Aufstieg auch unter schwierigsten sozialen Bedingungen ermöglicht. So berichtet er gerne von dem schwarzen Bildungsökonomen Roland Fryer, der in bedrückenden, durch Kriminalität und Drogensucht geprägten Verhältnissen aufwuchs. „Er schaffte es mit einem Sportstipendium an die Universität, studierte in Rekordzeit, promovierte mit 25 Jahren und war mit 30 Jahren Harvard-Professor“ (Deutschland schafft sich ab, S. 233).
„Die wirklich Tüchtigen lassen sich offenbar auch durch ungünstige Umstände nicht abschrecken – und das ist eine durchaus trostreiche Erkenntnis. Man muss letztlich also stets beim Willen und beim Ehrgeiz des Individuums ansetzen. Niemals darf man es dem Einzelnen durchgehen lassen, sich auf Gruppennachteile herauszureden“ (S. 234).
Soziale Milieus, die gegen Leistungswillen, gegen „Strebertum“ und gegen Fleiß, aber für tiefergelegte schwarze BMWs, teure Handys, teure Markenklamotten eingestellt sind, werden einen solchen Aufstieg schwer machen. Genau das ist aber die Grundhaltung eines wesentlichen Teils unserer jungen männlichen Kreuzberger und Neuköllner Deutschen.
Ich staune immer wieder erstaunt über die elektronische Ausstattung unserer typischen Kreuzberger Jungs, unserer typischen Kreuzberger Familien, mit denen ich als typischer Kreuzberger einfacher Bürger Kontakt halte und pflege. Ganz oben scheint bei den 8-12-Jährigen derzeit das Nokia N97 zu liegen. Es ist unfassbar! Viele Kids, die unsere Kreuzberger staatlichen Grundschulen prägen, haben Smartphones, die neu mehrere Hundert Euro kosten, während wir in meiner Kindheit stolz waren, wenn wir mal einen echten Lederball zum Kicken hatten.
Wird das europäische Ausland derartige Feinheiten über einen Rassisten, der sich selbst als genetische Promenadenmischung bezeichnet und bereits im Namen einen sarazenisch-muslimischen Ursprung zeigt, noch wahrnehmen? Nein. Das Leseverständnis und die Lesefähigkeit unserer Leistungsträger in Politik und Medien reicht schlechterdings nicht aus, ein 461-Seiten-Buch in allen wesentlichen Inhalten innerhalb von 2-3 Tagen aufzunehmen und dann zutreffend wiederzugeben. Genau das wäre aber erforderlich gewesen. Denn in 2-3 Tagen bilden sich die Grundhypothesen der aktuellen Berichterstattung heraus. In 2-3 Tagen muss man die Vorherrschaft über ein Thema errungen haben, sonst ist es zu spät, um allfällige Verzerrungen und Verleumdungen noch klarzustellen.
Gar nicht hoch genug anzurechnen ist deshalb einem deutschen Bundestagsabgeordneten das Bekenntnis: „Ich bin erst in Kapitel 3.“ Gesagt von Wolfgang Bosbach bei Anne Will, am vergangenen Sonntag. Da war das Buch schon eine Woche auf dem Markt. Thema der Sendung: Thilo Sarrazin ist weg. Im Raum schwebte die Frage: Ist Sarrazin ein Rassist? Der arme Bundestagsabgeordnete musste also zu einer Frage Stellung nehmen, die er zugegebenermaßen nicht beantworten konnte, denn er hätte unbedingt das Kapitel 6 „Bildung und Gerechtigkeit“ gelesen haben müssen, um eine Antwort finden zu können. So läuft der Hase aber.
Einen beliebigen Beleg für die hochwirksame Hetzkampagne eines Großteils der deutschen Medien und der deutschen Politik gegen Sarrazin liefert beispielsweise der folgende Artikel aus der führenden italienischen Tageszeitung La Repubblica – und wer des Italienischen mächtig ist, dem sei der Artikel wärmstens empfohlen:
Eine erstklassige Unterhaltungsserie über Sozialpsychologie läuft derzeit in allen deutschen Medien. Viele spielen dabei mit. Vorausetzung dafür ist, dass man das Buch nicht gelesen hat und der Mehrheitsmeinung folgt. Hat man das Buch gelesen – was bisher nur sehr wenige getan haben – taugt man nicht mehr für eine Rolle als Mitspieler in der Unterhaltungsserie und kann sich deshalb ganz entspannt zurücklehnen und genießen.
Man sollte das ganze Gewitter, das auf Thilo Sarrazin herniedergeht, nicht als antirassistische Hetzkampagne bezeichnen, denn dazu ist es doch zu durchschaubar. In dem Maße, wie die Menschen Sarrazins Buch lesen, werden die Argumente gegen ihn in sich zusammenstürzen, aber jetzt läuft eben diese Seifenoper noch, und deshalb wollen wir uns ihr noch weiterhin widmen.
Ganz wichtig ist es, die Sündenbockrolle zu erkennen, in die Sarrazin hineingedrängt wird. Ein Hauptargument der Hetzer und Petzer ist es, Sarrazin die Schuld an dem beklagenswerten Zustand der Nicht-Integrationspolitik zu geben. Immer wieder kann man es lesen: Sarrazin schade der Integration, er mache es den Muslimen unmöglich, sich zu integrieren, er „spalte“, er „vergifte“.
In diesem Sinne hat sich sein Parteifreund und ehemaliger Boss Wowereit wiederholt geäußert. So auch heute wieder:
Wir verstehen: Da Sarrazin nicht alles so toll findet wie Wowereit, ist er selber an dem ganzen Elend schuld. Die gleiche Tonart fanden wir vor einigen Tagen bei Heinz Buschkowsky im ZDF heute-Magazin: „Ich habe Thilo um Geld gebeten, er hätte uns Neuköllnern als Finanzsenator mehr Geld für soziale Projekte geben können, doch hat er das nicht getan.“ Folge: Der Finanzsenator hat durch die Sanierung des Haushaltes die Integration der Muslime verhindert. Er hat es bevorzugt, den Haushalt der Berliner für ein Jahr in Ordnung zu bringen, statt durch weitere Millionen im Minutentakt die Integration der Zuwanderer zu bewirken. Er ist selbst an allem schuld.
Ein klassischer Abwehrreflex! Der Überbringer der Nachricht wird für das Übel in Haftung genommen. Das alles war schon in den Tragödien des Sophokles so.
31. Oktober 1517, SündenböckeKommentare deaktiviert für Leseverständnis mangelhaft – deshalb Sündenbockritual
Sep.052010
Soll man ihn noch lesen und pflegen, obwohl er doch so polternd war, obwohl er doch so häufig sich im Ton vergriff, so maßlos auftrumpfte? Obwohl er es an Empathie für die fehlen ließ, denen er am Zeug flickte?
Sicher: was er über die Juden sagte, ist nicht akzeptabel. Da hätte ein Freund, ein Bruder, seine Ehefrau ihn zur Seite nehmen können und ihm sagen müssen: „Du irrst dich.“
Aber dass er nicht nachgab, als die Spitzen des Staates und der Regierung sich gegen ihn stellten, das adelt ihn. Dass sie zuletzt kein anderes Mittel fande, als ihn in Acht und Bann zu tun, ist ein Zeugnis besonderer Dürftigkeit, das sich diejenigen ausstellen, die seinen Ausschluss betreiben.
Es fehlte die besondere Streitkultur, die den Austausch auch gegensätzlichster Meinungen ermöglicht. Es ist keine Demokratie, sondern die Herrschaft durch Zustimmung der Landesfürsten. Die Macht stützte sich auf das bequeme Einverständnis, das billige Hinwegsehen, die wohlfeile Erregung, die abgestimmte hysterische Zuckung im Blätterwald.
Dass er den Finger auf besondere Missstände legte, die Teile das Landes, Teile der Machtelite gefangen hielten, ist ihm nicht vorzuwerfen.
Sein Antrieb war eine hohe Vorstellung von der Freiheit und der Verantwortung jedes Menschen. Niemals ließ er zu, dass der Einzelne sich auf Gruppennachteile hinausredete.
In manchem hat er geirrt. Aber umgekehrt nötigt seine Unbeirrbarkeit mir höchsten Respekt ab.
Die milde gestimmte Heiterkeit, das Versöhnlich-Dialogische war seine Sache nicht immer. Aber man hätte das Gespräch mit ihm suchen müssen. Dass man ihn aus der Organisation fortjagte, schuf ihm eine wachsende Schar von Unterstützern. Ihn selbst konnte man loswerden, aber seine Wahrheiten waren stärker als die Macht.
So aber fiel die halbe Welt über ihn her. Sie versuchten, ihn in die Wüste zu treiben. Ein abstoßendes Sündenbockritual! Ich bin sicher: Die meisten, die sich das Lästermaul über ihn zerreißen, haben weder seine Thesen noch seine Bücher gelesen. Es mangelte ihnen an Leseverständnis.
Seine Thesen veränderten die Welt. Sie trieben wie ein Meteor auf die dumpfe Welt zu, wirbelten sie durcheinander, und viele mussten eingestehen: Er spricht Dinge aus, die uns quälen, die wir aber nicht anzusprechen wagen.
Geschrieben im Lutherhotel Wittenberg, Lutherstadt Wittenberg, Jüdengasse, am 5. September 2010