Ein Europa ohne Prag? Ein Europa ohne Budapest? Ein Europa ohne Schwabendorf bei Brody … jamais plus!

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Nov. 152014
 

Valéry Giscard d’Estaing: Europa. La dernière chance de l’Europe. Préface d’Helmut Schmidt. XO Editions, Paris 2014. Darin aufgeschlagen: Die Landkarte des neuen Europa auf S. 7-8
Michael Žantovský: Václav Havel. In der Wahrheit leben. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl. Propyläen, Berlin 2014. Darin aufgeschlagen: die Seite 280
Gesichtete Zeit. Deutsche Geschichten. 1918-1933. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Deutscher Taschenbuch Verlag, 5. Auflage, München 1987. Darin aufgeschlagen:  Die Geschichte von Joseph Roth: April. Geschichte einer Liebe, S. 177-197

Aus der Sicht erfahrener Staatsmänner bewerten Giscard und Helmut Schmidt den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union einhellig als im äußersten Maße gefährdet.  Sie konstatieren einen hinausgezögerten Offenbarungseid des institutionalisierten Europa. Der heutigen Europäischen Union in der jetzigen Gestalt räumen sie geringste Überlebenschancen ein. Nicht dem Euro bescheinigen sie das Scheitern, sondern nahezu allen anderen Institutionen der EU. Deshalb wählen sie auch den Titel: „Europas letzte Chance“, so als stünde die Europäische Union und damit Europa insgesamt kurz vor dem Scheitern.

Scheitert Europa, wenn die EU scheitert? Joschka Fischer stellte dieselbe Frage, machte sie in diesem Jahr zum Titel seines neuen Buches, so wie 1997 Arnulf Baring in seinem Buch dieses Titels fragte: Scheitert Deutschland? Aber scheitert Deutschland, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich als souveräner Staat von innen heraus abschwächt und abschafft, wie sie dies ja derzeit offenkundig tut?

Gestern bestellte ich in dem Gasthaus Joseph Roth in der Potsdamer Straße nahe der Nationalgalerie in Berlin „Pečené hovězí s knedlíkem“ – ich verspürte einfach Lust und Berechtigung, als Reverenz an den nach eigenen Angaben in Schwabendorf bei Brody im Habsburgerreich geborenen und aufgewachsenen Joseph Roth in der Sprache des Kronlandes Böhmen eine Bestellung von Rinderbraten mit Knödel auf Tschechisch aufzugeben. Denn ich meinte, er hätte mich verstanden, wenn er als Kellner hier gearbeitet hätte.  „Also Rinderbraten mit Spätzle?“, fragte das Mädchen zurück. „Ja, mit Spätzle“, lenkte ich ein.

Ich hatte da bereits – beim Warten auf den Rinderbraten mit Spätzle – die Landkarte des neuen Europa aufgeschlagen, wie sie Giscard vorschlägt.

Der  ehemalige Vorsitzende des Verfassungskonventes der EU meint, man sollte die EU auflösen in einen Kernbereich von 12 Staaten, die sich ungesäumt einen einheitlichen Staatshaushalt´und ein gemeinsames Steuer- und Arbeitsrecht geben sollten. Dies neue Kunstgebilde, das aus dem absehbaren Scheitern der heute bestehenden EU hervorgehen soll, nennt Giscard (und vielleicht auch Helmut Schmidt) in lateinischer Sprache „Europa“.  Die anderen 16 Staaten der jetzigen EU sollten dann möglicherweise nach und nach diesem Europa beitreten, so sie denn wollen und können, so sie denn gelassen werden.

Spannend!

Wer ist dann drin in Europa? Wer ist dann draußen, gemäß der „vision ambitieuse“,  der „anspruchsvollen Vision“, wie Helmut Schmidt den Entwurf seines Freundes nennt (S. 15)?

Zu Europa sollen laut Giscard nur die folgenden 12 Länder  gehören: Portugal, Spanien, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Irland, Polen, Finnland.

Nicht zu Europa sollen nach dem Vorschlag Giscards zunächst alle anderen europäischen Länder gehören, also z.B. die Eurozonen-Mitglieder Estland, Lettland, Griechenland, Slowakei, Slowenien, die EU-Mitglieder  Kroatien, Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, aber auch die anderen, mindestens teilweise zum geographischen Europa gehörenden Nicht-EU-Mitglieder, etwa die Länder Ukraine, Türkei, Weißrussland, Russland, Serbien, Albanien, Schweiz.

Hier blieb mir der Rinderbraten im Halse stecken. Was würde Kaiser Karl IV. sagen, der auf der Prager Burg residierte, wenn er sähe, dass sein Stammland Böhmen nicht mehr zu Europa gehören soll? Was würde Václav Havel, der als Staatspräsident ebenfalls auf der Prager Burg residierte, sagen, wenn er sähe, dass die Tschechische Republik nicht mehr zu Europa gehören soll? Was würde Joseph Roth sagen, wenn er mitbekäme, dass sein Geburtsort Schwabendorf bei Brody in Galizien nicht zu Europa gehören soll?

Ich weiß es nicht. Mir gefällt es nicht, dass jetzt wieder Grenzen zwischen dem „eigentlichen“ Europa und den anderen „weniger europäischen“ Ländern gezogen werden. Wieso sollte Schwabendorf bei Brody weniger europäisch sein als Versailles bei Paris? Warum sollte Václav Havel weniger Europa repräsentieren als Helmut Schmidt? Warum sollte Joseph Roth weniger Europa repräsentieren als Valéry Giscard d’Estaing?

Fragen über Fragen! Die drei Bücher werden uns noch einige Tage mit diesen Fragen begleiten. Ich meine: Europa gehört allen Menschen. Wir dürfen keinen verlieren, wenn wir in der Wahrheit Europas leben wollen.

EUROPA – La dernière chance de l’Europe.

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Mai 212014
 

„Jeder der bei uns in der Ukraine die Wahrheit über die Vergangenheit sagte, wurde nach Magadan geschickt. Die meisten kamen nicht wieder. Diejenigen, die wiederkamen, erzählten wohlweislich nichts.“ So erzählte es mir persönlich eine Ukrainerin, mit der ich vor wenigen Wochen über die aktuelle Lage in der Ukraine sprach. Diese Worte der Ukrainerin fallen mir soeben wieder beim Lesen des Buches „Stalin’s children“ ein, das auf Deutsch unter dem Titel „Winterkinder“ erschienen ist. Das Geschehen – also die authentische Lebensgeschichte von drei Generationen einer russisch-englischen Familie, erzählt von einem Sohn dieser Familie – spielt überwiegend in der Ukraine. Das Buch bringt alle die Städtenamen, von denen  jetzt auch wieder die Tagespresse voll ist: Simferopol, Charkow/Charkiw, Odessa, Donezk … und viele mehr.

Stalin’s Children ist ein erzählendes, biographisches, mehrere Generationen umspannendes  Buch, das – wenn man so will – den historischen Hintergrund für die jetzige weltpolitische Auseinandersetzung liefert. Die Ukraine war ein entscheidendes Schlachtfeld, vielleicht das entscheidende Schlachtfeld  der eliminatorischen Vernichtungsstrategie der sowjetischen Kommunisten gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Feinden, den „Kulaken“, den „Volksfeinden“, den „Schädlingen“, den Trotzkisten, den „Antisowjets“,  dem „Ungeziefer“. Insofern ist die Ukraine das mitteleuropäische Land par excellence, es liegt genau an der Nahtstelle zwischen Osteuropa und Westeuropa. Ich wage zu behaupten: Es IST die Nahtstelle. Es sind die „Bloodlands“, wie sie Timothy Snyder nennt, in denen sich die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte ereignet haben.

Eine zweistellige Millionenzahl an Todesopfern brachten diese eliminatorischen, systematisch geplanten und vollzogenen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten (und danach der Nationalsozialisten) hervor.

Und warum ist davon – von diesem „Holodomor“, der doch wesentlich mehr Opfer forderte, mindestens so eliminatorisch war wie der deutlich später einsetzende „Holocaust“, so wenig bekannt bei uns in der westlichen Hälfte Europas, während der Holocaust, der danach ebenfalls schwerpunktmäßig in der Ukraine und in Polen stattfand, in aller Munde ist?

Die Antwort ist zweifach:

1. Es gab fast keine Überlebenden bei den Auslöschungsaktionen der Sowjets in der Ukraine. Während der Terror der Nationalsozialisten sich im wesentlichen auf die Jahre 1933-1945 beschränkte, erstreckte sich der nicht minder brutale, nicht minder eliminatorische  Terror der Kommunisten, der sich davor, danach und gleichzeitig schwerpunktmäßig ebenfalls im Gebiet der Ukraine entfaltete, über mehr als 3 Jahrzehnte. Lange genug, um die wenigen überlebenden Augenzeugen zum Schweigen zu bringen, lange genug, um eine Mauer des Schweigens um die über viele Jahre sich hinziehenden Massenmorde zu errichten.

2. In der Sowjetunion galt ebenso wie in der DDR  mindestens bis 1956 ein absolutes Frageverbot, ein absolutes Schweigegebot über die eliminatorischen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten. Nur die oberen Kader der Kommunistischen Partei, also etwa Stalin oder Nikita Chruschtschow, hatten ein einigermaßen vollständiges Bild vom Umfang der radikalen Vernichtung, der Dezimierung und Auslöschung ganzer Völkerschaften, ganzer Klassen des Volkes durch die Kommunisten in den Jahren 1917-1953. Das Volk, die breiten Massen wurden belogen und betrogen nach Strich und Faden. Hätten nun die Kommunisten das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenverbrechen enthüllen und aufarbeiten können, so wie ja ab 1945 nach und nach das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt worden ist und zu Recht auch weiter aufgedeckt wird?

Nein, sie wollten und konnten es nicht, denn die Offenlegung des ganzen Umfanges der kommunistischen Massenverbrechen in den Jahren 1917-1956  hätte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten des Warschauer Pakts sofort jede Legitimität entzogen. Der Kommunismus wäre als Ideologie, als Lehre und als Praxis bereits kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nicht erst 1989/1990 zusammengebrochen, so wie der Nationalsozialismus im Jahr 1945 nach dem verlorenen Krieg nicht zuletzt durch die Offenlegung seines durch und durch verbrecherischen Charakters zusammengebrochen ist.  Die Kommunisten hätten bei Öffnung der Archive und bei echter Forschungs- und Redefreiheit trotz des gewonnenen Krieges bereits 1956 die Macht verloren, so wie die Nationalsozialisten 1945 die Macht verloren.  Bereits 1956, nicht erst 1989/1990 wäre die Mauer zwischen Ost und West gefallen.

Nicht zuletzt wäre es bei einer echten Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR zu zahlreichen gespaltenen Loyalitäten, zum Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften  gekommen. Denn selbstverständlich sind nicht alle gläubigen Kommunisten „böse“. Im Gegenteil! Viele waren auch von lauteren Motiven beseelt. Selbst etliche Massenmörder glaubten wohl, die bis dahin nahezu singulären eliminatorischen Massenverbrechen in der Ukraine im Dienste der Menschheit vollbringen zu müssen.

If only there were evil people somewhere insidiuously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good from evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of their own heart?

Stalin’s children / Winterkinder – ein lesenswertes Buch. Ihm entnehmen wir dieses obenstehende Zitat. Es hinterlässt mich zutiefst betroffen.

Owen Matthews: Stalin’s Children. Three Generations of Love, War, and Survival. Bloomsbury, London / Berlin / New York 2008. Elektronische Ausgabe, hier Pos. 812 von 4397
Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, hier S. 76

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Dez. 202013
 

2013-12-20 16.30.06

„Wer oder was ist Europa“? Eine alte Frage, die meist mit mehr oder minder überzeugenden Rückfragen beantwortet wird. Wir selbst haben in diesem Blog versucht, ähnlich wie Willy Brandt einen besonderen Freiheitsbegriff als unterscheidendes Merkmal Europas zu benennen. Im Gegensatz zu den Großreichen des Ostens, aber auch im Gegensatz zu den Großreichen des Nationalsozialismus und der sozialistischen UDSSR, die Sicherheit und Macht des Staatsvolkes sowie Loyalität gegenüber einem Herrschaftsverband obenan stellten, speist sich der engere europäische Freiheitsbegriff aus der Einsicht in die vorgängige Freiheit der einzelnen Person, in die Vorrangigkeit der unteren Ebene.

Das scheint in der Antike etwas Unerhörtes gewesen zu sein, und bereits die Perserkönigsmutter Atossa verleiht diesem Erstaunen Ausdruck, als sie erfährt, dass die griechischen Städte niemandem untertan seien, dass sie nur sich selbst gehörten und „keines Menschen Sklaven seien“ (Vers 242):

„Keines Mannes Knechte oder Untertanen heißen sie.“

Einen starken, mutigen Freiheitsbegriff vertritt auch der Kreuzberger Mitbürger Cem Özdemir – etwa wenn es um die so brennende Frage geht, wie die künftige Europäische Union beschaffen sein soll. In seinem Türkei-Buch geht er einige – ihn nicht überzeugende – Antworten durch, um zu folgender Kernaussage zu gelangen: „Entscheidend ist, was wir Europäer wollen.“ Die entscheidende Frage lautet für ihn nicht: „Wer oder was ist Europa?“, sondern: „Was soll Europa sein?“

Özdemirs Kernfrage birgt auch schon die Antwort auf die Frage, wie es jetzt mit der Europäischen Union weitergehen soll. Letztlich können und dürfen es nicht die Europäischen Institutionen, nicht die Regierungen und schon gar nicht die ominöse Troika entscheiden, wohin die Reise geht. Entscheidend ist, was die europäischen Bürger wollen. Wenn eben 69% der Polen und eine überwältigende Mehrheit der Briten den Euro nicht und nimmermehr haben wollen, dann nützt es nichts – wie man dies in Deutschland immer wieder gegenüber Kritikern der Euro-Währung hören kann –  diesen Briten und Polen vorzuwerfen, sie seien „Nazis“, „Rechtspopulisten“ oder sie trügen den „Spaltpilz“ in die europäische Seligkeit und stürzten Europa wieder in Krieg und Verderben.

Gerade die Versuche, große Teile Europas in gewaltigen Machtverbänden zusammenzufassen, sind grandios gescheitert. Überlebt haben die kleinen und mittelgroßen Einheiten, die auf einem starken Freiheitsbegriff aufruhten. Das Reich Karls V. ist untergegangen; die Niederlande, die sich von den Habsburgern lossagten, gibt es heute noch! Die Sowjetunion ist untergegangen, das lettische Volk, das slowakische Volk, das estnische Volk, das polnische Volk gibt es immer noch und sie haben sich nach langen Kämpfen einen Staat geschaffen, wie sie ihn haben wollten.

Entscheidend ist stets, was wir Bürger wollen – nicht, was die Machthaber wollen.

Der europäische Freiheitsbegriff ist also subsidiär, von unten nach oben wachsend. Er ist aber auch dynamisch, ist wesentlich nach vorn gerichtet. Er verlangt die Möglichkeit der Wahl – auch in der Zukunft. Freiheit ist ein stets zu erneuernder Begriff. Freiheit muss Tag um Tag behauptet werden. Sie ist nie endgültig. In Goethes Faust heißt es (V. 11575):

„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
der täglich sie erobern muss.“

Hölderlin sagt in seinem Gedicht Lebenslauf:

„Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.“

Dies ist die Freiheit als Aufgabe, die es zu verstehen gilt, und Freiheit als Vorhabe, die es sich vorzunehmen gilt. Freiheit ist kein Endzustand, der sich vertraglich fixieren ließe!

Freiheit ist wichtiger als Einheit! Willy Brandt, Konrad Adenauer, Theodor Heuss gaben der kleineren, freiheitlichen Bundesrepublik den Vorrang vor allen Lockrufen, eine Wiedervereinigung um den Preis der Unfreiheit herbeizuführen. Heute würde man sie wohl in Deutschland mit diesem Freiheitsethos nicht mehr verstehen und sie als Rechtspopulisten in den Orkus werfen.

Die Freiheit ist offen. Sie besteht darauf, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, sondern dass wir echte Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten haben. Sie widersteht jedem voreiligen Rückgriff auf Alternativlosigkeit oder schicksalhafte Notwendigkeit. Unter den lebenden deutschen Politikern gibt es nur wenige, die diese Grundqualitäten der Freiheit so klar, deutlich und unzweideutig gefasst haben wie der Kreuzberger Grüne Cem Özdemir.

Im Zweifel – für die Freiheit!

Nachweise:
Aischylos: „Die Perser“, in: Aischylos, Die Tragödien, Reclam, Stuttgart 2002, hier S. 15
Cem Özdemir: „Wer oder was ist Europa?“, in: ders., Die Türkei. Beltz, Weinheim 2008, hier S. 95-96
Friedrich Hölderlin: „Lebenslauf“, in: Hölderlin. Werke und Briefe. Hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Erster Band: Gedichte. Hyperion. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 74

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Aus Heinrichs des Vierten Canossa-Gang wird Öttingers Ankara-Gang

 Anbiederung, Der Westen, Islam, Türkisches, Was ist deutsch?, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Aus Heinrichs des Vierten Canossa-Gang wird Öttingers Ankara-Gang
Feb. 232013
 

„Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt mit dem Kollegen aus Paris auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türken zu bitten, Freunde, kommt zu uns.“

Mit diesen Worten wird der schwäbisch-deutsche EU-Kommissar Öttinger in unseren historisch so hochbedeutsamen Tagen überall in der EU und der Türkei beifällig zitiert. Ein kühner Spruch, mit dem der mächtige Politiker tief in die Bilderwelt der europäisch-kleinasiatischen Geschichte hineingreift! Denn das „Heranrobben auf den Knien“ ist jedem Geschichtskundigen als die Haltung geläufig, mit der der fränkisch-deutsche König Heinrich IV. sich dem damals amtierenden Bischof von Rom, dem mächtigen Papst Gregor VII., diesem bei Freund und Feind als „Zuchtrute Gottes“ gerühmten, kraftvollen Vollblutpolitiker unterwarf. Damit erkannte er in der Frage der Bevollmächtigung zur Ämtereinsetzung – also im berühmten „Investiturstreit“ – zunächst einmal die Vormacht des Römers an.

Der Gang nach Canossa! Wann war das? Im Jahr 1076, also in einem Jahrzehnt, das für die europäisch-kleinasiatische Geschichte bis heute von überragender Bedeutung ist! Warum?

Jedes türkische Schulkind kennt und verehrt Alp Arslan, jedes türkische Schulkind kennt und verehrt die Schlacht von Manzikert (1071), in der es dem turkstämmigen Seldschukenherrscher gelang, den griechisch-byzantischen Kaiser Romanos IV. entscheidend zu schlagen. Diese Schlacht von 1071 gilt in der monumentalischen Geschichtsschreibung der Türken als der Beginn der unaufhaltsamen Islamisierung des damals christlichen anatolischen Kernlandes. Von diesem Jahrzehnt an stiegen die Turkstämme nach und nach zur unbestrittenen Führungsnation der islamischen Welt auf und rangen den christlichen Herrschern Land um Land ab, so auch das ehedem christliche, heute aber zu 90% islamische Ägypten.

Das Jahr 1071 kann heute als einer der Ursprünge der Furcht des Abendlandes vor islamischer Eroberung gelten. Seit damals, seit diesem Jahrzehnt 1070-1080 breitete sich die Angst vor Islamisierung und Eroberung erneut aus. „Wenn wir im Abendland nicht aufpassen und uns weiterhin dauernd gegenseitig die Schädel einschlagen, werden uns die Türken erobern.“ So die damals weitverbreitete Furcht, die unter anderem auch zu den 6 Kreuzzügen führte, die heute in der gesamten islamischen Welt als abschreckendes Beispiel der typisch abendländischen  Grausamkeit und Herrschsucht gebrandmarkt werden.

Der in türkischer Sicht glorreiche Höhepunkt dieser islamischen Landnahme ist selbstverständlich das Jahr 1453, in dem es gelang, den Sitz des kleinen verbliebenen Römischen Reiches, das damals griechisch-christliche Konstantinopel, mit einer multiethnischen Streitmacht  zu erobern. Für das Abendland ein grundstürzendes Ereignis!

Nahezu immer aber boten die islamischen Herrscher ihren militärischen Gegnern an, dass die Gegner sich freiwillig unterwerfen sollten und dafür nicht getötet würden. Ein Übertritt zum Islam wurde dabei nicht notwendig zur Bedingung der Unterwerfung gemacht, Zwangsislamisierungen waren nicht die grundsätzliche Regel. Den Christen stand es wie den Juden meist frei, als Untertanen zweiter Klasse weiterhin ihr Leben zu führen, wenngleich viele den Übertritt zum Islam wählten, um den zahlreichen Benachteiligungen zu entgehen. Aber bei den Osmanen erreichten viele Christen hohe Stellungen am Hofe des Kalifen.

Der CDU-Politiker Günter Öttinger schlägt also keine „privilegierte Partnerschaft“, sondern eine symbolische Unterwerfung in Freundschaft vor. Sein Vorschlag verdient sorgfältige Prüfung. Ich  meine: Wenn die Mehrheit der Deutschen, die Mehrheit der Franzosen und Europäer einen derartigen kniefälligen Ankara-Gang in Freundschaft wünscht – warum nicht? Die Tür der freundschaftlichen Unterwerfung ist immer offen! Sollten wir Europäer uns nach Öttingers Vorschlag der Türkei unterwerfen – etwas, was Romanos IV. damals starrsinnig ausschlug? Bedenken wir: Die Türkei hat eine junge, wachsende Bevölkerung mit vielen Kindern – sie hat also genau das, was den schrumpfenden Gesellschaften in der EU, vor allem natürlich Deutschland am meisten und am schmerzhaftesten fehlt.

Schluss mit diesem holzschnittartig-groben, verzerrenden historischen Rückblick!

Springen wir in die Analyse der Gegenwart! Sprechen wir über die Demographie! In der Türkei zählt die Familie noch sehr viel. Die Türkei hat also das, was bei uns fehlt: ein starkes Bewusstsein für den unverzichtbaren Rang von Ehe und Familie. In der Türkei strecken die Bürger nicht Tag und Nacht die Hände nach dem Staat und nach dem Sozialsystem aus wie bei uns, sondern die Familien halten zusammen. Der türkische Mindestlohn liegt unterhalb der deutschen Grundsicherung nach dem SGB! Die Menschen arbeiten trotzdem: Kinder, Frauen, Männer, alle sind notfalls bereit, sich zugunsten der Familie abzurackern oder gar als ganze Dörfer ins ferne Ausland zu übersiedeln, um von dort aus die dringend benötigten, aus allen erdenklichen Quellen stammenden Gelder nachhause zu überweisen. Sie sind sich nicht zu schade, im Ausland zu arbeiten für „Löhne, von denen man nicht anständig leben kann“, wie unsere deutschen Mitte-Links-Sozialpolitiker nicht müde werden zu verkünden.

Dass Vater und Mutter unbedingt Vollzeit arbeiten müssen und die Kinder dem Staat am besten rund um die Uhr anvertraut werden, wie das bei uns in Deutschland von Teilen der Politik und Teilen der Bevölkerung offen gefordert wird, wäre in der Türkei undenkbar. Die Familien bilden die Keimzelle der türkischen Gesellschaft, so wie der gütige Staat, die gerechtigkeitschaffende Politik, das versorgende Sozialsystem zunehmend die Keimzelle und die entscheidende Stütze der deutschen Gesellschaft bilden.

Ich meine: Wir können  von den Türken sehr viel lernen – vor allem Familiensinn, Treue, Selbstachtung für das eigene Land, Treue zur Republik.

Selbstunterwerfung unter andere Staaten, Selbstaufgabe der eigenen Herkunft und der eigenen Muttersprache, ständige Selbst-Anklage, Preisgabe der familiären Bindungen zugunsten des vulgärsozialistischen Versorgerstaates – dies von uns Deutschen zu lernen würde ich den Türken niemals empfehlen.

Diese typisch deutsche – jedoch weniger europäische – Auto-Immun-Schwäche wäre bei den Türken ebenso krankhaft wie sie bei uns Deutschen krankhaft ist.


EU-Beitritt der Türkei – „Auf Knien nach Ankara robben“: Günther Oettingers Türkei-Spruch löst Irritationen aus – weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/politik/ausland/eu-beitritt-der-tuerkei-auf-knien-nach-ankara-robben-guenther-oettingers-tuerkei-spruch-loest-irritationen-aus_aid_924109.html

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Worauf wurzelt die Europäische Union?

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Mai 212012
 

Betrachte dieses Bild! Du siehst einen jungen Baum, der zum Schutz vor Ungeziefer mit einer Kalklösung bestrichen ist und durch drei Pflöcke in seinem Wachstum gestützt wird. Ich sah ihn heute vor dem Frühstück, als ich mit meiner Familie durch den Kreuzberger Park am Gleisdreieck joggte. Der Baum wurzelt in der Erde, sie ist sein Wurzelgrund und Fundament. Zum besseren Wachstum ist er gehegt, geschützt und gestützt durch die drei Pflöcke. Die Pflöcke sind sozusagen stützende Säulen, aber nicht tragende Säulen. Der Baum könnte wahrscheinlich auch ohne die stützenden Säulen überleben. Ohne ausreichenden Wurzelgrund aber könnte er nicht überleben.

Worauf wurzelt Europa? Was sind die tragenden Fundamente der Europäischen Union? Herr Steinbrück gab gestern bei Günter Jauch in einer Euro- oder Euro(pa)-Talkshow eine gute Antwort: „Unabhängige Gerichte, Sozialstaat, Trennung von Staat und Kirche, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Aufklärung – das ist Europa, …“, und ich ergänze, Herr Steinbrück: soziale Marktwirtschaft statt staatlicher Zwangsbewirtschaftung  …  Richtig so, Herr Steinbrück, so steht es ja auch in den Lissabonverträgen – und genau DAS könnte man auch ohne den Euro haben. Und das hattten wir auch schon ohne den Euro. Völlig verkehrt ist es also, den Euro zum „Fundament der weiteren  europäischen Integration“ zu erklären, wie das die Staats- und Regierungschefs der EU am 09.12.2011 hochoffiziell taten.

Ich meine: Der Euro ist „eine Säule“, eine wichtige, zu bewahrende Säule, ein stützender Pflock, aber eben keine „tragende“ Säule der europäischen Integration. Denn das würde ja bedeuten, dass die EU-Länder, die den Euro noch nicht haben oder haben wollen, schlechtere Europäer wären. Es ist falsch, den Euro (das GELD) zur entscheidenden Klammer Europas zu erklären. So war es 1955 auch irrig zu glauben, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG (das SCHWERT) müsse das entscheidende Fundament der Europäischen Integration werden. Ein Irrtum, den selbst Konrad Adenauer, der ihm auch erlag, im Nachhinein zugeben musste.

Ansonsten war’s gestern beim Jauch eine gute Debatte zwischen den beiden innigen Parteifreunden, in der der leibhaftig anwesende Unnennbare nur selten und nur ganz wenig beleidigt wurde (Steinbrück: „Bullshit, was Sie da sagen“ usw.) Das ist ja schon mal etwas.

Merke: Eine minimale Dosis Sarrazin-Bashing ist fürs politische Überleben heutigentags unabdingbar. Anders gewendet: Sarrazin-Bashing ist eine tragende Säule des Überlebenskampfes in der öffentlichen Arena. Selbst Joachim Gauck hat dieser neuen, allerdings unverzichtbaren Disziplin pflichtgemäß seinen Tribut gezollt. Erst danach konnte er zum Bundespräsidenten gewählt werden. Wir müssen Herrn Sarrazin dankbar sein, denn der Widerspruch gegen ihn stiftet Einigkeit aller mannhaften Demokraten.

Und sonst? Wohin führt das Gleichnis?

Der Euro, der 80.000 (oder mehr?) Seiten starke acquis communautaire, die GAP, der EFRE, die Strukturfonds und wie sie alle heißen, sie sind gärtnerische oder stützend-pflegende Maßnahmen, die nötig oder sinnvoll, wichtig oder tauglich sind. Aber sie sind stets offen zu halten für veränderte Bedingungen. Sie sind nie in Stein gemeißelt.

Unbedingte Achtung der Menschenwürde, Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte, Pressefreiheit, Gewaltentrennung, Sozialstaat, freie Marktwirtschaft, Ablehnung der staatlichen Zwangsbewirtschaftung, parlamentarische Demokratie, das Prinzip der Subsidiarität und der Solidarität – all das gehört zum unverzichtbaren Wurzelgrund der Europäischen Union. Die vorher genannten stützend-gärtnerischen Maßnahmen hingegen müssen dem Baum das Gedeihen und das Wachstum ermöglichen. Sie haben dienende, stützende, nicht fundierende Aufgaben.

 Posted by at 10:11
Mai 052012
 

Unbedingt lesenswert – der folgende Beitrag in der FAZ:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gastbeitrag-vom-tod-europaeischer-werte-11732949.html

Ihn verantwortet die Autorin, die – sehr zu meiner innigen Freude – angesichts der Finanzkrise den Schneid in der FAZ damals aufbrachte, aus Goethes FAUST II zu zitieren, Szene im Kronsaal, wo ein tattriger Kaiser (Maximilian?) von einem gerissenen Einbläser hinters Licht geführt wird … ! Die Assignatenwirtschaft wurde ins Leben gerufen, man schrieb staatliche Schuldverschreibungen aus … Wertpapiere, die auf noch zu findende Bodenschätze ausgestellt wurden.

Mindestens DAS haben Sie schon großartig gemacht und geschrieben, Frau Wagenknecht.

Und die Soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard war in der Tat als Gegenentwurf zu einem schrankenlosen Manchester-Kapitalismus genauso wie als Gegenentwurf zu den auf Gewalt und Massenmord gestützten kommunistischen und nationalsozialistischen Diktaturen, etwa des faschistischen Italien, der kommunistischen UDSSR und des nationalsozialistischen Deutschen Reiches gedacht.

Und die soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard hat funktioniert und wird auch weiter funktionieren. Wir müssen sie nur verteidigen, pflegen und hegen!

 Posted by at 08:24
Apr. 222012
 

„Wer kennt diesen Mann? Wer ist dieser Mann?“ Soeben habe ich bei Bekannten und Zufallsbekannten eine Straßenumfrage mit dem aktuellen SPIEGEL durchgeführt zum Bild auf S. 7, ganz unten. Selbstverständlich mit verdeckter Bildlegende – denn da steht es ja, wer das Bild gemalt hat.

„Das ist doch Johannes!“

„Das ist doch ein berühmter holländischer Maler!“

Für mich ist dieses Nürnberger Selbstbildnis von ca. 1500, ergreifend und schlicht, ein prägendes Selbstbildnis eines europäischen Menschen. Ein durch und durch freier Mann, der uns erhobenen Hauptes und unverwandten Blickes anblickt, niemandem hörig, keinem irdischen König untertan! Das Geheimnis wird sich wohl nie ganz enträtseln lassen.

Fragen über Fragen!

http://www.spiegel.de/suche/index.html?suchbegriff=d%FCrer

 Posted by at 12:42

ἄργυρος κακὸν νόμισμ᾽ ἔβλαστε, oder: vom Europa des Geldes zum Europa des freien Wortes

 Antike, Europäische Union, Geld, Gemeinschaft im Wort, Sprachenvielfalt, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für ἄργυρος κακὸν νόμισμ᾽ ἔβλαστε, oder: vom Europa des Geldes zum Europa des freien Wortes
März 142012
 

Immer wieder tauche ich hinab in die alte, griechisch sprechende Welt, die Europa zu dem werden ließ, was es heute zu werden verspricht. In den attischen Tragödien des 5. und 4.  Jahrhunderts vor Christus werden zahllose Fragen erörtert, die uns bis zum heutigen Tage beschäftigen. Etwa die folgende:

Was hält Europa und die Europäische Union zusammen?

„Die Wirtschaft!“ werden die meisten sagen. „Der freie Austausch an Waren und Dienstleistungen sichert den Zusammenhalt!“.

„Der acquis communautaire!“ schallt es aus Brüssel zurück. „Die etwa 100.000 Seiten gemeinsamer Rechtstexte über Ansprüche und Rechte der Mitgliedsstaaten sind eine unlösbare institutionelle Klammer!“

„Der Euro!“, werden wieder andere einwerfen. „Nur durch die Gemeinschaftswährung werden die Schicksale der Staaten so unlösbar verknüpft, dass Wohlstand, Wachstum und soziale Gerechtigkeit gesichert sind.“

Kaum ein Zweifel darf bestehen, dass die Europäische Union und überhaupt europäische Politik auf der Wirtschaft und auf dem Geld begründet ist. Das Geld und die Wirtschaft sind – nach der aktuellen Politik zu urteilen – die eigentlichen Fundamente und der Maßstab der Europäischen Union.

„Lernt doch erst mal griechische Texte lesen“, begehre ich auf, wenn wieder einmal derartige Reden geführt werden. „Habt ihr nicht die Antigone des Sophokles gelesen?“

Erstaunlich etwa, was König Kreon in der Antigone des Sophokles über das Geld sagt:

οὐδὲν γὰρ ἀνθρώποισιν οἷον ἄργυρος

κακὸν νόμισμ᾽ ἔβλαστε. τοῦτο καὶ πόλεις

πορθεῖ, τόδ᾽ ἄνδρας ἐξανίστησιν δόμων·

τόδ᾽ ἐκδιδάσκει καὶ παραλλάσσει φρένας

χρηστὰς πρὸς αἰσχρὰ πράγματ᾽ ἵστασθαι βροτῶν·

Meine deutende Übersetzung in modernes Deutsch lautet:

„Denn keine so schlimme Gesetzesgrundlage erwuchs für Menschen wie das Geld. Es zerstört sogar Städte, es vertreibt Männer aus den Häusern, Geld prägt Mentalitäten um, so dass die an sich richtige Gesinnung zum Niederträchtigen gewendet wird.“

In diesen Versen (295-299), die wohl um das Jahr 442 vor Christus entstanden,  schreibt Kreon dem Geld eine unterminierende, gemeinschaftsszerstörende Kraft zu. Keine schlechtere Grundlage für Gesetze als das Geld gibt es. Fremdes Geld zerstört den Zusammenhalt der Polis, Geldgier führt zu Hader, Zank und Zwietracht in der Stadt, die Gier nach Silber brachte die griechischen Städte gegeneinander auf.
Ich meine: Der Ansatz, die Europäische Union vornehmlich auf dem Geld begründen zu wollen, hat uns alle in die Irre geführt.

Die Europäische Union muss stattdessen auf anderen, auf kulturellen Werten, vor allem auf dem freien Wort stets von neuem begründet werden!

Weit geschmeidiger, weit moderner als der Kreon des 5. Jahrhunderts v. Chr. drückte dies kürzlich ein Schriftsteller, der unter uns lebende Petros Markaris in folgenden Worten aus:

Wir haben mit der Einführung des Euro diese Werte vernachlässigt und Europa mit dem Euro identifiziert. Und jetzt, mit der Rettungsaktion für den Euro, werfen wir die gemeinsamen Werte, die Diversität der europäischen Geschichte, die verschiedenen Kulturen und Traditionen als Ballast über Bord. Europa hat viel in die Wirtschaft investiert, aber zu wenig in die Kultur und die gemeinsamen Werte.

Quellen:

Sophoclis fabulae. Ed. A.C. Pearson, Oxonii 1975, Ant. vv.  295-300

Süddeutsche Zeitung, 26.01.2012:

http://www.sueddeutsche.de/politik/reise-des-schriftstellers-petros-markaris-die-krise-hat-das-letzte-wort-1.1267452 

The Little Sailing: Ancient Greek Texts

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Nov. 102011
 

Kein leichtes Leben hatte die zweite Generation der Zuwandererkinder. Sie waren  von niemandem darauf vorbereitet worden, in Deutschland zu bleiben. Der türkische Staat schickte seine sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen gern dörferweise nach Deutschland: sollten die Deutschen sich doch um die Dörfler kümmern. Die zurücküberwiesenen Devisen waren hochwillkommen, stärkten die Außenhandelsbilanz. Niemals aber wollte und will die Türkei, dass die Auswanderer ihre Bande mit dem Türkentum verlieren oder gar ihr Türkentum mit einer neuen Heimat verschmelzen lassen! Im Gegenteil, in den letzten Jahren fördert der türkische Staat eine gezielte nachholende Türkisierung, arbeitet weiterhin am Zusammenhalt einer geschlossenen türkischen Volksgruppe.

Die einzelnen Kinder und Jugendlichen schweben kulturell häufig im Niemandsland. Zu richtigen Türken von echtem Schrot und Korn kann und will sie der deutsche Staat nicht ausbilden. Doch durch totale Türkisierung, durch massive Propaganda hat die türkische Republik über etwa 90 Jahre eine nahezu lückenlose Identifikation der Türken mit dem türkischen Boden und Blut erzeugt und erzeugt sie auch weiterhin. Einmal Türke – immer Türke! Ne mutlu Türküm diyene! Ich kann nur raten, die Türkei zu bereisen, ein paar Brocken Türkisch zu lernen und sich wachen Sinnes in diesem großartigen Land, dem uralten Mutterboden der europäischen Kultur umzusehen: Perser, Assyrer, Syrer, Griechen, Araber, Türken, Armenier, Kurden, Zaza und ein Dutzend mehr Völker – sie alle haben dort gesiedelt und ihre Kulturen zu erstaunlicher Blüte gebracht. Unter allen Kulturen haben die aus Zentralasien zugewanderten Türken schließlich die Oberhand erobert und gehalten.

Andererseits hat die Bundesrepublik Deutschland ein bunt gefächertes Programm umgesetzt, das die Identifikation mit Deutschland verhindert. So erzählen mir immer wieder Berliner Kinder und Jugendliche, sie hätten in vier Jahren Geschichtsunterricht fast ausschließlich die zwölf Jahre von 1933-1945 behandelt. Wenn nun aus den etwa 1000 Jahren, in denen man mit gewissem Recht von „deutscher Geschichte“ sprechen kann, immer nur 12 Jahre herausgegriffen werden, welches niederschmetternde Selbstbild muss dann in den Berliner Schülerinnen und Schülern entstehen? Nicht zufällig prangt die Inschrift „Deutschland verr…“ auf Dächern in Friedrichshain.

Aus der überschwänglichen, hochfliegenden Begeisterung für die türkische Nation einerseits, der niederschmetternden Selbstentwertung der deutschen Nation andererseits gibt es für die meisten jungen Türken und auch die Araber keinen Ausweg. Sie hängen fest zwischen Baum und Borke.

Der Ausweg müsste natürlich sein, dass an den Schulen eine positive Identifikation mit dem heutigen Deutschland, also insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland gefördert wird. Genau dies aber geschieht zumindest im Bundesland Berlin fast nicht.

Was tun?

Ich meine: Kleine Gesten, die vielen Akte der Nächstenliebe sind viel entscheidender als großartige Programme und Initiativen. Nachbars Oma kann mehr Gutes tun als noch so viele Integrationspläne und Bildungsprogramme. Das bestätigt wieder einmal sehr überzeugend Mehmet Gürcan Daimagüler:

Häufig sind die Kleinigkeiten im Leben entscheidend: Bei uns im Haus wohnte eine Witwe, Oma Philippine nannten wir sie, die uns bei den Hausaufgaben geholfen hat. Mit ihr habe ich Deutsch gelernt. Dann habe ich die kostenlose Bücherei im Nachbardorf entdeckt und Bücher verschlungen.

Anwerbeabkommen mit der Türkei – Zeitgeschichtliches Archiv – WDR.de

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Nov. 012011
 

Immer wieder wird verlangt, die Türkei solle sich an „Europa“ anpassen, sie sei noch nicht reif für „Europa“. Einspruch: Ich bin überzeugt, wir als EU müssen uns in punkto Lohnpolitik an die Türkei anpassen. Denn wir in der EU stehen im direkten Wettbewerb nicht nur mit China, sondern Griechenland etwa steht im direkten Wettbewerb mit der Türkei, mit dem EU-Land Bulgarien, mit Korea und anderen Niedriglohnländern.

Soll ein deutscher Waschmaschinenhersteller in der Türkei oder in Griechenland investieren?  In Griechenland bezahlt er Renten für die vielen längst verstorbenen  „Hundertjährigen“ mit und auch noch die Portiersstelle für den Sohn eines Parteifunktionärs. In der Türkei bezahlt er den gesetzlichen Mindestlohn – und gut ist. Iyim, wie der Türke sagt.

Als ausgewiesener Freund der Türkei muss ich meine alte Frage wiederholen: Täte uns ein Mindestlohn etwa auf Höhe des türkischen Mindestlohnes gut? Er beträgt derzeit etwa 400/Euro pro Monat.

Das wär doch was für die deutsche Linke: Abschaffung von Hartz IV (eine langgehegte Forderung der Linken) bei gleichzeitiger Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe des türkischen Mindestlohnes von ca. 380 Euro/Monat? Arbeit ist genug da!

Man muss darüber nachdenken. Zur Zeit schnappt das raffgierige Deutschland Generation um Generation türkischer Männer und Frauen in das eigene System, wo es mit staatlicher Unterstützung möglich ist, ohne jede Eigenanstrengung jahrzehntelang im „Paradies“ zu leben, wie dies Kazim Erdogan ausdrückt.

Das deutsche Sozialsystem ist der billige Fusel, der die Türken in Deutschland lähmt und schwächt, wie einst das Feuerwasser den Roten Mann in Amerika geschwächt hat.

Die Jungtürken haben eine gewaltige Europäisierung der Türkei durchgeführt. Sie verlangten die Einhaltung europäisch orientierter Gesetze statt sich aufs Faulbett der osmanischen Verteilungspolitik zu legen.

Der EU steht diese „Europäisierung“ noch bevor.

Ratsam ist es, den Menschen Arbeit zu niedrigen Löhnen anzubieten und das Sozialsystem und das gigantische Geldumverteilungssystem der EU kräftig  zurückzuschneiden. Der Mindestlohn auf niedriger Höhe, der ein würdiges Dasein ermöglicht, bei gleichzeitigen Umverteilungskürzungen wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Wir wären reifer für die Türkei, reifer für den Weltmarkt.

Europäische Union: Westerwelle gegen raschen Beitritt der Türkei – Ausland – FAZ

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Brauchen wir mehr Meister Eckart oder mehr Hirnforschung in der Pädagogik?

 Antike, Entkernung, Homer, Jesus von Nazareth, Kanon, Kinder, Tugend, Vorbildlichkeit, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Brauchen wir mehr Meister Eckart oder mehr Hirnforschung in der Pädagogik?
Okt. 142011
 

Recht treffend fand ich die Einwände, die Bildungsministerin Schavan vor wenigen Tagen im Konrad-Adenauer-Haus gegenüber den bildungspolitischen Grundsatzdebatten in die Runde warf. Sie sagte nämlich,

– es gebe viel zu wenig Debatten über Sinn und Inhalt von Bildung

– dabei hätten wir in Deutschland seit Meister Eckart eine reiche Tradition des Bildungsdenkens

– wir müssten und sollten also auch über den Kanon und Kanonbildung nachdenken.

Alle drei Einwände treffen meines Erachtens noch weit stärker zu, als eine aktive Politikerin dies aussprechen darf. In dem ganzen Gerede und Gestreite über Strukturen, Curricula, Quantensprünge der Didaktik, „gehirngerechtes Lernen“ ist in der Tat fast völlig aus dem Blick geraten, wohin wir die Kinder „ziehen“ oder erziehen wollen.

Es fehlt ein Leitbild der Erziehung. Es ist durch normgerechte „Kompetenzen“ ersetzt.

Es fehlt in Deutschland ein Kanon. Deshalb wachsen viele Kinder in der kulturellen Steppe auf. Gerade bei uns in Kreuzberg ist dieses kulturelle Niemandsland mit Händen greifbar.

Die reiche, prägende, vorbildhaft weisende Tradition des europäischen Bildungsdenkens seit den Tagen eines homerischen Achilles, eines Odysseus, eines platonischen Sokrates, eines Jesus Christus, eines Cicero droht verlorenzugehen. Diese kulturellen Tragwerke Europas drohen vergessen zu werden. Die Wüste wächst!

Armes Kreuzberger Blog » Blog Archive » Stop the war!

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Sep. 242011
 

Entspringt die gegenwärtige Finanzkrise einem falschen Wachstumsglauben?  Manche reden so. Da unsere Volkswirtschaften zur Wahrung des Wohlstandes auf Wachstum angelegt seien, müssten sie sich zunehmend verschulden, um bei sinkender Beschäftigung den Wohlstand für alle zu sichern. Ich widerspreche.

„Falscher Wachstumsglaube“ oder „falsches Staatsverständnis?“

Die gesamte europäische Schuldenkrise ist meiner tiefen Überzeugung nach aus einem falschen, im Grunde uneuropäischen Staatsverständnis entsprungen. Die Staaten und mit ihnen die Europäische Union ließen sich in die Haftung für das wirtschaftliche Wohlergehen der Bürger, der Unternehmen und der Banken nehmen, statt die Bürger, die Unternehmen und die Banken zu ermuntern, ihr eigenes Wohlergehen zu besorgen.

Die europäischen Staaten haben auf verderbliche Weise über ihre Verhältnisse gelebt, weil sie dem Staat einerseits zu viele Haftungspflichten übertrugen und andererseits die Aufsichtspflichten des Staates vernachlässigten.

Sie laufen folglich Gefahr, den allgewaltigen Versorgungsstaat zu schaffen.
„Der Euro ist die Grundlage der Europäischen Union, ohne den Euro bricht Europa auseinander.“ So kann man es sinngemäß oder wörtlich auch aus dem Munde namhafter Politiker hören. Ich halte diese Aussage für falsch und für gefährlich. Der Euro ist nie und nimmer die Grundlage der Europäischen Union, noch weniger die Grundlage Europas. Weder Europa noch die Europäische Union sind auf dem Euro oder auf dem europäischen Wirtschaftsraum begründet. Wer so redet, hat die eigentliche Klammer Europas und auch der Europäischen Union nicht hinreichend bedacht.

Warum?

Nicht der Euro, nicht die Wirtschaft sind der Sinn und Zweck der Europäischen Union. Die unterscheidenden Merkmale Europas und auch der heutigen Europäischen Union sind meines Erachtens  die folgenden:

1) Ein stark entfalteter Freiheitsbegriff, nachzuweisen in Griechenland ab etwa dem 6. Jahrhundert v. Christus:

Wir sind selber der Staat, wir sind selber die Macht.“ So sprechen und denken die Bürger der griechischen Gemeinden, die dem Druck des allgewaltigen Versorgungsreiches, dem Druck der Perser standhalten und sich ihm widersetzen.

Bis zum heutigen Tag gibt es diese beiden klar entgegengesetzten idealtypischen Staatsbegriffe: Im  Osten und Süden des Mittelmeeraumes bestimmt noch weitgehend der herrschaftliche, von oben herab verfügende und lenkende Alleinherrscher mit seinen wenigen Getreuen die Geschicke der Bürger. Das antike Perserreich ist die idealtypische Ausprägung, die heute noch bestehenden Diktaturen des Ostens und Südens tragen diese Erbschaft weiter.

Im Norden und Westen des Mittelmeerraumes wollen überwiegend die kleineren Einheiten, die Bürger, die Gemeinden, die kleineren und größeren Nationen ihr Schicksal selbst bestimmmen. Jeder übergeordneten Macht wird mit zunehmender Zurückhaltung, Skepsis und auch Widersetzlichkeit begegnet. Das galt jahrhundertelang für das Römische Reich, das gilt heute für die Europäische Union.

2) Als zweites unterscheidendes Merkmal Europas kann die tiefe kulturelle Prägung durch das Christentum gelten. Alle europäischen Völker sind zwischen dem 4. und dem 11./12. Jahrhundert kollektiv zum Christentum übergetreten. Mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein haben alle europäischen Völker sich als christliche Nationen definiert. Die vorherigen paganen Religionen sind vollständig unterdrückt worden. Judentum und Islam hingegen galten durchweg als Randerscheinungen, die nicht zum Kernbestand Europas gehörten, sondern eher dessen Außengrenzen bestimmten. Judentum und Islam wurden teils verfolgt und unterdrückt, teils als Ausnahmen geduldet, teils vollständig assimiliert. Abwehr des islamischen Unterwerfungsverlangens bestimmte jahrhundertelang Europas Außengrenzen.

3) Als drittes Merkmal für Europa kann die Prägung durch das römische Recht gelten. In allen europäischen Staaten hat sich das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt, ausgehend vom kodifizierten Recht des Römischen Reiches. Die Macht setzt das Recht. Umgekehrt wird Macht durch „gesetztes“, also durch „positives“ Recht kontrolliert.  Macht übt Herrschaft aus und wird durch positives Recht gesichert. Gesetztes Recht wird durch Macht gesichert.

Ein Gegenmodell zur staatlich gesicherten Herrschaft des römisch geprägten Rechts ist zweifellos die Ausübung des Rechts durch geistliche Herrschaft, idealtypisch zu finden in der Scharia. Die islamischen oder sich aktuell  islamisierenden Staaten wenden sich gerade in diesen Monaten erneut der Scharia, nicht dem römischen Recht, als der Grundlage des neu zu definierenden Rechtsrahmens zu. Bezeichnend dafür die Aussage des libyschen Übergangsrates: „Libyen soll ein gemäßigt islamischer Staat werden, in dem die Scharia die Grundlage des Rechts wird.“

Drei Städtenamen stehen für die beschriebene, dreifach ineinander verwobene Prägung Europas:

Athen steht für Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger, aus dem letztlich auch der Gedanke des Nationalsstaates hervergegangen ist.

Jerusalem steht für den scharfen Geltungsanspruch der drei monotheistischen, orientalisch-abramitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, von denen das Christentum sich in Europa durchsetzen konnte.

Rom steht für Recht. Durch Rom wird staatliches Leben zur Spielfläche unterschiedlichster, häufig widerstreitender Ansprüche und Gegenansprüche. Kein europäischer Staat verzichtet auf diesen langfristig angelegten Rahmen der Auseinandersetzung, in dem Absolutheitsansprüche sowohl der Religionen wie auch Machtansprüche der wirtschaftlich Mächtigen ihre Einhegung finden.

Mangelnde Einhaltung von Rechtsnormen auf staatlicher Seite, also Korruption, führt zu Misswirtschaft, Klientelismus und Staatsbetrug: Betrug des Staates an den Bürgern, Betrug der Bürger am Staate.

Hochverschuldete Staaten führen, wie man in diesen Tagen auf niederschmetternde Weise in Griechenland sehen muss, nahezu zwangsläufig zur Entmündigung der Bürger. Sie führen zur Lähmung der Politik.

Athen, Jerusalem, Rom. Die alleinige Konzentration auf die Finanzverfassung wird keinen Ausweg aus der Krise des Europa-Gedankens weisen können.

Athen, Jerusalem, Rom.

Nur in Rückbesinnung auf das Erbe dieser drei symbolisch hochbeladenen Städte wird Europa, wird die Europäische Union sich als kulturell und politisch ernstzunehmende Größe behaupten können.

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Ein Japaner widerspricht nicht: ein einfacher Türke kann den Lauf der Weltgeschichte verändern

 Freiheit, Türkisches, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Ein Japaner widerspricht nicht: ein einfacher Türke kann den Lauf der Weltgeschichte verändern
März 282011
 

27032011460.jpg „Alles, was geschieht, geht mich an“, so sprach’s einmal der alte Goethe und dichtete weiter an seinem West-östlichen Divan und seinem Faust II. Dieser Spruch kam mir heute beim Lesen einer Äußerung des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu in den Sinn – ich finde sie bemerkenswert. Lest, was die FAZ heute auf S. 8 berichtet:

„Ein einfacher Türke, ein einfacher Araber, ein einfacher Tunesier kann die Geschichte verändern. Wir glauben, dass Demokratie gut ist und dass unsere Völker sie verdienen … Was immer in Ägypten, in Libyen, im Jemen, im Irak oder im Libanon geschieht, geht uns alle an.

Demgegenüber erinnere ich mich eines Spruches aus dem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“: Die weise Stimme eines alten Mannes, des Dede der Familie, verkündet da: „Du bist nichts anderes als die Summe aller Menschen, die vor dir gelebt haben und die nach dir leben werden.“

Drei Meinungen,  drei Menschen! Wer hat recht? Goethe, Davutoglu, oder der Dede aus Almanya? S’ist unentscheidbar. Bei Davutoglu höre ich den Urton der Freiheit heraus, in Almanya ging es eher um die Einbettung des einzelnen in ein größeres Ganzes.

Aber hört jetzt noch, was der Japaner Kennosuke Ezawa heute auf S. 29 der Berliner Zeitung sagt. Es scheint ganz mit der „westlichen“ Sicht Davutoglus vom überragenden Rang des „einfachen Menschen“ übereinzustimmen:

„In der westlichen Welt herrscht die Sicht vor, dass ein Individuum eine Welt schaffen kann, die mit Hilfe der Wissenschaft und Technologie aus sich herauswachsen kann. Ein Individuum kann neue menschliche Realitäten schaffen. Diese verborgenen Chancen kann man aber nur nutzen, wenn man lernt, aus sich herauszugehen und eine Welt zu schaffen, die nicht nur einem selbst gehört. Diese Sicht muss den Japanern bewusst gemacht werden.“

Ein Japaner widerspricht nicht : Textarchiv : Berliner Zeitung Archiv

In der japanischen Gesellschaft ist also – laut Kennosuke Ezawa –  das Bewusstsein des tätigen, die Welt zu sich her-stellenden, die Gegebenheiten umbildenden Einzelmenschen nicht vorhanden – es soll geweckt und anerzogen werden. Ein faszinierender Blick in die Unterschiede zwischen „östlicher“ und „westlicher“ Weltanschauung! Bei aller Grobheit, die solchen Entgegensetzungen anhaftet: Was Kennosuke Ezawa sagt, ist keineswegs nur billiger Orientalismus, wie ihn Edward Said seinerzeit so heftig kritisierte. Der von palästinensischen Christen abstammende Said stemmte sich gegen die Entgegensetzung von westlichem Individualismus und östlichem Gemeinschaftsdenken. Er hielt diese Stereotypen für gefährliche Konstrukte der abendländischen Phantasie, die dem Kolonialismus und der Ausbeutung verschwistert seien.

Edward Said mag dies so gesehen haben. Aber Ezawa ist kein Abendländer! Er ist Japaner. Wenn ein Japaner dies sagt, ist es keine bloße Zuschreibung von außen. Ich persönlich halte die vorsichtig-tastende Unterscheidung von „westlich“ und „östlich“ für ein sinnvolles Mittel der Erkenntnis. Schon bei Herodot ist sie da, bei Aischylos auch, in der hebräischen Bibel ebenso.

Und die heutige türkische Kultur? Sie scheint in der Mitte zu stehen – weder eindeutig „orientalisch“, noch eindeutig „westlich“.

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