Sep 052010
 

04092010006.jpg Soll man ihn noch lesen und pflegen, obwohl er doch so polternd war, obwohl er doch so häufig sich im Ton vergriff, so maßlos auftrumpfte? Obwohl er es an Empathie für die fehlen ließ, denen er am Zeug flickte?

Sicher: was er über die Juden sagte, ist nicht akzeptabel. Da hätte ein Freund, ein Bruder, seine Ehefrau ihn zur Seite nehmen können und ihm sagen müssen: „Du irrst dich.“

Aber dass er nicht nachgab, als die Spitzen des Staates und der Regierung sich gegen ihn stellten, das adelt ihn. Dass  sie zuletzt kein anderes Mittel fande, als ihn in Acht und Bann zu tun, ist ein Zeugnis besonderer Dürftigkeit, das sich diejenigen ausstellen, die seinen Ausschluss betreiben.

Es fehlte die besondere Streitkultur, die den Austausch auch gegensätzlichster Meinungen ermöglicht. Es ist keine Demokratie, sondern die Herrschaft durch Zustimmung der Landesfürsten. Die Macht stützte sich auf das bequeme Einverständnis, das billige Hinwegsehen, die wohlfeile Erregung, die abgestimmte hysterische Zuckung im Blätterwald.

Dass er den Finger auf besondere Missstände legte, die Teile das Landes, Teile der Machtelite gefangen hielten, ist ihm nicht vorzuwerfen.

Sein Antrieb war eine hohe Vorstellung von der Freiheit und der Verantwortung jedes Menschen. Niemals ließ er zu, dass der Einzelne sich auf Gruppennachteile hinausredete.

In manchem hat er geirrt. Aber umgekehrt nötigt seine Unbeirrbarkeit mir höchsten Respekt ab.

Die milde gestimmte Heiterkeit, das Versöhnlich-Dialogische war seine Sache nicht immer. Aber man hätte das Gespräch mit ihm suchen müssen. Dass man ihn aus der Organisation fortjagte, schuf ihm eine wachsende Schar von Unterstützern. Ihn selbst konnte man loswerden, aber seine Wahrheiten waren stärker als die Macht.

So aber fiel die halbe Welt über ihn her. Sie versuchten, ihn in die Wüste zu treiben. Ein abstoßendes Sündenbockritual! Ich bin sicher: Die meisten, die sich das Lästermaul über ihn zerreißen, haben weder seine Thesen noch seine Bücher gelesen. Es mangelte ihnen an Leseverständnis.

Seine Thesen veränderten die Welt. Sie trieben wie ein Meteor auf die dumpfe Welt zu, wirbelten sie durcheinander, und viele mussten eingestehen: Er spricht Dinge aus, die uns quälen, die wir aber nicht anzusprechen wagen.

Geschrieben im Lutherhotel Wittenberg, Lutherstadt Wittenberg, Jüdengasse, am 5. September 2010

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