Hat „eigentlich“ Italien den „2. Weltkrieg“ in Europa begonnen?

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Apr 182013
 

Wenn ich mit russischen Kindern spreche,  belehren sie mich gern, dass der 2. Weltkrieg im August 1941 mit dem Angriff Deutschlands auf Russland begonnen habe. Dass die Sowjetunion („Russland“) am 17. September 1939 Polen angegriffen und überrannt hat, ist im Westen Europas und in Russland noch nicht überall durchgesickert. Der britische Historiker Norman Davies räumte bereits 1996 der These, dass Italien am Karfreitag, 2. April des Jahres 1939, mit seinem Überfall auf Albanien den eigentlichen Auslöser für den europäischen Teil des Weltkriegs geliefert habe, eine gewisse Plausibilität ein. In jedem Fall steht fest, dass bereits seit 1931 in Ostasien eine Kette militärischer Konflikte ausgetragen wurde, die erst im Spätsommer 1945 zu Ende kamen.

Beleg:
Norman Davies, Europe. A history, London 1997, S. 991-998

Eine dritte These über den Auslöser oder den Beginn des 2. Weltkrieges wird bei Historikern diskutiert, die die germanozentrische, ja vor allem die eurozentrische Sichtweise auf den Weltkrieg durchbrechen. Demnach habe der 1935 ins Werk gesetzte Überfall Italiens auf  das damalige Abessinien den 2. Weltkrieg entscheidend ausgelöst. Darüber schreibt Heinrich Oehmsen in der Welt vom 17.04.2013:

„Wir Europäer haben gelernt, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem Überfall der Nazi-Truppen auf Polen begann und am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation Deutschlands endete. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Sozialwissenschaftlern und Historikern, die dieser eurozentrischen Sicht widersprechen.

Für sie hat der Weltkrieg bereits 1935 in Afrika begonnen, als Italien das heutige Äthiopien angriff und 1936 annektierte. In Asien startete Japan im Juli 1937 eine Invasion in China, die bis zum September 1945 andauerte und in deren Folge 14 Millionen Chinesen den Tod fanden.“

via Erschreckende Fakten : Die „weiße Sicht“ auf den Zweiten Weltkrieg – Nachrichten Regionales – Hamburg – DIE WELT.

Eines scheint klar: Bei keinem dieser Angriffe – ob nun den italienischen Angriffen auf Äthiopien und Albanien, den deutschen Angriffen auf Polen oder die Sowjetunion, dem polnischen Angriff auf die Sowjetunion von 1920, den sowjetrussischen Angriffen auf Polen oder die baltischen Staaten von 1939/40 taten die Führer dies im Bewusstsein: „Und jetzt beginnt der 2. Weltkrieg.“ Kriege zwischen den Staaten waren in Europa nach 1919 eine sehr alltägliche Erscheinung, es gab zwischen 1918 und 1939 kein einziges Jahr, in dem nicht irgendwo in Europa ein regional begrenzter Krieg geführt wurde. Etwa ab 1935, spätestens ab 1939 jedoch erweiterten sich die regional begrenzten Kriege zu einem einzigen ineinander verflochtenen Weltkrieg.

Erst nach dem 8. Mai 1945 setzte sich die Meinung durch, dass der 2. Weltkrieg vom 1.9.1939 bis zum 8.5.1945 gedauert habe und dass Deutschland der einzige Schuldige für den „Ausbruch“ des 2. Weltkriegs sei. Dies ist bis heute überall die allgemein anerkannte Deutung, von den Historikern abgesehen.

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„Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“ Eine TBB – Presseerklärung im Original

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Apr 182013
 

TBB – Presseerklärung

18.04.2013

 

 

„Rassismus ist keine Meinungsäußerung, Rassismus ist ein Verbrechen.“
Catherine Trautmann, ehemalige Bürgermeisterin von Strasbourg und Pressesprecherin und Kulturministerin der Regierung Mitterand

 

18.04.2013 – Presseerklärung
UN – ANTIRASSISMUS AUSSCHUSS (CERD) RÜGT DIE BUNDESREPUBLIK IM „FALLE SARRAZIN“

Die Beschwerde des TBB wurde positiv entschieden: Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin verletzt UN-Antirassismus-Konvention

 

Der TBB-Sprecher Hilmi Kaya TURAN erklärte:

 

„Dies ist eine historische Entscheidung. Der CERD-Ausschuss hat festgestellt, dass die Äußerungen Herrn Sarrazins auf einem Gefühl rassischer Überlegenheit oder Rassenhass beruhen und Elemente der Aufstachelung zur Rassendiskriminierung enthalten.
Der CERD-Ausschuss hat festgestellt, dass trotz vorhandener gesetzlicher Bestimmungen Umsetzung der Bestimmungen des Übereinkommens in der Bundesrepublik in der Praxis unzureichend ist. Der Ausschuss hat die Bundesrepublik aufgefordert, entsprechend zu handeln. Außerdem hat der Ausschuss implizit eine entsprechende Schulung der Staatsanwält_innen und Richter_innen empfohlen.  Wir erwarten von der Bundesregierung, dem Bundestag und den Landesregierungen, dass die CERD-Empfehlungen ohne Verzögerung umgesetzt werden.“

 

Vorgeschichte:


Nach dem Interview des Bundesbankers Theo Sarrazin in der Zeitschrift „Lettre International“ im Herbst 2009 hatte der TBB Strafantrag wegen Volksverhetzung und Beleidung bei der Berliner Staatsanwaltschaft gestellt. Das Verfahren wurde aber eingestellt, der Widerspruch blieb erfolglos. Daraufhin wandte sich der TBB an CERD (UN-Antirassismus-Ausschuss). Die Entscheidung des Ausschusses ist am 4.4.2013 erfolgt:
„Der Ausschuss kommt daher zu dem Schluss, dass das Versäumnis einer effektiven Untersuchung …. durch den Vertragsstaat .. eine Verletzung der Konvention (über die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung) darstellt.“


Zusammenfassung der Entscheidung des UN-Anti-Rassismus-Ausschusses (CERD) vom 4.4.2013 aufgrund des Internationalen Übereinkommens vom 21. Dezember 1965/7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt 1969 II 961

 

a. Feststellungen der CERD
– Der TBB ist antragsberechtigt
– Das Sarrazin-Interview verletzt CERD-Bestimmungen
– Der Ausschuss urteilt, dass Herrn Sarrazins Äußerungen eine Verbreitung von Auffassungen, die auf einem Gefühl rassischer Überlegenheit oder Rassenhass beruhen, darstellen und Elemente der Aufstachelung zur Rassendiskriminierung entsprechend der Konvention enthalten.

– Im Sinne der Konvention ist nicht ausreichend, Akte der Rassendiskriminierung lediglich auf dem Papier als strafbar zu erklären. Vielmehr müssen Strafgesetze und andere gesetzliche Bestimmungen, die Rassendiskriminierung verbieten, effektiv von zuständigen nationalen Gerichten und anderen Staatsinstitutionen umgesetzt werden.

– Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass das Versäumnis einer effektiven Untersuchung der Äußerungen Herrn Sarrazins durch den Vertragsstaat (Bundesrepublik Deutschland) eine Verletzung der Konvention dargestellt hat.

– Die fehlende strafrechtliche Verfolgung von Herrn Sarrazin entspricht einer Verletzung der Konvention, da die nationale Rechtsprechung zu eng ausgelegt wurde.

– Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht alle CERD-Bestimmungen in innerstaatliches Recht umgesetzt (§§ 130 Volksverhetzung & 185 Beleidigung StGB werden nicht entsprechend der Konvention angewandt)
– Die staatlichen/judikativen Instanzen setzen die Gesetze nicht gemäß den CERD-Bestimmungen um

b. Empfehlungen der CERD
– Der Vertragsstaat ist angehalten, die Entscheidung des Ausschusses breit bekannt zu geben, auch unter Staatsanwälten und Justizorganen.

– Der Ausschuss empfiehlt, dass der Vertragsstaat im Sinne seiner Verpflichtungen seine Richtlinien und Verfahren im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verfolgung in Fällen angeblicher Rassendiskriminierung überprüft, die in der Verbreitung von Auffassungen besteht, die auf einem Gefühl der rassischen Überlegenheit oder Rassenhass beruhen sowie in der darauf basierenden Aufstachelung zur Diskriminierung.
– Die Bundesrepublik soll ihre Richter_innen und Staatsanwält_innen im Sinne der CERD-Bestimmungen schulen

c. Der Ausschuss verlangt, innerhalb von 90 Tagen vom Vertragsstaat über die Maßnahmen informiert zu werden, die er unternimmt, um die Entscheidung des Ausschusses umzusetzen.


Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.“
Aus der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt, 23. Februar 2012 in Berlin

 

StGB

§ 130 Volksverhetzung
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. Schriften (§ 11 Absatz 3), die zum Hass gegen eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder ihre Menschenwürde dadurch angreifen, dass sie beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden,
a) verbreitet,
b) öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht,
c) einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überlässt oder zugänglich macht oder
d) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Buchstaben a bis c zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, oder
2. eine Darbietung des in Nummer 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste verbreitet.
(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.
(4) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.
(5) Absatz 2 gilt auch für Schriften (§ 11 Abs. 3) des in den Absätzen 3 und 4 bezeichneten Inhalts.
(6) In den Fällen des Absatzes 2, auch in Verbindung mit Absatz 5, und in den Fällen der Absätze 3 und 4 gilt § 86 Abs. 3 entsprechend.

§ 185 Beleidigung
Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.


LINKS

Entscheidung des CERD (UN-Antirassismus-Ausschuss) vom 4.4.2013 im englischen Original

Durch den TBB vorgenommenen Übersetzung der Entscheidung (Nummern 11.1 bis 15./Ende)

Internationales Übereinkommens vom 21. Dezember 1965/7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung

Erklärung des Deutschen Instituts für Menschenrechte  

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Nicht die „traditionellen Familienmodelle“ leiden, die Kleinstkinder leiden, wenn Mama fehlt!

 Kinder, Mutterschaft  Kommentare deaktiviert für Nicht die „traditionellen Familienmodelle“ leiden, die Kleinstkinder leiden, wenn Mama fehlt!
Apr 182013
 

Interessant! Niemand spricht von dem, was den kleinsten und kleinen Kindern fehlt, wenn Frauen bewusst in die Karriereschiene, in die Vollzeitberufstätigkeit und in die Spitzenpositionen gedrängt werden.

Niemand spricht von dem, was Kinder brauchen, um eine glückliche Kleinstkindheit zu verleben.

Ich bin überzeugt: Die Nähe der leiblichen Mutter ist in den ersten Lebensmonaten für das neugeborene Kind unendlich wichtig.

Aufgabe und Verantwortung des Vaters – oder ersatzweise des Umfeldes, der Gesellschaft – ist es, den Müttern und Kindern in den ersten Lebensmonaten ein gesichertes Umfeld zu schaffen, in dem die Mutter für das Kind jederzeit in Ruf- oder Fühlbereitschaft ist. Das Kind braucht in den ersten Lebensmonaten die möglichst umfassende Nähe der leiblichen Mutter – mehr als die Nähe des Vaters.

Frauen, die nicht Mütter werden oder werden können oder werden wollen, erfahren heute bereits keine echte Diskriminierung, wenn sie sich um Spitzenpositionen bewerben. Das ist sogar statistisch nachweisbar.

DARÜBER sollte man mal reden. Es wird aber stets unterschlagen.

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Frauenquote im Bundestag: Was spricht dafür, was dagegen? – SPIEGEL ONLINE – KarriereSPIEGEL.

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Es zählt letztlich … der Mensch und seine Liebe zur Wahrheit

 Das Gute, Friedrichshain-Kreuzberg  Kommentare deaktiviert für Es zählt letztlich … der Mensch und seine Liebe zur Wahrheit
Apr 182013
 
Den aus dem tiefkatholischen bayerischen Aschaffenburg stammenden Bürgermeister Franz  Schulz, den ich des öfteren erlebt habe, halte ich für einen im Grunde seines Herzens absolut redlichen Menschen. Sehr oft habe ich bemerken können, dass er sich – im Zweifel hin- und hergerissen – dafür entschied, die – oft unbequeme – Wahrheit zu sagen, statt anderen (etwa seiner eigenen Partei) nach dem Munde zu reden.  So hatte er die Lauterkeit, in bestem Französisch zu sagen, dass das von seiner Partei geforderte System der Mietpreisbegrenzungen nicht funktionieren kann. Er hatte vor wenigen Wochen – ausweislich des offiziellen Protokolls – mitten in der BVV den Mut, zustimmend aus dem Neuen Testament zu zitieren und gewissermaßen der CDU als im Grunde christlich geprägter  Demokrat die Leviten zu lesen: „Was ihr im Kleinen tut, das habt ihr mir getan.“ Er änderte damit sogar den überlieferten Wortlaut dieser Botschaft Jesu eigenständig ab. Unvergesslich ist mir auch der Werbespot aus dem letzten Wahlkampf, in dem er sich auf den Weg machte zu einem jungen Mann, der aus meiner Kreuzberger Nachbarschaft stammen könnte – oder auch stammte – und ihn herzlich begrüßte. All das bringt mich zu meiner Überzeugung: Er wollte und will im Grunde seines Herzens das Gute für alle Menschen in seinem Bezirk! Dass es bei uns so viele Missstände gibt wie in anderen Bezirken Berlins auch, ist ihm persönlich nicht anzulasten, im Gegenteil! Und so wünsche ich ihm sehr viel Gutes, vor allem auch eine bessere Gesundheit.

Bezirksbürgermeister Franz Schulz: Im August ist Schluss in Friedrichshain-Kreuzberg | Berlin – Berliner Zeitung.

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Der Mann aus den Brennnesseln der 68er Generation: Kai Ove Knausgård

 1968, Das Gute, Gedächtniskultur, Kinder, Liebe, Parkidyllen, Vaterlos, Verdummungen, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Der Mann aus den Brennnesseln der 68er Generation: Kai Ove Knausgård
Apr 172013
 

2013-04-09 17.20.26

Karl Ove Knausgård erweist sich in seinem Buch „Lieben“ als ein typischer Vertreter meiner Generation:

Wir sind so cool, wir sind so belesen, es hat uns von frühester Kindheit an nichts Materiellem gefehlt, wir haben immer reichlich Zeit gehabt, unsere Liebschaften und Hobbies zu pflegen. Wir sind gegen Hitler, wir sind gegen die Diktatur, wir sind gegen das Unrecht dieser Welt, wir wollen das Gute – wir halten uns für grundsätzlich gute Menschen. Wir halten uns für grundsätzlich bessere Menschen als unsere Eltern es je waren und unsere Kinder je sein werden. Wir sind fest überzeugt, dass kein Mensch illegal ist. Wir sonnen uns im Lichte unserer moralischen Überlegenheit, da wir nie an Massenmorden beteiligt waren. Die Kirche haben wir im Alter von 16 oder höchstens 24 Jahren verlassen. Wir führen die Mülltrennung durch und lernen Türkisch, damit die armen Migranten sich bei uns endlich endlich angenommen fühlen. Wir sind für Klimaschutz und für Umweltschutz, wir sind für Meinungsfreiheit und Menschenrechte, wir sind gegen Krieg und gegen Hunger, gegen Klimawandel, gegen Zwangsräumungen und für Chancengerechtigkeit.  Wir fahren Rad statt Auto.

Und doch? Stimmt etwas nicht?

Ja. Etwas stimmt in unserer moralischen Buchhaltung nicht. Unsere Generation hat kein einziges großes Projekt gestemmt.  Wir haben die Häuser von unseren Eltern schlüsselfertig übernommen, aber uns fehlen die Kinder, denen wir sie weitergeben könnten. Unsere Gesellschaften schrumpfen, die Städte in den flachen Landschaften verfallen. Ganze Wohnviertel werden in Zwickau und Gera abgerissen, während wir in Berlin die urbane Nachverdichtung mit staatlichen Zuschüssen fordern. Die Provinz stirbt. Wir haben keinen Krieg miterleben müssen, aber wir rümpfen die Nase über unsere Eltern, die im Muff der Adenauer-Jahre befangen waren. Wir sind stolz auf die Errungenschaften der 68er, aber etwas Besseres als das Grundgesetz hat keine nachfolgende Politikergeneration hervorgebracht. Wir lehren unsere Kinder keine Lieder mehr. Wir rümpfen die Nase über die klerikal geprägten Südstaaten, aber wir lassen die südlichen Bundesländer alle Kosten unseres Schulversagens und des Umweltschutzes fast allein tragen. Das Schwierigste und Lohnendste, das zwei Erwachsene zustandebringen können, nämlich lebensfrohe, verantwortliche, dem Guten verpflichtete Kinder zu erwachsenen Menschen heranzubilden, gelingt uns immer weniger. Rein demographisch und rein statistisch gesehen sind wir als Generation große Versager. Wir sind Meister darin, die Hand hinzuhalten. Wir sind schlecht darin, selber Hand an den Spaten anzulegen, bleibende Projekte zu schaffen, statt nur neue Handys in Empfang zu nehmen.

Unsere eigenen Kinder wachsen ohne Leitbild auf. Wir sind ihnen kein Vorbild. Ungefähr 2000 Jahre Kultur werfen wir zu den Brennnesseln. Alles, was vor 1980 geschaffen worden ist, durchforsten wir eifrigst auf untrügliche Beweise des Rassismus, des Kolonialismus, des unaufgeklärten Bewusstseins, des Ewiggestrigen, des Sexismus. Sigmund Freud – ist ein Rassist. Heinrich Heine – ist uns ein unerträglicher Schwulenfeind. Günter Grass – ein verkappter Nazi und Werwolf. Heinrich Böll ist uns ein unverbesserlicher Evangelikaler, der immer noch an Gott und an Jesus und Maria glaubte und in der Rückbesinnung auf die Bibel das Menschliche in der Trümmerlandschaft Kölns wieder einzurenken versuchte. Über den amtierenden Bundespräsidenten brachen wir alle Stäbe. Vor unserem untrüglichen Strafgerichtshof hat niemand Bestand, der 1945 älter als 5 war. Die Älteren und die Eltern, das sind die Würdelosen, die es nicht so weit gebracht haben wie wir.

Wir sind die Würdelosen, die nichts anerkennen und nichts gelten lassen. Wir sind die Lieblosen.

Das ist ungefähr der Ausgangspunkt in der großen Gewissenserforschung des 1968 geborenen norwegischen Autors.

Karl Ove Knausgård: Lieben. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Verlag, München 2012

Bild: Das Idyll unserer Werte auf dem Kreuzberger Oranienplatz, aufgenommen vor einer Woche

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Mann, kapier es doch endlich: „Die Hälfte des Kuchens den Frauen!“ UND: „Die Wirtschaft braucht mehr Frauen im Arbeitsmarkt!“

 Antike, Familie, Frau und Mann, Platon, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Mann, kapier es doch endlich: „Die Hälfte des Kuchens den Frauen!“ UND: „Die Wirtschaft braucht mehr Frauen im Arbeitsmarkt!“
Apr 162013
 

2013-04-12 18.49.27

Die Häfte des Kuchens den Frauen! Symbolisch verteilten VertreterInnen des Kreisverbandes und der Fraktion im Bezirk Bio-Kuchen und Infomaterial zum Thema. „Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Frauen in Deutschland immer noch strukturell benachteiligt“, sagt Annika Gerold, Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses. „Sie sind deutlich häufiger Opfer häuslicher und sexueller Gewalt, sie haben ein erhöhtes Armutsrisiko, sie machen seltener Karriere und verdienen – trotz besserer Ausbildung –weniger als Männer.“  Ganze 22 Prozent liegt ihr Gehalt im Durchschnitt  unter dem ihrer männlichen Kollegen. Deutschland ist damit im EU-Vergleich trauriges Schlusslicht. In diesem Jahr war der 21. März Equal Pay Day: Der Tag, an dem Frauen das durchschnittliche Jahreseinkommen der Männer im Jahr 2012 erreicht haben.“ Fraktion und Kreisverband informierten an einem mobilen Info-Stand zum Thema Geschlechtergerechtigkeit.“

Wir zitierten aus dem Grünen Newsletter Xhain vom März 2013.  Spannend!

Eine Rückkehr zu den uralten Einsichten eines Platon (4. Jahrhundert vor Christus) verzeichnen wir in diesen Jahren bei vielen unserer politisch aktiven Frauen und Männer. Bereits Platon kam bekanntlich nach beharrlichem Nachdenken im 5. Buch seiner Politeia zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen schlicht auf Setzung und Satzung (wie das die Sophisten nannten), also auf der Konstruktion der Genderpolitik (wie wir heute sagen würden) beruhe. Rein philosophisch betrachtet, rein rational betrachtet konnte Platon aus der Sicht der vollkommenen Gerechtigkeit keinen Wesensunterschied zwischen Männern und Frauen anerkennen. Allerdings leugnete Platon nicht, dass Frauen im sportlichen Wettkampf grundsätzlich von Natur aus benachteiligt seien. Er hätte also sicherlich nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn Männer und Frauen in getrennten Fußball-Ligen auflaufen, wie es ja auch heute noch der Fall ist.

Folglich fordert Platon bereits im 4. Jahrhundert vor Christus  die absolute Quotierung aller Ämter für Männer und Frauen. Der Staat, die Wirtschaft und das Heer brauchen bei Platon Männer UND Frauen gleichermaßen. Frauen und Männer haben Anspruch auf den gleichen Rang, die gleichen Ämter, die gleichen Stellungen in Politik, Heer, Wirtschaft und Staat.

Das Problem der Geburt und der Kindererziehung löst Platon durch völlige Auflösung der Ehe und der Familie. An ihre Stelle treten staatlich beauftragte Leihmütter und staatlich beaufsichtigte Ammen. Der platonische Staat übernimmt im Vorgriff auf die großen staatlichen Menschenzucht-Experimente des 20. Jahrhunderts (Leninismus, Stalinismus, Hitlerismus, Maoismus) Zuchtwahl, Zeugung und Babypflege.

Warum konnte Platon sich nicht durchsetzen? Hier dürfte ein geschichtlicher Umstand bedeutsam sein: Sowohl das Imperium Romanum als auch die drei ehedem Europa prägenden Religionen – also Judentum, Christentum und Islam – sind und waren unerschütterlich in ihrem Glauben, dass Männer und Frauen nicht nur biologisch, sondern auch der „Bestimmung“ nach unterschiedlich seien. Die Römer erkannten recht bald, dass der Haushalt (also die familia, wie das lateinisch genannt wurde), dass die Familia als kleinste wirtschaftliche Einheit den ganzen komplizierten Mechanismus des öffentlichen Lebens und des Imperiums am besten stützt: insbesondere durch die Zeugung und Erziehung der Kinder, die nach fester Überzeugung der Römer in den ersten 3 oder4 Lebensjahren unbedingt im häuslichen Wirkungskreis (in der familia) betreut werden sollten, ehe sie dann zum Schulmeister geschickt werden sollten.

Jeder Staat, jede Volkswirtschaft braucht eine ausreichende Anzahl an nachwachsenden Arbeitskräften, an Kindern also, sofern man den Bedarf nicht mindestens teilweise durch importierte Sklaven befriedigt, wie das in der Antike gang und gäbe war.  Für Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Erziehung der allerkleinsten Kinder muss also stets ein erheblicher Anteil der Lebenszeit der Frauen aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt herausgehalten werden, sofern man nicht alle Kinder von Anfang in zentralen Kinderbetreuungseinrichtungen aufziehen lässt.  Jedes einzelne Kind beansprucht dann die Mutter für mindestens 1 Jahr, und da statistisch zum Erhalt der Bevölkerung jede Frau 2,1 überlebende Kinder zur Welt bringen muss, steht aus natürlichen Gründen die Mutter dem Arbeitsmarkt nicht uneingeschränkt zur Verfügung. Sie steht übrigens auch ihrer eigenen Karriere nicht uneingeschränkt zur Verfügung.

Ganz im Gegenteil ist es immer wieder zu beklagen, dass gut ausgebildete, beruflich erfolgreiche Frauen, sobald sie Mütter geworden sind, bekennen: „Mir ist das gemeinsame Glück mit meinen Kindern und meinem Mann viel wichtiger als die eigene Karriere. Ich verzichte gern auf eine Fortsetzung meiner Karriere. Kleine Kinder habe ich nur wenige Jahre, diese 5 oder 10 Jahre will ich aber auch genießen! Mir ist es wichtiger, dass es den Kindern gut geht, als dass wir uns ein Auto oder einen Urlaub leisten können. Es ist mir auch komplett egal, ob 10% oder 50% aller Straßennamen in Friedrichshain-Kreuzberg nach Frauen oder nach männlichen Generälen benannt sind. Keine Stunde des Glücks meiner Kinder würde ich für die Straßenumbenennungs-Ausschuss-Aktivitäten opfern.“

Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung führen also genderpolitisch häufig bei Frauen zu ungeahnten Störfällen! Diese armen Frauen halten das Glück der Kinder für wichtiger als das Glück, in einer gendergerechten Gesellschaft mit angemessenen Partizipationsmöglichkeiten für alle zu leben.  Diese Mütter und diese Väter  opfern also das Ideal der perfekt durchquotierten Gesellschaft auf dem Altar der Kinder in Fleisch und Blut. Das Glück ihrer eigenen, bereits geborenen Kinder steht diesen Müttern und Vätern über dem Glück der vollkommenen Gerechtigkeit, der vollkommenen Gender-Gleichheit, welches später einmal ihren noch zu gebärenden Kindeskindern zugute kommen würde! Sie räumen dem Glück der Familie Vorrang vor der absoluten Gerechtigkeit ein! Mit solchen Männern und Frauen  ist aber der Idealstaat, wie er Platon und auch Marx, Lenin,  Stalin und Mao vorschwebte, nicht zu erringen!

Verheerend war und ist auch der Einfluss der großen Religionen! Judentum, Christentum und Islam  denken in ihren Forderungen an ein sittlich gutes, gelingendes  Leben ja bekanntlich nicht von den Bedürfnissen des Staates her, sondern von den Bedürfnissen des einzelnen Kindes, letztlich des einzelnen Menschen. Die Glückseligkeit des einzelnen Menschen setzen sie höher als das Glück des perfekten Staates, das Glück der perfekten Volkswirtschaft! Jedes kleine Kind sollte – so sagen es diese Religionen – eine tiefe, unzerstörbare  Mutter- und Vatererfahrung haben. So ist es die tiefe Überzeugung der genannten drei gesellschaftsprägenden Religionen. Diese Sichtweise vom Vorrang der Familie vor dem Staat, vom Vorrang des Menschen vor der Wirtschaft setzte sich über die Jahrtausende hinweg stets durch.

Erst in unseren Tagen – beginnend von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts – kippt das – wie schon damals zu Platos Zeiten! Selbst in der CDU und neuerdings auch in der EU-Fraktion der Liberalen beginnt sich endlich – 2500 Jahre nach Platon! – die Einsicht durchzusetzen, dass die Politik den Unternehmen und den Familien vorzuschreiben habe, wie sie das Ideal der Gender-Gerechtigkeit umzusetzen haben – und zwar spätestens ab 2020. Wir hatten jetzt nur 2% Zuwachs der Frauenquote pro Jahr in den Aufsichtsräten DAX-notierter Unternehmen! Skandal.  Wenn die Familien und die Unternehmen so dumm sind, den Idealvorschriften  der Politik nicht bzw. viel zu langsam zu folgen, dann muss man den Familien und den Unternehmen eben auf die Finger hauen!

http://www.tagesspiegel.de/politik/kompromiss-bei-der-union-cdu-verstaendigt-sich-auf-frauenquote-nach-2020/8067888.html

Die Häfte des Kuchens den Frauen!“ Gleicher wirtschaftlicher Erfolg jeder einzelnen erwachsenen, voll arbeitsfähigen Person, perfekt quotierte Anteile für Männer und Frauen gelten nun wie schon bei Platon im 4. Jahrhundert vor Christus als der absolute Maßstab. Eine Gesellschaft, in der die Frauen nicht die Hälfte des Anteils an gesellschaftlicher Macht, an finanzieller Kraft und wirtschaftlichem Einfluss haben, gilt per se als ungerecht.

Hieraus ergibt sich: Solange die schreiende Ungerechtigkeit der ungleichen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen nicht beseitigt ist, werden die Frauen keine Kinder in die Welt setzen können, sondern lieber demonstrieren, politisieren und für einen 50%-Anteil an den Straßennamen in Friedrichshain-Kreuzberg kämpfen.

Sehr schön auch die Herausarbeitung des demographischen Arguments bei Silvana Koch-Mehrin (FDP): Da Deutschland seit Jahren viel zu wenig Kinder hat, um den eigenen Lehrstellenmarkt zu befriedigen oder die eigenen Alten und Dementen zu pflegen, werden nicht etwa die Familien ermuntert, mehr Kinder in die Welt zu setzen, nein, es wird gerade das Gegenteil gefordert und gefördert: Noch mehr Frauen sollen möglichst unterbrechungslos in Vollzeit arbeiten, noch mehr Frauen müssen vorrangig der Wirtschaft zur Verfügung stehen! Frauen, die keine qualifizierte Arbeit haben, finden ausreichend politische Mandate, um in Aktionen, Demonstrationen und Ausschüssen für die Hälfte des Kuchens zu kämpfen.

Am Wochenende protestiert man und frau zusätzlich gegen den längst eingetretenen Tod einer möglicherweise von allen Verwandten und Freunden nicht hinreichend betreuten alten Frau, deren Tod dann in unverantwortlicher Weise den herzlosen Behörden oder gar der Gentrifizierung angelastet wird. Hier ist zu sagen: Alte, verwirrte, behinderte, schwerkranke Menschen werden nie durch Behörden oder staatliche Stellen alleine zu retten sein, sondern nur durch geduldige, liebevolle Zuwendung einzelner Menschen.

„Die Wirtschaft braucht in einer älter werdenden Gesellschaft mehr qualifizierte Frauen im Arbeitsmarkt.“

via FDP-Europapolitikerin Koch-Mehrin fordert Zustimmung zur Frauenquote – SPIEGEL ONLINE.

Für Kinder, unbesetzte Lehrstellen in Deutschland und pflegebedürftige Alte in Deutschland werden bereits jetzt ausländische Arbeitskräfte händeringend angeworben, sofern nicht die Verschickung unserer Alten in ein Rentnerparadies (Thailand, Indonesien) erwogen wird.

Alles Illusionen, wie ich meine! Die völlige Angleichung der Männer- und Frauenrollen hat schon im antiken Sparta und bei Pippi Langstrumpf – und auch in Wagners Ring des Nibelungen – nicht funktioniert, sie wird auch bei uns ins Elend und zur weiteren Aushöhlung der Familien führen, vor allem dann, wenn sie durch die Politik von oben herab durchgedrückt wird.

Was würde der oben auf dem Bild zu sehende, kürzlich vom Volk der Franzosen zum beliebtesten Franzosen gewählte Omar Sy wohl zu der ganzen heillosen genderpolitischen Verwirrung von uns Deutschen sagen?

Zitieren wir doch seine merkwürdige, seine unerhört kühne Aussage zum Sinn des Lebens: „Ich möchte vor allem ein guter Ehemann und Vater sein.“

Omar Sy erwartet also nicht, dass die Politik ihn glücklich macht, wie es neuerdings ganz offen unsere Marina Weisband fordert, sondern er verlangt von sich, dass er zunächst seine Familie glücklich macht, so wie sie ihn glücklich gemacht hat.

Omar Sy, der gläubige Mensch – ein hoffnungsloser Fall?

Nein! Ich stimme ihm zu. Er ist vorbildlich für die sittliche Grundausrichtung der Menschen. Die deutschen Politiker, wir alle können sehr viel von Menschen wie Omar Sy lernen.

http://www.tagesspiegel.de/kultur/marina-weisband-im-interview-bild-leser-koennen-auch-lesen/7948230.html

 

 

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„… hier wird niemand überwältigt“: Beethovens Streichquartett op. 18, Nr. 1

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Apr 152013
 

Im Anschluss an den gestrigen Beitrag entspann sich folgendes Gespräch mit einem Leser:

„Also können Sie, wenn ich Sie recht verstanden habe,  mit dem menschheitsumgreifenden Pathos eines Beethoven, eines Friedrich Schiller nichts anfangen?“

„In der Tat bleibt ein gewisser Grundverdacht bestehen, sobald ich den Schlusschor aus Beethovens 9. Symphonie höre. Nicht umsonst hat ja die Europäische Union genau diese Melodie als ihre Hymne gewählt. Eine Hymne ohne Text! Etwas Herrisches, Hochfahrendes haftet der ganzen 9. Symphonie in d-moll an, insofern vergleichbar der von oben herab verfügten Einführung der Gemeinschaftswährung. Wer alle liebt, liebt im Grunde keinen, vor allem dann, wenn er diesen Glauben an die Liebe zu allen mit größtem Aufwand bekennt.  Niemand kann heute in Worten angeben, was der Sinn der Europäischen Union ist.“

„Sind Sie ein Euro-Skeptiker? Also verwerfen Sie Beethoven?“

„Nein, ganz im Gegenteil! Ich liebe ihn sehr, so wie vielleicht nur 5 oder 6 andere Komponisten. Ich empfinde großes Mitleiden mit ihm, wenn ich die 9. Symphonie höre. Allerdings ziehe ich derzeit bei weitem einige seiner Streichquartette den Symphonien vor…“

„Welche Streichquartette meinen Sie?“

„Ich meine insbesondere die Streichquartette op. 18, hier wiederum das 1. Quartett in F-dur, und in diesem wiederum den 2. Satz, das Adagio affettuoso ed appassionato.“

Wir hören eine Klangprobe in der Darbietung durch das Artemis Quartett, dem wir damals bereits in Fleisch und Blut im Kammermusiksaal der Philharmonie lauschen durften, worüber wir am 28.01.2009 berichteten:

Ludwig van Beethoven: Sämtliche Streichquartette (Artemis Quartett) (7 CDs) – jpc.

Vierklang. Artemis. Anfang. Eine Suche

„Hören Sie nicht den ruhig und unablässig pulsierenden, den gleichschwebenden d-moll-Herzschlag in den Begleitstimmen? Hören Sie, wie sich hier in Violine I ab Takt 2 aus dem pianissimo heraus ein Gesang an die Eine erhebt, das Beschwören der einzigen und Einen, der das „edelste Herz“ sich verschreibt? Alle vier Stimmen treten frei zusammen, alle Stimmen sind durchhörbar, hier wird niemand überwältigt und erschlagen!“

„Also hören Sie in diesem Quartettsatz die Stimme des freien Menschen, der in voller Freiheit liebt und zugrunde geht?“

„So ist es. Hier gelangt der Einzelne zu sich und zu seinem Anrennen gegen die Begrenztheit. Hier findet er zu dem einen, zu der anderen im — Tode. Man könnte an die Zeilen Romeos für die gestorbene Julia denken:

O my love! my wife!
Death, that hath suck’d the honey of thy breath;
Hath no power yet upon thy beauty:
Thou art not conquer’d; beauty’s ensign yet
Is crimson in thy lips and in thy cheeks,
And death’s pale flag is not advanced there.

„Shakespeares Gruftszene frei zitiert! Sie beeindrucken mich! Was würde wohl Beethoven zu Ihrer Deutung sagen?“

„Ich bin zuversichtlich, dass er ihr zustimmen würde. Er würde sich möglicherweise verstanden fühlen – sowohl in meinem tiefen Grundvorbehalt gegenüber der eigentlich menschen-unmöglichen 9. Symphonie wie auch im Lobpreis seiner frühen Streichquartette opus 18.“

„Was raten Sie angesichts der Krise?“

„Hören wir die freien Stimmen! Mehr Streichquartette opus 18 – weniger 9. Symphonie!“

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Liebe zur Menschheit oder Liebe zum Einzelnen?

 Fernstenliebe, Friedrich Schiller, Goethe, Liebe, Philosophie, Psychoanalyse  Kommentare deaktiviert für Liebe zur Menschheit oder Liebe zum Einzelnen?
Apr 142013
 

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Das zutiefst Ungerechte der Liebe zum Einzelnen war den Philosophen oftmals ein Dorn im Auge. Montesquieu, so sahen wir vor wenigen Tagen, erwartet von der wahrhaft philosophischen Tugend eine gleichmäßig abstrahlende Hinwendung und Hilfeleistung. Tugendhafte Nächstenliebe, die Auswahl und  Bevorzugung im Erbarmen liefert, ist laut Montesquieu nicht vollkommen tugendhaft zu nennen!

Der große Dichter dieser allgemeinen, der menschheitsumfassenden Liebe ist Friedrich Schiller. Seine Hymne An die Freude – von Beethoven im Schlusschor der 9. Symphonie vertont – ist eine unüberbietbar pathetische Anrufung des universalen Bandes der Sympathie, das alle Wesen zusammenschlingt.

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!

Einen deutlich begrenzteren, einen anderen Ton schlug Goethe in seinen Urworten. orphisch an.Er scheint hier direkt auf Schiller zu antworten:

Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

Das ungesteuert Planlose, das letztlich Unverhoffte und Unverdiente der Liebe fasst Goethe sehr treffend. Liebe ist nicht etwas, was wir verdienen, wie das Ich Freuds es verlangt, sondern etwas, was uns entgegenkommt, etwas, was sich auf uns stürzt. Wenn sie gelingt, gar erwidert wird, sprechen wir von Gnade, wenn sie unerwidert bleibt, von Entbehrung und Leiden.

Sehr schön auch, wie Goethe hier das Androgyne, die Geschlechter Überspringende der Liebe fasst – SIE, denn wir sagen DIE Liebe. Und doch ER, denn es heißt DER Eros. In dieser Doppeltheit herrscht ein höheres Vorwaltendes, das die tiefe Vereinzelung des Menschen zu überwinden verheißt.

Ερως, Liebe

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

via Goethe, Johann Wolfgang, Theoretische Schriften, »Urworte. Orphisch« – Zeno.org.

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Apr 132013
 

2013-03-25 14.01.41

„Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!

Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern.“

Also sang und summte einst Nietzsches Zarathustra. Ein klarer, schlagender Gegenentwurf zum Gebot der mosaischen Nächstenliebe, welches mehr oder minder abgewandelt dann auch im Christentum und im Islam weitergeführt wird!

Szenenwechsel!

„Wir steigen ALLE am Bahnhof Blissestraße aus! Jeder kümmert sich um sich selbst und seinen Nebenmann!“ So hörte ich mit lauter, angestrengter Stimme eine Lehrerin vor wenigen Wochen in der U7 zwischen Kleistpark und Berliner Straße ansagen. Die U7 war auch sehr voll, wie sonst hätte man sichern können, dass alle Schüler rechtzeitig ausstiegen? Mich brachte diese Ansage zum Nachdenken.

Jeder kümmert sich um sich selbst und seinen zufälligen Nebenmann!“ Diese Ansage der Berliner Grundschullehrerin, deren Zeuge ich zufällig wurde, scheint mir eine vollkommen alltagstaugliche Erklärung dessen, was zunächst und zumeist unter „Nächstenliebe“ gemeint ist. Die erste Hilfe, die der barmherzige Samariter leistet, ist nur ein mögliches Beispiel der Nächstenliebe. Nächstenliebe ist zunächst einmal etwas scheinbar Alltägliches, Triviales.

Die biblische Nächstenliebe ist im engeren Sinne keine „Liebe“ zu einem bestimmten einzelnen, sondern eine Grundhaltung der wechselseitigen Anteilnahme und Anerkennung, der wechselseitigen Solidarität und Fürsorge. Nächstenliebe ist kein Ding der Unmöglichkeit, sondern ein „leichtes Joch“ der Sorge für den Menschen und des Für-andere-Sorgens.

Von einer engeren persönlichen Beziehung zwischen dem Samariter und dem Verbrechensopfer ist bei Lukas keine Rede. Die Nächstenliebe beweist und bekräftigt sich in Handlungen, nicht in Bekenntnissen und nicht in Gefühlsausbrüchen.

Eine grandiose Verkennung, eine fulminante Missdeutung der biblischen Nächstenliebe liefert übrigens mein wirklich hochverehrter Sigmund Freud, den ich als einen der besten deutschen Schriftsteller und Geschichtenerzähler fast ebenso stark verehre und liebe wie den Autor des unsterblichen Romans „Josef und seine Brüder“.

Im Kapitel V seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ drückt Freud sein tiefes Befremden über die Forderung „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ aus.

Warum sollen wird das? Was soll es uns helfen? Vor allem, wie bringen wir das zustande?“

So schüttelt Freud den Kopf. Das Gebot der Nächstenliebe erscheint ihm als etwas nahezu Übermenschliches, etwas der Menschennatur Zuwiderlaufendes, etwas im Grunde nicht Leistbares. Warum? „Wenn  ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen.“

Freud nimmt Anstoß am Gebot der Nächstenliebe, weil er es missversteht. Er hält das Gebot für unerfüllbar. Warum? Er setzt die „Nächstenliebe“, also das Sich-Kümmern um den Nächsten, mit der exklusiv wählenden Liebe zwischen Erwachsenen oder mit der natürlich sich einstellenden Liebe zwischen Eltern und Kind, zwischen Verwandten gleich. Doch genau das ist meines Erachtens nicht gemeint.

Die biblische Nächstenliebe Jesu ist nicht wählerisch, nicht auf Verwandtschaft, Leidenschaft oder Zugehörigkeit begründet, sie erstreckt sich gleichermaßen auf Gut wie auf Böse, auf Fremde wie auf die „eigenen Leute“.

Eine Spielart der Nächstenliebe ist übrigens, so meine ich, die gleichschwebende Aufmerksamkeit des zuhörenden Psychologen, das bedingungslose Annehmen des Nächsten, der eben in diesem Fall der Patient oder Klient ist. Auch wird der Psychoanalytiker nicht davon ausgehen, dass der Klient sich die Zuwendung oder „Nächstenliebe“ des Analytikers verdienen müsse. Und ebenso wenig wird der Analytiker unterscheiden zwischen den „guten“ und „bösen“ Anteilen der Erzählung.

Drei Beispiel für Nächstenliebe haben sich unserem Auge dargeboten:

1) Die Hilfe des zufällig vorbeikommenden barmerzigen Samariters für das Opfer der Straßenräuber
2) Das gegenseitige Aufeinander-Achten der Grundschüler in der U7 beim Aussteigen in der Blissestraße
3) Das bedingungslose Zuhören des Therapeuten in der Gesprächstherapie

Der Nächstenliebe haftet also im Gegensatz zur leidenschaftlichen Liebe zu Einzelnen stets etwas Zufälliges an, sie wird ohne Vorbedingungen geleistet, sie bedeutet keine Selbstaufopferung, sie fordert keinerlei emotionale Vorleistung, die der Gebende nicht zu geben bereit ist.

Niemand muss um der Erreichung eines höheren Ideals willen im Namen der Nächstenliebe ein übergroßes Opfer bringen. Sie ist kein Ding der Unmöglichkeit.

Sie ist das „leichte Joch“, das zu tragen durchaus zumutbar ist.

Zitate:

Friedrich Nietzsche: „Von der Nächstenliebe“, in: Also sprach Zarathustra: Die Reden Zarathustras, hier zitiert nach Projekt Gutenberg online:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/3248/27

Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Sigmund Freud: Werkausgabe in zwei Bänden. Band 2: Anwendungen der Psychoanalyse. Herausgegeben und mit Kommentaren versehen von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1978, S. 367-424, hier v.a. S. 398-399

„Das leichte Joch“: Matthäus-Evangelium Kapitel 11, 30
„Gleichnis vom barmherzigen Samariter“: Lukas-Evangelium Kapitel 10, 25-37

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Wenn Blicke mehr als Worte sagen

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Apr 122013
 

Gutes, gesammeltes Zuhören, ernstes Ringen um gemeinsame Einsicht, um das gute verbindende Wort bei Anne Will am 24.03.2013! Gesine Schwan, Jürgen Trittin, Edmund Stoiber, Nikolaus Blome und Anne Will lauschen im besten Sinne hellhörig, unverwandten Blicks mit beredten Mienen und buchstäblich offenen Ohrs und offenen Mundes den Ausführungen von Bernd Lucke. Es lohnt sich, diesen Mitschnitt der Talkshow mit stummem Ton anzusehen und sich in die Empfindungen der Lauschenden, der miteinander Redenden hineinzuversetzen!

Die weidlich erprobten Gesine Schwan, Jürgen Trittin, Anne Will, Nikolaus Blome, Edmund Stoiber scheinen in all ihren unwillkürlichen, auch vom geschicktesten Profi nicht steuerbaren, von der Kamera jedoch unbestechlich eingefangenen Gemütsäußerungen dem unerfahrenen Talkshow-Neuling Bernd Lucke zuzustimmen. Ihre Blicke besagen meines Erachtens eindeutig: „Bernd Lucke hat ja recht … “ Das ehrt alle!

Kuckt euch das erst einmal ohne Ton an.

Dank an alle Beteiligten, für Psychologen höchst sehenswert!

Alternative für Deutschland im Ersten – YouTube.

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„Nie wieder Krieg, nie wieder Deutschland“, oder: Die Deutschen sind an allem schuld

 Antideutsche Ideologie, Selbsthaß, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für „Nie wieder Krieg, nie wieder Deutschland“, oder: Die Deutschen sind an allem schuld
Apr 122013
 

2013-04-07 10.55.18

Nie wieder Krieg – nie, nie, nie wieder Deutschland!“ Deutlich, unverkennbar und unwiderleglich war dies die zentrale, die dutzendfach skandierte Botschaft, mit der der amtierende Bundesverteidigungsminister vor 2 Tagen in der Humboldt-Universität am Reden gehindert wurde.

Gegenüber diesen etwa 2 Dutzend jungen deutschen Männern empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Denn sie bestätigen schlagend meine zentrale These, wonach sich mittlerweile in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland bei den akademisch höhergebildeten Deutschen selbst, ab etwa 1980 eine Art stillschweigende negative Theologie des Bösen, das im Deutschen wohne, gebildet hat. Kernsatz dieser vulgären antideutschen Ideologie ist: „Die Deutschen sind allem schuld.“ Die Deutschen sind das Trägervolk des Bösen. Man muss also die Deutschen kleinhalten, verdünnen, säubern, reinigen, alles Böse im Deutschen ausmerzen, indem man die Deutschen immer erneut beschimpft, anklagt, in Haftung nimmt. Jeder Anlass dazu ist recht, vor allem natürlich die gegenwärtige EU-Krise.

„Sobald durch die Deutschen selbst alles Deutsche beseitigt, vergessen oder ausgemerzt ist, etwa durch bewusssten Verzicht auf die deutsche Sprache oder weitestgehende Zurückdrängung der deutschen Kultur, wie sie vor 1933 bestand, durch möglichst weitgehende Anpassung an alle anderen Völker, wird auch das Böse in der Weltgeschichte beseitigt sein. Folglich wird auch der Krieg beseitigt sein, denn der Krieg ist das schlechthin Böse, das es zu vermeiden gilt. Nie wieder Krieg – nie wieder Deutschland!“

Das ist die meist unbewusst schlummernde, hier aber explizit geäußerte Kernüberzeugung der antideutschen Ideologie, die nirgendwo so kraftvoll, so wagnerhaft trompetend vertreten wird wie in Deutschland selbst von vielen akademisch gebildeten Deutschen.

Der Verteidigungsminister kommunizierte angesichts der feindlichen Übermacht nur noch schweigend über den Laptop: „Wer hat Angst vor einem Argument?“

Hier hätte ich, wenn ich dabei gewesen wäre,  gern gefragt: „Meint ihr, dass durch die Selbstabschaffung Deutschlands zugleich auch der Krieg verschwindet? Glaubt ihr denn wie Adolf Hitler, dass die Deutschen nach dem letzten verlorenen Krieg kein Recht mehr hätten weiterzubestehen und sich selbst beseitigen müssten? Seid ihr jungen Deutschen also die wahren Erben, die Kindeskinder Adolf Hitlers? Seid ihr die wahren geistigen Erben der Nationalsozialisten? Seid ihr Antideutschen die wahren, die reinrassigen Deutschen?“

In dem mittlerweile gelöschten Youtube-Video war ersichtlich, dass etwa 20 oder 30 junge, wohlgenährte, gutausgebildete, bestgelaunte Männer die Veranstaltung sprengten, während die Mehrheit im Publikum teils belustigt, teils feixend, teils betreten zusah und schwieg, wie ein Minister dieses Landes durch Brüllen und Plärren am Reden gehindert wurde.  „Ich hielt es  nur für einen Flashmob“, berichtete ein Zeuge im Internet. Wir verstehen! Man könnte sagen: Es war nicht ernst, nur Show, es wurden doch nur zwei ältere Herren durch zwei Dutzende junge Männer am Reden gehindert. Es war doch nur eine Inszenierung!

Eine Art Flashback-Gefühl stellt sich beim Betrachten dieses Flashmobs bei Youtube ein: Ich erinnere mich an Fotos, die zeigen, wie im Wien des Jahres 1938 nach dem Anschluss Österreichs einige alte österreichische Männer unter Anweisung des braunen Blitzmobs, der aus lauter gutgelaunten jungen österreichischen Männern besteht, mit Zahnbürsten die Bürgersteige reinigen. Die Mehrheit der Umstehenden schaut teils belustigt, teils betreten, teils feixend zu. Man könnte sagen: „Was ist denn so schlimm an dieser Situation? Es ist doch nur eine Inszenierung! Es ist nur ein blitzartiger Mob! Es werden nur ein paar ältere Herrschaften daran gehindert, normal weiterzuleben, sie sollen nun symbolisch mit Zahnbürsten die Bürgersteige reinigen und werden am Reden gehindert. Es ist doch nur Show!“

Ich habe selbst einige Male als passiver, widerstandsloser Zuschauer miterlebt, wie Veranstaltungen an deutschen und italienischen Universitäten gesprengt worden sind. Und auch ich habe meines Wissens damals meist nicht dagegen protestiert.

Ich meine heute: Wer andere gewaltsam am Reden und Zuhören hindert, übt Zwang auf andere Menschen aus und ist kein Demokrat, sondern Rechtsbrecher.  Da hilft ihm die beste deutsche oder auch antideutsche Ideologie nicht.

Foto: „Die Juden sind an allem schuld.“ Hinweis auf die Sonderausstellung „Die ganze Wahrheit“ im Jüdischen Museum Berlin, Kreuzberg, Lindenstraße. Aufnahme vom vergangenen Sonntag, Berlin-Kreuzberg, Wilhelmstraße, Abzweigung Stresemannstraße

 

 

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Kriegsgründe erkennen – Kriegsgründe benennen: des Rätsels Lösung

 Krieg und Frieden, Kultur oder Natur?, Psychoanalyse, Rassismus  Kommentare deaktiviert für Kriegsgründe erkennen – Kriegsgründe benennen: des Rätsels Lösung
Apr 112013
 

Vor drei Tagen fragten wir nach einem unbekannten deutschsprachigen Autor, der durch eine Äußerung hervorgetreten war, die wir nicht umhin kamen rassistisch zu nennen. Wir vermuten: Träte dieser Autor heute etwa in der Humboldt-Universität auf, begäbe er sich heutigentags etwa zum lockeren Plausch in das berühmte Gasthaus Hasir bei uns in der Adalbertstraße, würde er sich etwa in eine der beliebten Talkshows wagen, er würde keine 2 Minuten auf seinem Platz bleiben dürfen. Er würde sofort niedergebrüllt oder rausgeworfen, und zwar unter anderem wegen folgenden Satzes:

„Schon heute vermehren sich unkultivierte Rassen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte.“

Der Name des leibhaftigen Gottseibeiuns: Sigmund Freud.

Sigmund Freud, der bekanntlich vor den Nazis aus Wien floh, würde heute in London nicht mehr aufgenommen.

Zitat:

Sigmund Freud: Warum Krieg?, in: Sigmund Freud: Werkausgabe in zwei Bänden. Band 2: Anwendungen der Psychoanalyse. Herausgegeben und mit Kommentaren versehen von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1978, S. 483-493, hier S. 492

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Apr 112013
 

2013-04-07 11.17.27

Bitte etwas mehr Differenzierung! Wir Polen/Deutsche/Russen/Juden  sind oder waren nicht alle so, wie ihr denkt … !“ So kann man es immer wieder bei geschichtlichen Debatten hören.

Gestern schlugen Studentinnen (?) und Studenten (?) der Humboldt-Universität bei einer grandios-simplifikatorischen Niederbrüllaktion gegen den Bundesverteidigungsminister vor, man solle einfach Deutschland abschaffen, dann würde auch der Krieg abgeschafft. „Nie wieder Krieg, nie wieder Deutschland!“ verkündeten sie grölend und plärrend, aber auch durch ein deutlich sichtbares Laken (Leichentuch?) gegen Deutschland. Hier kommt das entsprechende Video mit der zitierten Aufschrift:

http://www.youtube.com/watch?v=R65c3s0UjaQ

Könnte man also durch die von den Studierenden beabsichtigte Selbstauflösung Deutschlands zugleich den Krieg weltweit abschaffen? „So einfach ist es nicht!“

„Bitte etwas mehr Differenzierung!“ Tja, wer wollte dem widersprechen! Mehr Differenzierung tut immer gut. Aber daneben gilt es doch auch, das große Ganze in den Grundlinien zutreffend, einigermaßen vollständig zu zeichnen. Wir brauchen auch das holzschnittartige Geschichtsbild!

Ein einigermaßen zureichendes, holzschnittartiges Gesamtbild der europäischen Entwicklungen, wie es etwa in „Unsere Mütter, unsere Väter“ versucht wird,  ist aber ohne Einbeziehung der auf militärische Expansion zielenden Politik der Sowjetunion und auch Polens in den Jahren 1920-1941 nicht möglich.

Und so fällt mir an dieser wie auch an zahlreichen anderen Debatten immer wieder auf, dass das gesamte Schicksal Ostpolens in den Jahren 1919-1941 von den Nichtpolen, darunter offenbar auch vom ZDF, nahezu vollständig vergessen oder schlicht ignoriert wird. Hier, im damaligen Ostpolen bzw. der heutigen Ukraine wurde beispielsweise 1920 ein erbitterter Krieg zwischen Polen und der Sowjetunion ausgefochten, dessen Folgen sich weit in die 40er Jahre hineinschleppten. Polen gewann damals den bis heute historisch nicht völlig aufgearbeiteten Krieg und konnte ganz erhebliche Gebietsgewinne verbuchen.

Im September 1939 wiederum überfiel im Gegenzug die Sowjetunion mit ihren Truppen Polen von Osten her und besetzte die Osthälfte des gemeinsam mit Deutschland unterworfenen Landes. Damit trägt die Sowjetunion ab 1939 eine maßgebliche Beteiligung an der Entstehung der Verkettung all jener militärischen Konflikte, die später, etwa ab August 1941, in grober, holzschnittartiger  Vereinfachung als „2. Weltkrieg“ zu bezeichnen ist.

Erstaunlicherweise sind die Russen sogar heute teilweise immer noch der irrigen Meinung, für sie habe der 2. Weltkrieg erst im August 1941 begonnen. So war es aber nicht. Die Russen waren von Anfang an, ab September 1939  Teilhaber und Spießgesellen  der deutschen Beutezüge. Die Armeen des Deutschen Reiches und der Sowjetunion feierten denn auch ihren gemeinsam errungenen raschen Sieg über Polen am 22.09.1939 in einer großen gemeinsamen Parade in Brest-Litowsk. Deutschland und Russland blieben bis August 1941 enge militärische Partner und Verbündete gegen die Polen, die Briten und die Franzosen. Sowjets und Deutsche standen einander im Ausmaß des gegen die Polen, Juden, Ukrainer und Weißrussen verübten Terrors und der Vernichtung wohl kaum nach.

Ähnlich den Deutschen begingen die Sowjets, also die „Russen“, wie sie damals genannt wurden, schwerste Massenverbrechen: Massenerschießungen, Verschleppungen, Massendeportationen, Ausplünderung von Hab und Gut auf dem eroberten Territorium. Diese gut dokumentierten, aber während der Herrschaft des Kommunismus verleugneten Tatsachen sind bis heute  leider außerhalb Polens und außerhalb der Zunft der Osteuropahistoriker fast unbekannt. Auch in den Massenmedien – etwa bei Filmemachern – scheinen sie überwiegend nicht geläufig zu sein. Ein zureichendes Gesamtbild der europäischen Entwicklungen ist aber ohne Einbeziehung der auf militärische Expansion zielenden Politik Polens und der Sowjetunion in den Jahren 1920-1939 nicht möglich.

via „Unsere Mütter, unsere Väter“: ZDF reagiert auf Polen-Kritik mit neuer Doku – Medien – Tagesspiegel.

Bild: Blick entlang der Topographie des Terrors auf die Wilhelmstraße während des Halbmarathons am vergangenen Sonntag

 Posted by at 14:00