admin

„Trinke Mut des reinen Lebens!“

 Armut, Goethe  Kommentare deaktiviert für „Trinke Mut des reinen Lebens!“
Okt. 072016
 

dsc_04871

Trinke Mut des reinen Lebens!
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
Nicht zurück an diesen Ort.

„Ich verstehe die Belehrung. Aber ich weiß nicht mehr welche.“ Welches war die Lehre eigentlich? Worum ging es? War es das höchste Gut? Ging es um die größte Not?

Wir vermochten es nicht zu erraten bei einem kleinen Gastmahl, das wir am Abend nach der sauren Arbeit des Tages zu uns nahmen. Soviel war sicher: Goethe hatte diese Belehrung empfangen. Aber von wem stammte sie?

Arm an Beutel, krank am Herzen
Schleppt‘ ich meine langen Tage.
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!
Und zu enden meine Schmerzen,
Ging ich einen Schatz zu graben.
Meine Seele sollst du haben!
Schrieb ich hin mit eignem Blut.

Eine kleine Nachforschung erbrachte die Lösung. Der Spruch „Trinke Mut des reinen Lebens“  stammt aus Goethes Gedicht „Der Schatzgräber“, erschienen erstmals im Musen-Almanach für das Jahr 1798, den Friedrich Schiller 1797 herausbrachte. „Artige Idee, daß ein Kind einem Schatzgräber eine leuchtende Schale bringt“, vermerkt Goethe am 21.05.1797 in seinem Tagebuch dazu. Und es ging tatsächlich um das höchste Gut im Menschenleben, den Reichtum.

So fährt er fort:

Und so zog ich Kreis‘ um Kreise,
Stellte wunderbare Flammen,
Kraut und Knochenwerk zusammen:
Die Beschwörung war vollbracht.
Und auf die gelernte Weise
Grub ich nach dem alten Schatze,
Auf dem angezeigten Platze.
Schwarz und stürmisch war die Nacht.

Und ich sah ein Licht von weiten;
Und es kam gleich einem Sterne,
Hinten aus der fernsten Ferne,
Eben als es zwölfe schlug.
Und da galt kein Vorbereiten.
Heller ward’s mit einem Male
Von dem Glanz der vollen Schale
Die ein schöner Knabe trug.

Holde Augen sah ich blinken
Unter einem Blumenkranze;
In des Trankes Himmelglanze
Trat er in den Kreis herein.
Und er hieß mich freundlich trinken;
Und ich dacht: es kann der Knabe,
Mit der schönen lichten Gabe
Wahrlich! nicht der Böse sein.

Trinke Muth des reinen Lebens
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
Nicht zurück an diesen Ort.
Grabe hier nicht mehr vergebens.
Tages Arbeit! Abends Gäste!
Saure Wochen! Frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort.

Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Herausgegeben von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag, Sonderausgabe 1998, S. 668-669 (Text) sowie S. 1224 (Kommentar)

Bild: Blick von Schloss Rheinsberg auf den Grienericksee, Aufnahme vom 03.10.2016

 

 Posted by at 16:42

Ein Herbsttag im Himmelreich, wie wir ihn schon einmal sahen

 Freude, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für Ein Herbsttag im Himmelreich, wie wir ihn schon einmal sahen
Okt. 072016
 

dsc_04661

Aufmerksame Augen haben den Ursprung des letzten poetischen Versuchs, aufgequollen am Rande des Grienericksees, sofort erkannt. Sie weisen darauf hin, daß Friedrich Hebbel den Grundton angab, nachdem wir einige Verse nachgeformt. So sei es dem Leser überlassen zu entscheiden, ob Urbild oder Nachbild hier größeren Eigenwert beanspruchen dürfen.

Unser Bild zeigt eine bei einer Fahrradtour aus dem Waldgebiet Himmelreich zwischen Zootzensee und Großem Wummsee mitgebrachte Aufnahme vom vergangenen Montag, dem Tag der Deutschen Einheit.

Wir versäumen nicht, Hebbels schöne Verse nach einer verlässlichen Neuausgabe zu zitieren:

Herbstbild

Dieß ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als athmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah‘,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dieß ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute lös’t sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Zitiert nach:
Deutsche Gedichte. Herausgegeben von Hans-Joachim Simm, Insel Verlag, 3. Aufl. 2013, S. 719

 

 

 

 

 

 Posted by at 16:12

Triefender Herbsttau am Grienericksee. Ein Herbstbild

 Freude, Natur, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für Triefender Herbsttau am Grienericksee. Ein Herbstbild
Okt. 032016
 

dsc_04611

Ein einzigartiger geschliffener Spiegel des kommenden Tages, das war der Grienericksee heute morgen. Wir fuhren eine Runde um die Seenplatte herum. In hellem Sonnenschein stiegen satt die Gerüche auf in den Buchenwäldern. Ich schnaubte ein, schnoperte, schnaubte und sog ein: den fetten Geruch von Pilzen und Most, von süßem Rotwein und leicht vergorener Aprikose. Trüffelgerüche im triefenden Laub! Den Herbst riechen! Triefender Tau, sattes Laub von mächtigen Buchen! Mühselig klaubte ich aus dem Gedächtnis zusammen ein Gedicht von wem? Ja, von wem?  Doch fiel’s mir nur unvollständig ein. Also schrieb ich es um. Ist es Diebstahl, Plagiat? Was tut es zur Sache? Umschreiben, fortschreiben, nacherleben, wiedererleben. Lese halten, einsammeln, weitergeben! Dabei alle Hebel nutzen! Danke Herbst, danke Friedrich!

Dies war ein Herbsttag, wie ich keinen roch,
Der See lag still, als wehte nie ein Wind,
Und dennoch drohten, kaum zu sehen noch,
Die dicksten Wolken, die wie Schiffe sind.

Uns störte nichts, die Feier der Natur,
Die Atem-Lese, die sie uns geschenkt,
Denn heute stiegen von dem Boden nur
Gerüche, die der Wandrer dankbar fängt.

Fetter blühte die Herbstzeitlose herauf, im hellen Kalk erhob sich der Obelisk, in französischer Sprache besang er die Taten der Generale.

 

Bild: Blick auf den Grienericksee, heute früh

 

 

 Posted by at 22:46
Sep. 302016
 

dsc_04251

Spätes Eintreffen am Abend in Schöneberg! An der Hauptstraße halte ich und bestelle bei einem arabischen Kiosk einen Falafel-Teller. Halblaute Gespräche in deutscher, türkischer und arabischer Sprache umgeben mich. Ich setze mich ans Trottoir und verzehre den Falafel-Teller mit größtem Behagen und betrachte dabei die Passanten im lauen Spätsommerabend.  Und dann trinke ich mir Mut des Lebens aus dem türkischen Milchgetränk: trinke zwei Becher lauen Ayran. Die Mühsal der Flugreise fällt von mir ab. Da „quillt laue Milch, sie steht bereit für Kind und Lamm“, so steht es ja im Faust. Ich muss hierzu entschuldigend sagen, dass die gewaltige Fabel vom Faust, wie sie Goethe gedichtet hat, mich in diesen Tagen auf Schritt und Tritt begleitet. Bei vielen, auch bei den unmöglichsten Anlässen fallen mir Verse aus Goethes Faust ein. Wem mag es sonst noch heute noch so gehen? Früher war diese Marotte häufiger, zum Beispiel flocht Konrad Adenauer immer wieder Zitate aus Goethe und Schiller in seine Reden ein. Er schämte sich Goethes und Schillers nicht.

Dann komme ich zuhause an. Der erste Mensch, dem ich in meinem Haus begegne, ist ein türkischer Nachbar. Das erste Gespräch in Schöneberg  führe ich mit ihm. Wir begrüßen uns  mit einem herzhaften İyi akşamlar. Wir sprechen über die Situation in der Türkei an der Grenze zu Syrien. Sie ist nicht so, wie sie in der Zeitung steht.

Zuhause in der Wohnung angekommen, lese ich die frische Nachricht eines mir nahestehenden über 80 Jahre alten Mannes, der mir aus Hessen folgendes schreibt:

„Ich möchte noch länger leben und gegen den aufkommenden Nationalismus kämpfen. Diese Pest hat unter deutscher Führung im 20. Jahrhundert Europa zerstört. Wir hatten 60-70 Jahre Frieden und Fortschritt und jetzt erhebt dieses Unheil wieder den Kopf! Ich habe viele Länder erlebt und geliebt und fand überall als überzeugter Deutscher gute Aufnahme. Die Europäische Union ist der größte politische Fortschritt und muß erhalten bleiben. Nationaler Egoismus sägt an seinem Bestand. Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi waren weise Politiker. Sie haben die Grundlagen gelegt. Merkel hat es gewagt, nach christlichen Grundsätzen politisch zu handeln, und wird jetzt von Kleingeistern, die ihr nicht das Wasser reichen können, gescholten.“

Beachtenswerte Worte, die mir ein guter Deutscher und überzeugter Europäer übersandt hat! Ich gebe sie hier gerne wieder.

Doch wollen wir dieser abendlichen Stunde hohes Gut nicht durch den gefährlichen, wieder aufkeimenden europäischen Nationalismus eintrüben lassen! Schließen wir doch diese kleine Betrachtung eines Heimkehrers mit einem Blick auf die Eichen des Kékes, und rufen wir uns ein paar Verse aus dem Faust, diesem Schicksalsbuch der Deutschen, mutmaßlich dem größten und bedeutendsten Werk der deutschen Dichtung ins Gedächtnis; sie finden sich in der Tragödie zweiten Teiles drittem Akt, im inneren Burghof, von wo sich der Blick mählich zum schattigen Hain weitet, zu einem herrlich gemalten Arkadien hin:

Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,
Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.
Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche
Siehst Wollenheerden ausgebreitet ziehn.

Vertheilt, vorsichtig, abgemessen schreitet
Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand,
Doch Obdach ist den sämmtlichen bereitet,
Zu hundert Höhlen wölbt sich Felsenwand.

Pan schützt sie dort und Lebensnymphen wohnen
In buschiger Klüfte feucht erfrischtem Raum,
Und, sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen,
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Goethe, Faust, Verse 9542-9554

Bild: In den Eichenwäldern auf dem Kékes-Berg, Aufnahme von gestern

 

 Posted by at 22:51

Der subsidiäre Freiheitsbegriff, oder: Was uns an Deutschland lieb und teuer sein sollte

 Süddeutsche Zeitung, Verfassungsrecht, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Der subsidiäre Freiheitsbegriff, oder: Was uns an Deutschland lieb und teuer sein sollte
Sep. 212016
 

Drei Epochenjahre der deutschen und europäischen Geschichte seien hier genannt, um einen wesentlichen Grundzug der deutschen Verfassungsgeschichte hervorzuheben, der in dieser Art bei unseren Nachbarn – etwa den Tschechen, den Polen und den Franzosen – so nicht vorkommt: der Begriff der subsidiären Freiheit, wie er sich seit dem Hochmittelalter über all die Jahrhunderte hin durchgesetzt hat, um letztlich in der Verfassung der heutigen Bundesrepublik Deutschland seine nahezu vollkommene Ausprägung zu finden.

  1. Epochenjahr:
    1214: Schlacht bei Bouvines. Die hochmodernen, zentral geführten Panzerreiter des französischen Königs, Philipps II., setzen sich die gegen die in lockerem Verband territorial  zusammengewürfelten, uneinigen Streitmächte Kaiser Ottos IV. durch. Georges Duby  erblickt in diesem französischen Sieg zu Recht das Schwellenjahr zur Festigung des Zentralstaatsgedankens, wie er seither in Frankreich strukturprägend wirkt, und zwar heute wie eh und je! Umgekehrt ist Deutschland seither durch ein bewegliches Ungleichgewicht territorialer Herrschaften und wechselnder Loyalitäten geprägt – ebenfalls bis zum heutigen Tag.
  2. Epochenjahr:
    1356: Goldene Bulle. Unwiderruflich wird diese subsidiäre Reichsverfassung auf Jahrhunderte hinaus festgeschrieben. Bis 1806 herrscht in deutschen Landen eine schwache, auf Wahl und Zustimmung der Wahlberechtigten (Kurfürsten, später Landesherrschaften, Stände, reichsfreie Städte) gestützte Reichsgewalt. Der bundesstaatliche Charakter der „Bundes“-Republik Deutschland fußt genau darin! Bis zum heutigen Tage muss sich die zentrale Machtagentur der deutschen Lande (also damals der Kaiser, heute die Bundeskanzlerin)  jederzeit und immer wieder der Zustimmung und der Unterstützung der Landesfürsten (heute Ministerpräsidenten genannt)  versichern. Die Territorialherrschaften (heute Bundesländer genannt) bilden den Rahmen für die Daseinsvorsorge der Bürger! Dies ist ein Grundmerkmal deutscher Staatlichkeit, über das sich kein Kaiser und kein Bundeskanzler ungestraft hinwegsetzen kann.
  3. Epochenjahr:
    1648: Westfälischer Friede. Nach zähen Verhandlungen in Münster und Osnabrück gelingt es, die verheerenden Machtunsicherheiten, welche die Mitte Europas zerrissen hatten, im Zuge eines für unmöglich gehaltenen Kompromisspaketes auszugleichen und in eine bewegliche Ordnung zu bringen, die etwa 150 Jahre ohne blutige Großkriege halten wird! Eine Meisterleistung der Diplomatie, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier heute sehr schön in der Süddeutschen Zeitung ins Licht gesetzt hat. Haltbarer Frieden ist eben kein Diktat, er verzichtet auf Letztbegründungsansprüche, er stellt die Wahrheitsfrage nicht, und er lässt keine der Konfliktparteien das Gesicht verlieren.

1210 – 1348 – 1648! Diese drei Jahre zeigen über die Jahrhunderte hinweg, was gelingende deutsche Staatlichkeit ausmacht: Erstens das Fehlen einer starken, unbezweifelten Zentralmacht, wie es etwa das französische Königtum oder der russische Zar bildeten. Zweitens ein subsidiärer, von unten aufwachsender  Freiheitsbegriff: nicht der König „verleiht“ den Fürsten und den Ständen die Freiheit, vielmehr treten die unteren Gewalten einen Teil ihrer Souveränität, ihrer Entscheidungsmacht auf Widerruf an den Kaiser (oder den Bundeskanzler) ab.  Und drittens die Kleinteiligkeit der staatlichen Gebilde, der vielfach gestaffelten, übereinander geschichteten Gebietskörperschaften, Stände, Städte, die einander gewissermaßen in Schach halten – und doch ohne einander nicht können.

Kooperation statt Diktat, Kompromiss anstelle von absoluten Geltungsansprüchen, Koexistenz statt Dominanz – das sind die drei prägenden Grundmerkmale, mit denen deutsche Staatsverfassung gelingen kann – aber nicht immer gelungen ist. Das beste Beispiel für gelingende Staatlichkeit ist die seit 23. Mai 1949 bestehende Bundesrepublik Deutschland, als deren leidenschaftlicher, ja geschworener Anhänger sich der hier Schreibende immer wieder bekannt hat und auch weiterhin bekennen wird.

 

Lesehinweis:

Georges Duby: Le Dimanche de Bouvines : 27 juillet 1214. Paris 2005

Frank-Walter Steinmeier: Im Mittelpunkt: Frieden. Süddeutsche Zeitung, 21.09.2016, S. 10

 Posted by at 23:58

Ötzi – ein Mensch wie wir?

 Das Böse, Europäisches Lesebuch, Ötzi  Kommentare deaktiviert für Ötzi – ein Mensch wie wir?
Sep. 202016
 

20160810_111108

Vermutlich aus heimtückischen Motiven wurde Ötzi umgebracht. Neid, Zurückweisung oder Kränkung könnten Beweggründe gewesen sein, weshalb der andere unbekannte Mensch ihm nach dem Leben trachtete und eine Pfeilspitze in Ötzis Schulter jagte. So das Fazit des Münchner Hauptkommissars und Profilers Alexander Horn, vorgetragen in Bozen anlässlich des 25. Jahrestages der Entdeckung der im Gletscher verborgenen Mumie.

Das entspricht genau unseren Überlegungen, wie wir sie vor wenigen Tagen, am 23. August, hier im Anschluss an einen Besuch des Bozener Landesmuseums für Archäologie niederlegten.

Stillschweigende Voraussetzung bei solchen Mutmaßungen ist jedoch, dass die Menschen des 4. Jahrtausends v. Chr. ungefähr psychisch so ähnlich ausgestattet waren wie wir, so ähnlich fühlten wie wir, dieselben Regungen empfanden wie wir Heutigen.

Und diese Voraussetzung halte ich für durchaus zulässig. Wo immer wir auch hinschauen, so weit wir auch zurückschauen, dem Verständnis des Menschlichen sind kaum Grenzen gesetzt. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse, die uns in unseren Kulturen ab dem 3. Jahrtausend – zunächst aus Mesopotamien und aus Ägypten – vorliegen, belegen durchaus so etwas wie eine Gemeinverständlichkeit des Menschen. Wir können und dürfen uns hineinversetzen in das, was die damaligen Menschen dachten, fühlten und bewirkten.

Was aber war und ist dies? Liebe, Haß, Fürsorge, gesellige Bindungen, Wunsch nach Selbsterhaltung, Wunsch nach Erhaltung der eigenen Art, Gefühle der Verbundenheit zwischen den Verwandten, sexuelles Begehren, Streben nach Macht und Anerkennung, Neid angesichts der Vorzüge anderer, aber auch der Drang anderen Böses zuzufügen – diese Regungen dürften überall und zu allen Zeiten zur genetischen Grundausstattung der biologischen Art Mensch gehören.

Die schriftliche Überlieferung ab dem 8. und 7. Jahrhundert vor Chr. – etwa die ältesten Schriften der Bibel oder die Gesänge Homers – wird  vollends nicht durch Bücher mit sieben Siegeln gebildet. Diese jahrtausendealten Schriften sind auch heute nach Erklärung durchaus verständlich, sie sind in unsere modernen Sprachen übersetzbar; so las ich mehr oder zufällig vor kurzem das Kap. 18 im Buch des Propheten Ezechiel/Hesekiel in verschiedenen alten und neuen Sprachen. Und der gemeinte Sinn trat innerhalb gewisser Bandbreiten des Deutens und Weiterdenkens doch deutlich, überdeutlich hervor.

In diesem Fall ist der Sinn des Propheten: Jeder einzelne Mensch wird nach dem, was er tut und lässt, beurteilt. Der einzelne Mensch zählt letztlich, nicht seine Abstammung, nicht seine Einbindung in einen Sippenverband, nicht seine Klasse, Rasse, Geschlecht, soziale Geltung. Ein sehr moderner Gedanke, – hinter den freilich immer wieder zurückgefallen wird, etwa wenn man sagt: „Die anderen da, die sind so. Die anderen da, die waren alle so. Die anderen da, die werden immer so sein. Die anderen haben das gemacht. Nicht ich. Ich würde das niemals tun.“

Quellenangaben:
Profiler: Mord an Ötzi war „heimtückisch“. Berliner Morgenpost, 20. September 2016, S. 14
Das Buch Ezechiel,  Kap. 18, 593-571 v. Chr. in: Die Bibel
Bild:
So mochte er ungefähr ausgehen haben, ehe ihn der heimtückische Pfeil traf. Aufnahme aus dem Bozener Landesmuseum für Archäologie, August 2016

 Posted by at 16:01

„Dal tuo stellato soglio“, oder: Was mir an Europa lieb und teuer ist …

 Leitkulturen, Lenin  Kommentare deaktiviert für „Dal tuo stellato soglio“, oder: Was mir an Europa lieb und teuer ist …
Sep. 122016
 

… das brachte das kleine improvisierte Abendliedchen meines treuen Wandergefährten Gian Battista Semaforo sehr gut zum Ausdruck:

„Dal tuo stellato soglio …“, ein großartiger Chor aus der Oper „Moses in Ägypten“ von Giacomo Rossini. Eine herrliche Bass-Arie leitet den Chorgesang ein! Das Chorische, das Vielstimmige an Europa, das ist mir fürwahr lieb und teuer. Fazit:
Lieb und teuer an Europa sind mir, nur zum Beispiel: a) Moses, der Gründer des alten Israel, obzwar kein Europäer b) Rossini, ein wahrhaft europäischer Komponist italienischer Herkunft c) der europäische Chorgesang, eine Ausfaltung des liturgischen Singens.

Und was noch? Vielleicht dieses:

Mancher Geiger kennt wohl die „Moses-Phantasie“ von Niccolò Paganini. In diesem Stück fordert der Teufelsgeiger dem Solisten alles ab: auf einer einzigen Saite, der G-Saite, solle er ähnliche Effekte erzielen, wie sie ein vielstimmiger Chor, ein Orchester und der Bass-Solist in der Oper Rossinis erzielen. Teuflisch schwer, überheblich. Und doch: Der Teufel gehört also auch zu Europa dazu.

Und was noch? Vielleicht dieses:

Im Nachtlied von Nietzsches Also sprach Zarathustra heißt es:
„Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.“ Siehe da, auch das gehört zu Europa: die großen Gegenentwürfe, das Aufbegehren gegen die mosaische Tradition, die großen Gottestötungen der Neuzeit, beispielhaft vorgedacht durch Marx, Nietzsche, Engels, vorgemacht und ausgeführt und nachgemacht durch Lenin, Dzierżyński, Mussolini, Trotzki, Graziani, Hitler, Stalin, Eichmann und zahllose Helfer, zahllose andere willige Vollstrecker – das Aufsässige, Ungehörige, Trotzige – und erst zuletzt: das Versöhnliche, das Nimmergeglaubte, das irgendwoher wiederkehrt.

Und was noch? Vielleicht dieses:

In dem Film FuocammareSeefeuer – des Regisseurs Gianfranco Rosi erklingt aus einem unzulänglichen 50er-Jahre-Radio der Chor „Dal tuo stellato soglio“ aus Moses in Ägypten, während eine alte Witwe das Ehebett in einem 50er-Interieur herrichtet. Auch das ist Europa. Auch das ist mir teuer. Und zur selben Zeit werden in Lampedusa Schiffbrüchige aufgenommen, mit warmen Getränken und  Wärmefolien versorgt. Ein unzulänglicher Bus mit der Zielbestimmung MisericordieBarmherzigkeiten – wartet mit tuckerndem Motor und wird sie in Sicherheit bringen. Auch das ist mir lieb und teuer. Auch sie sind mir lieb und teuer.

 Posted by at 10:40

Dal tuo stellato soglio. Ein Abendlied

 Eigene Gedichte, Singen  Kommentare deaktiviert für Dal tuo stellato soglio. Ein Abendlied
Sep. 082016
 

Ein Lied des Johann Baptist Semaforo, gesungen in der süditalienischen Grecía

Abend ist es. Nun reden lauter alle Quellen. Seefeuer flackern noch auf, hinten am Horizont versinken die letzten Streifen körnigen, streifigen Lichts. Eisiges Weltall verschlingt die letzten Funken der Seefeuer. Zischende Leuchtfeuer verglimmen, salzige Gischt spritzt auf.

Abend ist. Nacht wird. Nun schimmert das Licht herab, nun reden lauter alle singenden Quellen. Und von oben träufelt herab das singende Licht.

Abend ist es. Dunkelheit lastet auf uns. Nun kommt ein Bus heran, nun kommen die Menschen näher an unsere Herzen. Und auch dieser Abend ist ein pochendes Herz. Nun kommen die Menschen heran, nun kommt das Volk heran. Das Volk, welches Volk? Dein Volk, dein Volk kommt heran.

Nun öffnen sich Türen, nun kommen sie hervor aus dem Bus, der den Namen Misericordie trägt. Bleiche Taumler, stinkend von Benzin, vom Werg der Taue umschlungen. Fetzen hängen herab statt Kleidern. Knochen, Gerippe, Knöchelchen, sind das noch Menschen?

Nun öffnest du deine Hände, nun reichst du ihnen das Brot. Du nimmst ihnen den Puls ab, die fertigst die ersten Röntgenbilder.

Von deinem sternenbesäten Thron, Herr, tritt herab! Nun tritt der Gequälte hervor, nun breitet er die Arme aus, nun bittet er, nun dankt er. Niederkniet er, dem die Arme so oft ermatteten. Er kniet nieder, Ihm, dem da, dem großen Unsichtbaren  auf dem sternenbesäten Thron zu danken. Nun haben sie es geschafft.

Abend ist. Nun komm herab, du gute, warme, lauschende Nacht. Sterne, träufelt herab euer Licht. Und du, auf deinem sternenbesäten Thron, beug dich herab, noch ein bisschen mehr. Zeig uns, dass du da bist. Jetzt, ja, jetzt darf es Nacht werden.

Nacht ist es geworden. Nun tönen lauter alle Quellen des Lichts, der Sternengesang schwillt an. Nun öffnen sich alle pochenden Herzen. Und auch die Erde, sie ist ein pochendes Herz.

 Posted by at 22:24

Griaß enk!, oder: Losts enk net übern halen Gupf zu die Fockn in Lettn werfn

 Berchtesgaden, Deutschstunde, Südtirol  Kommentare deaktiviert für Griaß enk!, oder: Losts enk net übern halen Gupf zu die Fockn in Lettn werfn
Sep. 032016
 

Blick 20160814_131140(0)

Jedem Kenner und Liebhaber der deutschen Sprache muss das Herz im Leibe lachen, wenn er das Gespräch mit den Einheimischen in Südtirol sucht. Kaum zu glauben, dass uralte, im heutigen normierten Hochdeutschen längst geschwundene Formen aus dem alten Kernbestand jeder Sprache – etwa Personalpronomina – dort in der Gegend von Brixen und Bozen heute noch verwendet werden!

Nicht nur einmal begegnete es uns auf Bergeshöhn, wenn wir wieder einmal einen halen Gupf erkletterten, dass wir von ganz jungen Leuten mit „Griaß enk“ begrüßt wurden. „Enk“, das ist eine Form, die mich meine aus Berchtesgaden stammende Mutter sel. noch lehrte! Eine alte, im Althochdeutschen auch noch schriftlich belegte Form für „Euch“, wobei „enk“ den Dativ oder Akkusativ des altbairischen Personalpronomens „es“ bildet, das seinerseits ursprünglich die Dualform der 2. Person Plural bildete! In uralten Zeiten verwendete man „es“ und „enk“ also, wenn man zwei und nur zwei Personen anredete.

Die Südtiroler Mundarten sind äußerst klangvolle, in Satzmelodie und Lautgebung farbenprächtige Spielarten des Deutschen. Von fern gehört, erinnern sie mich in musikalischer Hinsicht in dem melodiösen, oft leicht singenden Tonfall an die Spielarten des Italienischen in Welschland, die ich vor wenigen Monaten im Tal des bergamaskischen Brembo, nur wenige Alpentäler entfernt, an den Tischen  der Wirtshäuser hörte.

Zum Nachlesen und Vertiefen habe ich zwei Bücher mit nachhause gebracht, einen äußerst spannenden Südtirol-Krimi aus dem zwielichtigen Milieu der Spitzengeiger dieser Welt – sowie als wissenschaftliche Begleitung ein Wörterbuch der Südtiroler Mundarten.

Vorerst mag jeder sich an folgender Kostprobe des Deutschen, wie es etwa in Bozen gesprochen wird, die Zähne ausbeißen; sie findet sich am Schluss des genannten Krimis von Robert Adami:

Wenn mir der Graf schlutzig kimp, nor wird der Onkel Theo sierig und wirft nen oi über den haalen Gupf zu die Fockn in Lettn.

Nachweise:

Robert Adami: Der Zwerg im Berg und die Geigerin im Sarg. Kriminalkomödie. Verlagsanstalt Athesia, Bozen 2014, hier bsd. S. 188
Hans Moser: Wörterbuch der Südtiroler Mundarten. In Zusammenarbeit mit Robert Sedlazcek. Athesia-Tappeiner Verlag Verlag, Bozen 2015, hier S. 65

Bild: Auf der Wanderung von Neustift über Schalders zu den Schrüttenseen (1957 m), Blick von einem halen Gupf nach Norden vom Nockbach aus, 14.08.2016. Auf dieser Wanderung (ca. 1500 Höhenmeter) hörte ich das „Griaß enk“ erstmals

 Posted by at 11:23
Aug. 292016
 

DSC_0043[1]

Nehmen wir drei Begriffe, drei Grundgestimmtheiten: Glaube, Hoffnung, Liebe.

Welche ist die größte unter den dreien? Paulus von Tarsus antwortet darauf in seinem ersten Brief an die Korinther: die Liebe. Die letzte der drei Grundgestimmtheiten ist also die größte. Sie ist der Grund-Tonus.

Oder nehmen wir Einigkeit, Recht, Freiheit.

Einigkeit, Recht, Freiheit. Welcher Ton ist dann der Grundton? Was würde Heinrich Hoffmann von Fallersleben darauf geantwortet haben?

Die Frage ist müßig. Denn der Dichter des „Liedes der Deutschen“ hat in dem „Lied von der Freiheit“ seine Antwort darauf selbst gegeben:

[…]

Die Welt mit ihren Freuden
Ist ohne Freiheit nichts.
Die Freiheit ist die Quelle
Der Tugend und des Lichts.

Es kann, was lebt und webet,
In Freiheit nur gedeihn.
Das Ebenbild des Schöpfers
Kann nur der Freie sein.

[…]

Alles spricht und klingt in meinen Ohren dafür, dass im Lied der Deutschen die Freiheit der Grundton ist, dass sie der höchste Wert ist, ohne den die beiden anderen keinen Bestand haben.

Staatliche Einheit konnte für Hoffmann nur Ausdruck eines gemeinsamen Wollens sein; sie war ihm nicht Selbstzweck, keine „immer engere Union aller Deutschen“ als Endstufe schwebt ihm vor. Er wollte nichts anderes als eine staatliche Ordnung, die jedem einzelnen Menschen wirkliche Freiheit ermöglichen sollte.

Recht ohne Freiheit ist ihm nicht lebenswert; Einheit ohne Freiheit der Zustimmung und Ablehnung, d.h. ohne Einigkeit, ist ihm ein großes Übel!

So mag das heute unter veränderten Vorzeichen auch für die EU gelten: Die immer engere Einheit, „the ever closer Union“, wie es im Lissaboner Vertrag heißt, darf und soll kein Selbstzweck sein. Europäische Einheit ohne Freiheit der Europäer zum Ja und zum Nein, europäische Union ohne europäische Einigkeit zerstört sich selbst. Dies hat Margret Thatcher bereits am 20. September 1988 in Brügge unvergleichlich klar erkannt, als sie mit Bezug auf die damalige Europäische Gemeinschaft sagte:

Britain does not dream of some cosy, isolated existence on the fringes of the European Community. Our destiny is in Europe, as part of the Community. That is not to say that our future lies only in Europe, but nor does that of France or Spain or, indeed, of any other member. The Community is not an end in itself. Nor is it an institutional device to be constantly modified according to the dictates of some abstract intellectual concept.

Geniale, prophetische Sätze von 1988, die man heute beherzigen sollte!

Zurück zu Hoffmann von Fallersleben, dessen erste Handschrift des Liedes der Deutschen vom 26. August 1841 wir am vergangenen Freitag in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße bestaunen konnten! Seine Forderungen nach Freiheit, Recht und Einigkeit gingen der preußischen Obrigkeit zu weit. Im Januar 1843 wurde er als ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau ohne Anspruch auf Ruhestandsbezüge entlassen. Ein Schlag ins Kontor! Seine wertvolle Privatbibliothek verkauft 1850 Hoffmann aus finanzieller Not heraus an die Königliche Bibliothek in Berlin, wo sie heute zu den Juwelen des „Preußischen Kulturbesitzes“ gehört und stolz dargeboten wird.

Hoffmann rechnete da mit dieser Möglichkeit, Freiheit in einem rechtlich gesicherten Rahmen zu erleben, freilich nicht mehr. Am 9. Oktober 1849 schrieb er sein „Auswanderungslied“, eine schonungslose, zutiefst resignierte Abrechnung mit den deutschen Zuständen.

[…]

Deutsche Freiheit lebet nur im Liede,
Deutsches Recht es ist ein Märchen nur.
Deutschlands Wohlfahrt ist ein langer Friede –
Voll von lauter Willkür und Zensur.

Darum ziehn wir aus dem Vaterlande,
Kehren nun und nimmermehr zurück,
suchen Freiheit uns am fremden Strande –
Freiheit ist nur Leben, ist nur Glück.

Bild:

Die originale Handschrift des „Liedes der Deutschen“, photographiert am vergangenen Freitag in der Staatsbibliothek zu Berlin

Hierzu:
Das Lied der Deutschen. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Berliner Faksimile 11. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 2016 (Beiheft zur Ausstellung am 26./27.08.2016)

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben:
Das Lied der Deutschen. Helgoland, 26. August 1841
Das Lied von der Freiheit
Auswanderungslied. 9. Oktober 1846

in: Deutsche Gedichte, hg. von H.-J. Simm, 3. Aufl., Frankfurt 2013, S. 723-725

Die Rede Margaret Thatchers vom 20. September 1988:

http://www.margaretthatcher.org/document/107332

 Posted by at 16:44

Maria hat geholfen

 Südtirol  Kommentare deaktiviert für Maria hat geholfen
Aug. 242016
 

20160815_125916

Touristische Erörterungen durfte ich mir anhören an Mariae Himmelfahrt bei einem festlichen Feldumgang durch die Weinberge des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift: 2 italienische Männer sprechen zum Singen und Beten der Gemeinde deutlich und laut neben mir über die Anfahrt, die Staus auf der Autobahn usw., 2 deutsche Frauen sprechen hinter mir verstohlen, aber laut genug über all das, was „durch die Bibel einfach nicht gedeckt“ ist an Mariae Himmelfahrt. Hier hilft mir das wenige Italienisch, das ich kann. Unhörbar für fast alle denke ich: „… ma per grazia di Dio, potete chiudere il becco, solo un attimo …  “ Und … es hilft ihnen! Maria hat ihnen geholfen. Sie verstummen nach und nach.

Andere, himmelnähere Gefilde sind das in Südtirol als hier in Berlin  – aber doch derselbe Himmel, dieselbe Erde, dieselbe Maria!

Bild: Blick auf das Dorf Klausen im Eisacktal, 15. August 2016,  der Blick Albrecht Dürers

 Posted by at 18:55

Er kommt von weit her – der Mann aus dem Eis

 Antike, Haß, Ötzi, Südtirol  Kommentare deaktiviert für Er kommt von weit her – der Mann aus dem Eis
Aug. 232016
 

Ötzi 20160810_110855

 

 

 

 

 

Bozen, den 10. August 2016

Heute besuchten wir das Südtiroler Archäologiemuseum. Was man von der Geschichte und den Hinterlassenschaften des „Mannes aus dem Eis“ nur hat finden können, ist dort zusammengetragen und in vorbildlicher Weise für uns Heutige aufbereitet.  Wir konnten gar nicht genug verweilen an all den Beifunden, dem Fellmantel, den Beinkleidern, der Gürteltasche, dem Lendenschurz, den Schuhen, der Fellmütze.  Der Emmer, auf italienisch farro genannt – diese frühe Vorform unseres heutigen Weizens – weckte unsere besondere Neugier. Ötzis letzte Mahlzeiten umfassten tatsächlich auch den wilden Emmer, der als Einkorn in unseren Jahren erneute Genießer unter der Öko-Bewegung findet.

Ein letztes, nie zu enträtselndes Schaudern, ein Geheimnis umgibt und wird auf immer umgeben die Person selbst, die wir bei einem kurzen, respektvollen Innehalten vor der ewigen Kühlkammer bei -6° C ins Auge fassen durften.

Die Brüder Kennis & Kennis aus den Niederlanden haben im Auftrag des Museums eine naturalistische Rekonstruktion Ötzis angefertigt. Das Foto oben zeigt diese Nachbildung.

In der Nachbereitung ergeben sich tiefe Einblicke in die Frühzeit des Menschengeschlechts. Die mittlere Kupferzeit, welche auch aufgrund dieses Fundes, 1991 spektakulär zutage getreten in den Höhen des Tisenjoches in den Ötztaler Alpen, um 1000 Jahre nach vorne datiert werden musste, war zwar in Europa noch schriftlos; es gab noch keine staatenförmigen Gebilde, keine „Hochkultur“ wie etwa in den gleichzeitg aufblühenden Reichen Mesopotamiens oder etwas später auch im Alten Ägypten.

Aber der Mann aus dem Eis kündet doch von einer viel höheren Mobilität im Alpen- und Voralpenraum, als man zu vermuten geneigt war.  Die materielle Kultur, die Vielfalt an Geräten und Gegenständen des Bedarfs war weiter vorangeschritten, als man bis 1991 glaubte.

Diese Zeit, also das 4. Jahrtausend v. Chr. ist augenscheinlich in Europa eine „Jochzeit“ am Übergang vom bloßen Jagen und Sammeln zum Sesshaftwerden, zur Viehzucht, zum Anhäufen von Besitz und Reichtum.

Die Bibel setzt übrigens in genau diese Zeit – in die Kupferzeit also – das erste große Gewaltverbrechen der Menschheitsgeschichte, den großen Zivilisationsbruch, nämlich die Ermordung Abels durch Kain. Ein Brudermord, der motiviert wird durch das Gefühl ständigen Benachteiligtseins, unter welchem Kain, der Ackerbauer litt. Denn Gott ließ auf seinem jüngeren Bruder Abel, dem Schafhirten, größeres Wohlgefallen ruhen!

Ist es Zufall, dass der zeitgleich mit der Geschichte von Kain und Abel lebende Mann aus der mittleren Kupferzeit, genannt Ötzi, ebenfalls einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel? Reizte wohl gar seine erstklassige Ausstattung mit Fellen, Beinkleidern, einer herrlichen, damals hochmodernen Kupferaxt, einer vortrefflichen Reiseapotheke, den Neid und die Habsucht bei demjenigen, der ihn tötete?

Kajin (hebräisch) oder Kain (griechisch) ist auch Bestandteil des Namens des ersten Schmiedes, von dem die Bibel erzählt: Tubal-Kajin.

Warum Gewalt? Warum Neid? Warum Hass?

Jeder kann hier weiterdenken! Aus drei unterschiedlichen Werken –  dem ausgezeichneten Bozener Museumsführer [=Ötzi], der Jerusalemer Bibel [=Jerus. Bibel] und dem neuesten Plötz [=Ploetz] –  seien zu diesem Zweck nachfolgend einige Daten zum geschichtlichen Umfeld Ötzis tabellarisch samt Quellenangabe wiedergegeben:

9000-3500 v.Chr.:
Jungsteinzeit. Neue Lebensweise durch Übergang vom Suchen und Sammeln von Nahrung zu Nahrungsgewinnung durch Pflanzenanbau und Tierhaltung [Jerus. Bibel]

3500 v. Chr.: Abel und Kain, Genesis 4,2 [Jerus. Bibel]

Ca. ab gegen 4000 bis ca. 2000 v. Chr.:
Kupferzeit Europas, immer mehr bergmännisch gewonnenes und verarbeitetes Kupfer nachweisbar, Kollektivbestattungen, „Chamer Gruppe“ [Ploetz, S. 39, S. 45]

4000 v. Chr.
Megalithgrabbestattung in Westeuropa. Besiedelung Alaskas durch Eskimos [Ötzi]

4000-3100 v. Chr.:
Kupfersteinzeit im alten Orient.Gewinnung von Metall (Kupfer). Anfänge der Schrift. Sumerische Schrifttafeln von Uruk, Buch Genesis 10,10 [Jerus. Bibel]

um 3600-3100 v. Chr.:
späte Urukzeit, Erfindung der Keilschrift [Ploetz, S. 80]

um 3500 v. Chr.:
Tubal-Kajin, Vater der Schmiede Gen 4,22 [Jerus. Bibel].
Beginn der Kupferzeit in Mitteleuropa; Beginn der Bronzezeit in Vorderasien, Entstehung der ersten Stadtstaaten in Mesopotamien [Ötzi]

ca. 3300 bis 2800 v. Chr.:
Mittelkupferzeit im westlichen Mitteleuropa, Kupferreviere zwischen alpinem Inn und Enns [Ploetz S. 45]

Um 3350 v. Chr. bis 3100 v.Chr.:
In den Alpen lebt Ötzi, der Mann aus dem Eis [Ötzi]

Um 3000 v. Chr. Reichseinigung unter dem ersten ägyptischen Pharao Menes; Entwicklung der Hieroglyphen; Kultivierung von Reis in China [Ötzi]

Nachweise:

Neue Jerusalemer Bibel [=Jerus. Bibel]. Herder Verlag Freiburg Basel Wien, 1. Auflage der Sonderausgabe 2007, hierin: „Zeittafel“, S. 1811

Angelika Fleckinger: Ötzi, der Mann aus dem Eis [=Ötzi]. Alles Wissenswerte zum Nachschlagen und Staunen. Südtiroler Archäologiemuseum. Folio Verlag Wien – Bozen, 8., aktualisierte Auflage 2016, hierin bsd.: „Zeitleiste“, hinterer Klappumschlag

Der große Ploetz [=Ploetz]. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte. 35. Aufl., Komet Verlag, Köln 2008

 

 Posted by at 16:07
Aug. 222016
 

De mortuo nil nisi bene loquamur – von einem Toten möchten wir zunächst einmal nur Gutes reden. Ein wahrhaft europäischer Historiker war Ernst Nolte, der am 18. August verstorben ist.

Sein großartiges Werk „Der Faschismus in seiner Epoche“, das ich aus der Bibliothek meines Vaters in der 2. Auflage von 1965 ererbt habe, hinterließ mir vor Jahren schon einen tiefen Eindruck; zunächst übrigens wegen des außerordentlich eleganten, mit Fakten und tiefen Einsichten gesättigten Stils. Nolte war zuletzt einer der wenigen noch verbleibenden deutschen Wissenschaftler, der eine rhythmisch geordnete, architektonisch klar gegliederte, dem fein artikulierten rhetorischen Gestus nicht abholde Sprache schrieb. Man braucht sich nur einige Seiten aus seiner Feder vorzulesen und wird erkennen, dass er noch einmal das rhetorisch-analytische Erkennen, diesen Schatz  der antiken Historiker aufscheinen lässt. Sein Deutsch liest sich mitunter so, als wäre es aus Sallust oder Thukydides, aus Montaigne oder Montesquieu übersetzt! Mindestens lässt es diesen Goldgrund noch durchschimmern.

Als weiteren Vorzug hebe ich hervor, dass er sich mit den Quellen mehrerer europäischer Sprachräume auseinandergesetzt hat, sehr im Gegensatz zu fast allen, die in häufig unredlicher Art über ihn hergefallen sind. Er las eben noch im Original Mussolini, D’Annunzio, Drumont, Barrès und all die anderen.

Die meisten heutigen Feuilletonisten und akademischen Barone, von Jürgen Habermas angefangen bis zu all den anderen, die ihm seit dem unsäglichen, fälschlich so genannten „Historikerstreit“ unablässig am Zeug flickten, sind oder waren schon wegen mangelnder Sprachkenntnisse gar nicht imstande, die historischen Quellen aus Italien, Frankreich, der Sowjetunion, Polen oder Tschechoslowakei eigenständig auszuwerten. Sie kennen und können nur Vorgekautes wiedergeben, soweit es ihnen  in deutscher oder englischer Sprache aus zweiter Hand vorgesetzt wird. Sie haben keine Quellenforschung betrieben. Ich behaupte: Sie konnten und können den Wahrheitsgehalt von Noltes Schriften nicht beurteilen. Sie haben sich nie der Mühe unterzogen, den gesamteuropäischen Charakter der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen, wie dies Nolte auf seine besondere Weise tat.

Habermas und die anderen haben nur versucht, die gesamte Epoche von 1917-1945 mit dem Absolutheitssiegel des Bösen schlechthin, verkörpert in Deutschland, zu entsorgen. Entsorgung der Vergangenheit! Sie haben genau das gemacht, was sie Nolte fälschlich vorwarfen. Sie verkörpern im Grunde die autokategoretische Denkart, wie sie sich geradezu idealtypisch in Deutschland herausbilden konnte. Diese Denkart lässt sich so zusammenraffen: „Es gibt genau eines und nur ein einziges Verbrechen, das alle anderen übersteigt. Dieses ist von uns Deutschen begangen worden.  Es ist das einzige Verbrechen, das nie vergeht, für das auch keinerlei Motivation oder Veranlassung denkbar ist, und das auf ewige Zeiten uns Deutschen anhaften wird. Dafür, für dieses einzigartige Verbrechen trägt Deutschland Schuld und Verantwortung.“ So formulierte es übrigens noch kürzlich der Deutsche Bundestag in seiner Armenien-Resolution vom 02.06.2016.

An keiner Stelle hat Ernst Nolte dagegen so etwas wie eine Apologie des Nationalsozialismus versucht oder gar irgendwelche Verbrechen, die im deutschen Namen begangen oder von Deutschen begangen worden sind, zu verharmlosen, zu entschuldigen oder zu leugnen sich unterfangen, wie es ihm jedoch heute noch einmal auf höchst unredliche Weise im Tagesspiegel auf S. 1 unterstellt wird. Sehr wohl aber hat er versucht, zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Er versuchte das Geschäft des Historikers: Handlungsstränge nachvollziehen, mögliche Motivationen und Triebkräfte freilegen, ohne die historisch Handelnden als den Teufel schlechthin, als den Träger der Schuld schlechthin zu verurteilen –  „mit Abneigung, aber ohne Haß“.

Seine Gegner haben unhistorisch und auf tiefstem Niveau pseudotheologisch mit dem Argument des absoluten Bösen argumentiert, wobei der Rückgriff auf Martin Luthers Schuldbegriff auf krude Weise dem ganzen Volk übergestülpt wurde.

Manet odium sui germanicum! Man lese doch bitte noch einmal Luthers 4. Wittenberger These, und man wird erkennen, wie ein bedeutender Teil der deutschen Gelehrtenschaft ganz im Banne dieses von Luther absolut aufgeladenen kollektiven Schuldbegriffes steht, der letztlich zur Ablehnung der eigenen Identität, zum odium sui, wie dies Luther nannte, führen muss und geführt hat:

4. Manet itaque poena, donec manet odium sui (id est poenitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni caelorum.

Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus. R. Piper & Co Verlag, 2. Auflage München 1965

 Posted by at 16:50