Im Vogel mit starken Schwingen fort nach Georgien

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Aug 192018
 

Schwarzes Meer, lächelndes Ungeheuer, wie lieblich und bläulich kräuselst du dich unter den starken Flügeln meiner Embraer 190! Wie harmlos wirken die Gischtkronen aus 12000 Fuß Höhe, wie sauber gezeichnet sind deine Kringel auf unergründlicher Tiefe! Wie geborgen zieht das winzige Schifflein dort drunten stampfend seine Bahn! Wie gastlich empfängst den Fremdling du, wohlwollendes Binnenmeer, so nannten dich schon die Alten! Zielort Tbilisi, Tiflis nennt dich Germaniens Volk auch,  – ein Städtename, der viele Geschichten birgt, vieler Menschen Städte und Sinn erkanntest du! Wie freundlich wirst du den Mann aus Berlin-Brandenburgs sandigem Steppenland empfangen?

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Jul 082018
 

Ruhige, friedliche Landschaft am Görlitzer Park, träges Dösen im Sand, in reinlichen Kuhlen sauber verpackt der käufliche Stoff!

Süße wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land! „Hallo Papa“, grüßen dich freundlich die Männer aus Westafrika. Sie halten dich für verlässlich, wir alle wissen, ja, hier herrscht Frieden.

„Anne Anne“, die türkischen Kinder lieben und brauchen die Mütter. Die Väter grillen das leckere Fleisch. Disteln und Ginster verzieren den dürren Platz.

Im Westen versendet die sinkende Sonne glühende Strahlen, ein Scheideblick!

Wie lange dürstest Du noch, glühend Herz?

Komm, Heiterkeit, komm. Denn es will Abend werden.

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L’art de vivre à la munichoise

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Jul 022018
 


Oh spectacle insolite des surfeurs
sur les flots de la rivière qui traverse
le jardin anglais!
Oh vous qui prenez la vague artificielle,
créée par un ressort de beton impitoyable,
je vous adore!
Oh vous qui respirez le poumon vert
de la capitale bavaroise,
qui distille un air tout à la fois
catholique et méridional,
je vous admire!

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Sep 282017
 

Kaum beachtet, meist verwechselt, schwer zu benennen, schwer zu erkennen: die Echte Mehlbeere. Wer achtet ihrer? Wer kann sie von einer Holz-Birne oder einer Echten Mispel sicher unterscheiden? Du, der Du dies liest? Ihr dort draußen? Ich nicht!

Wie dem auch sei – es gibt bei uns in der Schöneberger Heimat nicht nur die Robinie, die Weide, die Esche, die Kastanie, die Buche, sondern eben auch sie: die Echte Mehlbeere. Wie tüchtig ist sie doch! Wie klug schützt sie sich vor dem Klimawandel! Denn ihr Haarfilz auf den Blättern setzt die Verdunstung herab und ermöglicht es dem Baum, auch in sandiger Ödnis zu wachsen. Das ist wichtig, ja vorbildlich in Zeiten der Erderwärmung!

Mein gutes, kenntnisreiches Biologen-Ehepaar schreibt: „Die mehlig-weichen, fad schmeckenden Früchte, sind zwar essbar, eignen sich aber nur als Notnahrung. Getrocknet und vermahlen mischte man sie früher unter das Mehl, um Brot zu backen. Auch für die Gewinnung von Essig lassen sie sich verwenden.“

Mir kam ein Wandersang in den Sinn:

O ihr essigsauren Früchte, ich schätze euch sehr! Mir sollt ihr in Zeiten der Not willkommen sein! Wieviele hungrigen Mägen sättigtet ihr schon? Wie oft stilltet ihr das Geschrei der unmündigen Kindlein? Dein unten silberweiß behaartes Blatt, Aria, nötigt mir Ehrfurcht und Scheu ab wie das spärliche aschene Haar meiner Urgroßmutter Shulamith.  Sei mir gepriesen, Sorbus aria, sei mir gelobt und sei mir gesegnet, du echte, trutzige, nährende Beere! Andere starben, du lebst und wirst leben!

 

Bild: Echte Mehlbeere, Sorbus aria im Schöneberger Natur-Park Südgelände. 28.09.2017
Zitat:
Echte Mehlbeere. Sorbus aria (Rosengewächse), in: Margot und Roland Spohn: Welcher Baum ist das? Kosmos Naturführer, Stuttgart 2014, S. 111

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Das unhörbar leise Rascheln der Nachtkerzen

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Sep 222017
 

Wieder und wieder führt mich der Weg in mein gelobtes Arkadien, den Südpark am Lokschuppen. Gerade in diesen Tagen bietet die Natur unendlich viel: die Guteschafe sind in ein neues Geviert eingewiesen worden, während der zottige Hütehund alles im scharfen Auge behielt.

Zu voller Höhe sind die Gemeinen Nachtkerzen aufgeschossen.  Sie können gut und gern 200 cm erreichen und prangen als unangefochtene Herrscher über ein kleines Stück Wiese. Wenn du willst, sprich mit ihnen! Warum sollte man diese leuchtend gelb blühenden Blumen nicht anreden? Ich versuchte es so:

 

 

 

 

 

Erst in der Abenddämmerung werdet ihr euch entfalten,
Vierfach geblätterte Blüten, die ihr sitzt in den Achseln der
Blätter. Leise knistert und raschelt das zarte Gekeime.
Welches Ohr wird euch hören? Wer wird euch sehen?
Drei Minuten nur dauert es, dann seid ihr völlig entfaltet,
Stotzig und steif steht der ragende Stengel nach oben,
Weiter empor dann strebt noch während des Blühens der Ständer,
Eine Nacht nur leuchtet und glänzt ihr im sanften Mondschein,
Jäh und plötzlich verwelkt ihr im Licht  des folgenden Tages.
Aus und vorbei ist’s für manche der prachtvoll erglänzenden Blüten, doch
Siehe, Geliebte! Gleich morgen, die schwellenden Kapseln drängen sich vorwärts,
lange dauert es nicht, dann blühen die nächsten uns wieder.

Fotos: heute aufgenommen im Naturpark Schöneberger Südgelände

Hinweise und Auskünfte zum besseren Verständnis der hier angesprochenen  Gewöhnlichen Nachtkerze lieferte uns:

Margot und Roland Spohn: Welche Blume — ist das? Über 450 Blumen Europas. Kosmos Naturführer, Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2017, hierin: „Gewöhnliche Nachtkerze. Oenothera biennis (Nachtkerzengewächse)“, S. 211

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Ein Europäer von echtem Schrot und Korn

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Aug 252017
 

„franczoisch, morisch, katlonisch vnd kastilian,
teutsch, latein, windisch, lampertisch, Rewsisch vnd roman –

dy zehen sprach hab ich gepraucht, wann mir zeran;
auch kond ich fidlen, trummen, pauken, pheyffen.
Jch hab umbfaren Jnsel und aren, manig land
auff scheffen gros, der ich genos von sturmes bant“

 

Also hast gesprochn vnd gsunga, du guter fidler und gesell,
sänger, landfahrer, kämpfer, komödiant
mir ham di erscht neili bsucht an deiner alten stell,
burg hauenstein ist sie genannt,
von dort hobm mir geschaut ins ganze land,
nunter auf di alm nach Seis, auffi zu die kofelspitzen,
mit schrofengelände und felsenritzen,
fiari nach sankt Valentin zur rechten hand,
und nachert hamma do no gsessn,
und ham die kaminwurzn alle gessen.

des ohngeacht
hamma vui glacht
oba freili, neili,
gschumpfn host a no wiara teifi.

 

Zitat: Oswald von Wolkenstein: „ES fugt sich, do ich waz von zehn Jarn alt“. In: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Eva und Hansjürgen Kiepe [=Epochen der deutschen Lyrik, hg. von Walther Killy, Band 2] dtv, Wissenschaftliche Reihe, München 1972, S. 193-197, hier S. 194

Bild: Blick von der Burgruine Hauenstein, zu einem Drittel im Besitz Oswald von Wolkensteins, auf das Dorf Seis, Aufnahme vom 16.08.2017

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Jul 202017
 

Ein Höhepunkt unserer Radtour war am vergangenen Sonntag der Anblick dieser ältesten Darstellung Rathenows; dieses im Jahr 1571 für den Stadtschreiber Nesen gemalte Epitaph zeigt die Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37). Die Familie der Stifterin Anna Hansen ist unten im Querformat zu sehen.

Jesus, selbst ein zutiefst gläubiger, offenkundig zutiefst von Zweifeln durchgeschüttelter Jude, auf dem Bild rechts zu sehen, erzählt diese Geschichte einem jüdischen Rechtskundigen, um eine Rechtsvorschrift aus dem 3. Buch Mose (Levitikus 19,18) zu erörtern. Im Vordergrund links gießt der Samariter dem Mann, den die Räuber überfallen haben, Öl und Wein in seine Wunden.

Was geschah dann? Das lesen wir aus dem darüber gemalten Bildfeld heraus: Der Samariter setzt den Verwundeten auf sein Pferd und bringt ihn zur weiteren Versorgung in die Stadt. In welche Stadt? Die Erzählung des Lukas  erwähnt doch keine Stadt, sondern eher so etwas wie eine Karawanserei, eine Unterkunft an der Landstraße!

Und doch wird eine Stadt dargestellt – es ist die Stadt Rathenow, und zwar in genau dem baulichen Zustand, den sie im Jahr 1571 gehabt haben dürfte. Die Heimatstadt Anna Hansens soll also zur Bühne werden, auf der sich die Geschichte vom Barmherzigen Samariter wieder und wieder ereignet. Der Horizont des Hier und Jetzt, der Horizont des Nächsten, also das Havelland, verschmilzt mit dem Horizont der Ferne der Geschichte des Evangeliums, die sich ursprünglich ja an der Straße von Jerusalem nach Jericho abgespielt hat.

So wird diese ferne Vergangenheit des Jahres 1571 vor dem Hintergrund des Evangeliums lesbar. Lesbarkeit des Bildes, Lesbarkeit der Welt!

Dieses Grabbildnis konnte die furchtbare mehrtägige Feuersbrunst im Frühling des Jahres 1945 nur überdauern, weil der Pfarrer es in weiser Vorahnung in den Turm eingemauert und dadurch vor Plünderung und Brand bewahrt hatte. Nach dem Kriegsende wurde es wieder aus dem Mauerversteck befreit.

Der Ursprung des Evangeliums wird also in Rathenow erneuert. Im Betrachter entspringt eine Wiedervergegenwärtigung dieser Geschichte von Verbrechen und Rettung, von Abgrund und Aufstehen. Das Nächste, die unmittelbare Umgebung, wird im Nächsten, im Menschen an deiner Seite zur Heimstätte der aufscheinenden Wahrheit. Denn das griechische Wort πλησίον kann sowohl die Person des Nächsten bedeuten wie auch den adverbial zu verstehenden Nahbereich, also „das Nächste“.

καὶ τίς ἐστίν μου πλησίον; Diese Frage des jüdischen Gesetzeslehrers (Lk 10,29) lässt sich auf zweierlei Art übersetzen: Wer ist denn mein Nächster?, oder: Wer ist mir denn am nächsten?

Lukas, der von Beruf Arzt war und ein sehr gepflegtes Griechisch schreibt, verwendet die griechische Wendung ἰδὼν ἐσπλαγχνίσθη, um die Reaktion des Samariters bei der Begegnung mit dem Verletzten zu beschreiben. Das lässt sich ungefähr so wiedergeben: „Bei diesem Anblick ging es ihm durch die Eingeweide, es durchfuhr ihm den Bauch„. Im Samariter geschieht also etwas Leibhaftiges, er kann sich nicht schützen, er lässt es sich erbarmen. Er überlegt also nicht lange: Was ist meine sittliche Pflicht?, sondern er fühlt eine innere leibhafte Regung. Er leidet mit!

In Erinnerung an Paul Celans Gedicht „Unlesbarkeit“ wage ich zu schreiben:

LESBARKEIT dieses Bildes, Lesbarkeit
dieser Welt. Die Doppelung

der Horizonte verschmilzt in
Herz, Lunge, Leber und Milz.

Im Zeitspalt, in imo abyssi,
zutiefst eingeklemmt,
entspringst du dir. Das Du. Rette,
tue das und leben wirst du
in Rathenow.

 

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Der Kopf der Natter spricht

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Jul 162017
 

Ich: Borstige Blattrosette im ersten Jahr.
Lanzettliche Blätter, wechselständig.
Erst sind rot in der Knospe die Blüten,
Rosa dann und blau erst ganz geöffnet.

Euch Menschen soll ich wohl gefallen? Mitnichten!
Dafür verantwortlich: Änderungen des Zellsäuregehalts,
zelluläre Innenverhältnisse, da staunt ihr, was?
Dennoch: den Bienen besonders, aber auch andren Insekten,

Biete ich mit meinen geöffneten, noch rosafarbenen
Blüten wohlschmeckenden Seim, den klebrigen Nektar.
„Natternkopf“, einen ganz gewöhnlichen nennt ihr mich,
Pah! Fürchtet ihr meine weit herausragenden

Staubblätter, die euch an meine Muhme die Schlange
Gemahnen? S’ist nur mein Fraßschutz vor euch, Menschen!
Das habe ich mir einfallen lassen, ebenso auch
Die steifen Borstenhaare, meinen Stolz!

Ihr nennt mich giftig? Ich bekräftige: Jeder Fraßschutz
Ist recht und richtig vor euch, ihr Menschen!
Ich kenne nichts Gewöhnlicheres als euch, ihr Räuber!
Ihr verbannt mich ins Unkraut, im Ödland tummle ich mich,

Auf Felsen, im Bahngelände, auf Schuttflächen, im Abweg,
Da bin ich zuhaus. Wisst ihr denn, was dies bedeutet?
Was es mir bedeutet? Starrer Hansl, Natterngezücht,
„Echion vulgare“, Stolzer Heinrich, so nennt ihr mich.

Ich nenn euch undankbar, vulgär, gemein! Wegelagerer,
Irrtümler, Unbehauste, „Bipous vulgaris“, bleiche Riesen,
So nenn ich euch, Menschen, ihr allzu Gewöhnlichen!
Ihr begreift mich nicht, werdet mich nicht erfassen, so sei es!

Meine tiefen trichterförmigen Blüten sind euch verschlossen,
Ihr Ungründlichen! Es ist gut so, ihr Menschen.
Ich blühe weiter, unbeachtet von euch. Ich komm schon zurecht.
Ich brauche euch nicht. Geht mir aus dem Schatten!

Ich bleibe sitzen auf meinen Borstenhaaren,
Bin ein Raublattgewächs und bleibe es auch
Und will euch nicht gleichen, EUCH – NIE!

Wertvolle Hinweise und Auskünfte zum besseren Verständnis des hier zitierten Gewöhnlichen Natternkopfes lieferte uns folgendes vortreffliche Werk:
Margot und Roland Spohn: Welche Blume — ist das? Über 450 Blumen Europas. Kosmos Naturführer, Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2017, hierin: „Gewöhnlicher Natternkopf. Echium vulgare (Raublattgewächse)“, S. 189

Foto: gewöhnlicher Natternkopf, aufgenommen heute auf einer Radtour in der Nähe von Mögelin/Brandenburg

 Posted by at 19:49

Aug in Aug mit dem Luchs

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Jun 052017
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen und brachte uns wieder
Parkrind und Wolf, das wollige Schaf, die trächtigen Sauen auf schorfiger Heide!
Aug in Aug verharrte ich da beim geschmeidigen Luchs, der
dehnte und reckte sich, schnappte den Brocken des blutigen Fleisches,
welches ihm hinwarf die eilige Schaffnerin, die uns erklärte,
Leben und Beute des Luchses, wie er sich schlägt und mehrt.
[…]

Gute, endlose Zwiesprache zu Pfingsten mit den Tieren und Menschen im Wildpark Schorfheide! Besonders angetan hat es mir heute der Luchs, den ich noch nie so lange ungestört beobachten konnte. Anschließend wanderten wir zu Fuß zurück zum Bahnhof Groß Schönebeck, besahen die Kirche und das Jagdschloss. Alles schön, alles gut, ein zauberhafter Tag im Sonnenschein und voll üppigem Grün!

 Posted by at 20:13
Mai 112017
 

Augustinus schreibt in seinen Confessiones, Buch VIII: […] quanto ardentius amabam illos de quibus audiebam  salubres affectus, quod se totos tibi sanandos dederunt, tanto  exsecrabilius me comparatum eis oderam, also zu deutsch: Je glühender ich jene [beiden Männer] liebte, über deren heilsame Gefühle ich erfuhrweil sie sich dir völlig zu ihrer eigenen Gesundung geschenkt hatten, desto verfluchter haßte ich mich, wenn ich mich mit ihnen verglich Odium sui, Selbsthaß! Lyndal Roper schreibt über den jungen Erfurter Augustinermönch Martin Luther: „Luther scheint geradezu in Schuldgefühlen geschwelgt zu haben, als könnte er, wenn er es zum Äußersten trieb, eine höhere Stufe des frommen Selbsthasses erleben, der ihn Gott so nahe wie möglich bringen würde.“ Martin Luther schreibt noch in seinen letzten Lebensjahren immer wieder in aller Offenheit von seinem Haß auf sich selbst, von dieser Selbstverwerfung, die ihn ins Äußerste, in den hellen Zorn hineintreibt, in die Verwerfung Gottes, ja in den Haß auf Gott führt: Hierfür ein besonders machtvolles Beispiel, entnommen der Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, in Luthers hell loderndem, an den Afrikaner Augustinus erinnerndem Latein originalgetreu wiedergegeben (Hervorhebung durch uns): [21] Ego autem, qui me, utcunque irreprehensibilis monachus vivebam, sentirem [22] coram Deo esse peccatorem inquietissimae conscientiae, nec mea satisfactione [23] placatum confidere possem, non amabam, imo odiebam iustum et [24] punientem peccatores Deum, tacitaque si non blasphemia, certe ingenti murmuratione [25] indignabar Deo, dicens: quasi vero non satis sit, miseros peccatores [26] et aeternaliter perditos peccato originali omni genere calamitatis oppressos [27] esse per legem decalogi, nisi Deus per euangelium dolorem dolori adderet, [28] et etiam per euangelium nobis iustitiam et iram suam intentaret. Ein erschütterndes Dokument für den Selbst- und Gotteshaß Martin Luthers, auf das ich vorderhand in Erinnerung an Goethe nur mit einigen kunstlos hingeworfenen Knittelversen antworten kann:
Ich höre, Martin, wie’s dich umtreibt:
S’ist Lieb, s’ist Haß, die glühend dich umwinden:
Aus jenen fernsten Gründen,
Wo ganz zuletzt der Mensch nur noch sich selbst erkennt;
Und sich nicht mehr bei seinem eignen Namen nennt,
Bricht über dich ein ungeheures Flammenübermaß!
So viel an dir ist Selbsthaß, Menschenleid,
So viel in dir ist Gotteshaß! O Martin, Martin, hör die Frage:
Wie findet Gott zu dir, Wie findet Gott ein gnädig Ich,
Das ihm verzeiht, ihn aufnimmt, nährt und stärkt,
Und nicht in hellem Zorn auf seine Fehler merkt?
Lass dir verzeihen, lösche aus die Fackel, die in dein Herz gesenkt,
Des Vorwurfs grimme Pfeile zieh aus deiner Brust,
Blick um Dich – das Leben fließt mit Lust
Und wird dir weiter Tag um Tag geschenkt.
Laß Tag es werden. Nimm das Leben heiter, wie es ist.
Laß es gut sein, Martin. Steh auf und geh. …

Und siehe – es war gut, sehr gut war es.

Foto: So schön, so südlich, so heiter ist es heute im Natur-Park Schöneberger Südgelände. Belegstellen: Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie. Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, S. 81 WA = D. Martin Luthers Werke: Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1903 ff., hier WA Band 54, S. 185, zitiert nach: http://www.lutherdansk.dk/WA%2054/WA%2054%20-%20web.htm

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„Ich stand auf dem Bug eines Schiffes“

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Jan 062017
 

Ein Wanderer erzählt: „Es war früh am Tag. Ich stand einsam, vorne an die Reling gelehnt, auf dem Bug eines Schiffes. Unter dem Vordersteven wogten in gleichmäßigem Takt die grünschimmernden Wellen wie die Wipfel eines Waldes, über mir spannte sich ein wolkenloser Winterhimmel. Mein Blick flog dem Geier gleich schwebend über die Gischt dahin auf die Morgenwolken zu. Der aus der unergründlichen Tiefe heraufragende Tang streifte mit leichter, fast zärtlicher Berührung den Bauch des Schiffes. Wir hielten unerschütterlich Kurs, gleichmäßig tuckerten die Motoren. Uns umgab eine unermessliche Weite, grün wie ein Fichtenwald schimmerte das Meerwasser. Vor uns lagen fruchtbare Gegenden, Täler mit satten Weiden, von denen die Sagen berichtet hatten. Im Bauch des Schiffes schlief die Besatzung. Ab und zu erklang krächzend ein Lied aus dem Lautsprecher. Die Mannschaft wünschte sich immer wieder Paolo Conte. Jeden Tag besuchte uns gegen Mittag ein Seeadler, den die Seeleute durch kleine, aus der Kombüse gereichte Fleischstückchen angefüttert hatten.“

„Wohin führte die Fahrt euch?“, fragte ein Zuhörer.

„Wir wussten es nicht“, erwiderte der Erzähler. „Die Sagen der alten Seefahrer boten nur gleichnishafte Andeutungen. Und es war meist nicht klar, ob diese Andeutungen wirkliche Gleichnisse für etwas Unsichtbares waren oder doch die Wirklichkeit nur gleichnishaft beschrieben. Hieß es zum Beispiel: Diese Klippe stand schroffer, zackiger, höher in die Wolken, da dieser Gipfel noch als eine meerumfloßne Insel in den alten Wassern dastand; um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, so erfahren wir nicht, ob es diese Klippe hier war, auf der wir damals in ferner Vergangenheit standen: diese Schnarcherklippe, die wir am 29.12.2016 bei herrlichstem Wetter erklettert hatten. Wir erfahren nicht, woher die Kunde von alten Wassern zu uns kam, und wie und wo der Geist – aber welcher Geist? – brütete, bleibt unfaßbar.“

„Aber daß das Unfaßbare unfaßbar ist, das haben wir gewußt“, wendete unmutig ein Zuhörer ein.

„Ferner“, fuhr der Wanderer fort,  „könnte es sich bei der Klippe in der Sage auch um den Bug eines Schiffes handeln, der mit einer Art Granit-Plateau ausgestattet ist, um dem Betrachter den Eindruck des Unerschütterlichen zu vermitteln.“

„Dann wäre also dieser Schiffsbug eine Täuschung, der granitartig fest gehaltene Kurs eine Art Zaubertrick, um die Mannschaft bei guter Stimmung zu halten und eine Meuterei zu verhindern?“

„Deine Frage ist unentscheidbar“, erwiderte der Erzähler. „Die Sagen versuchen das Unentscheidbare zu entscheiden, aber sie enden in offenen Fragen. Und diese Fragen treiben dich dazu an, selber hinauszusteuern auf den weiten Ozean, der grün unter deinen Füßen wogt wie die Wipfel eines Fichtenwaldes in deiner Heimat.“

 

 

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Danke, Europa-Besinnungs-Adventskalender!

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Dez 232016
 

Aus meiner winzig kleinen fränkisch-schwäbischen Wandergruppe erreichte als Geschenk mich am ersten Dezember ein guter treuer Gefährte für diesen Monat: der Europa-Besinnungs-Adventskalender. Er steht im Bunde mit europäischen Heiligen und Verbrechern, mit europäischen Künstlern, mit Europas Städten und Europas Ländern, er schweift von Nord nach Süd  alles ab, er spürt den feinsten Verästelungen des Lebens nach, er bietet Schokolade und Poesie, Reiseführer für Polen, er kennt Kyrill und Method, Rätselkrimis und Johannes vom Kreuze. Jeden Tag erfreute er mich mit einem in Knittelversen gereimten Merk- und Denkspruch und einem kleinen, aufmerksam gewählten Geschenk.

Ein Beispiel? Das brachte uns der Adventskalender am 9. Dezember:

Denkspruch am 9. Dezember:

Der 9. Dezember ist der Gedenktag des Abel.
Als Kain den Erfolg Abels nicht mehr ertragen,
hat er seinen Bruder erschlagen –
oder ihn gar mit einem Pfeil niedergestreckt?
Das wird ein Rätsel bleiben für uns –
nur Gott hat die Wahrheit entdeckt.

Geschenk am 9. Dezember:
Andreas Venzke: Ötzi. Die Verfolgungsjagd in der Steinzeit. Ein Rätselkrimi. Bilder von Alexander von Knorre. Arena Verlag Würzburg, 3. Auflage 2015

Morgen wird der gute Kalender sein letztes Geschenk hergeben. Zeit, kurz Rückschau auf all das Geschenkte und Gelehrt zu halten!

Versuchen wir es ebenfalls in Knittelversen!

O Kalender, dreiundzwanzig Tage lang
Hast Du mir jeden Morgen eine Freude gemacht,
Und wenn ich traurig war, hast du mich angelacht.
Nie war dir bang,
Du gabst mir alles, was du hast,
Du lagst auf Lauer ohne Hast.
Wenn ich in trüber Morgensupp zum Tag hinüberschwamm,
Erzähltest du Geschichten, die du aufgesogen wie ein Schwamm,
Und vergaukeltest mir manchen Tag,
Wenn ich dankbar dir zu Füßen lag.

Europas Heilige verehrst du wie kein zweiter,
Sie sind Sprossen dir auf deiner Himmelsleiter,
Nicht Geld und Zinsen, Bank und Konvergenzen,
Sind Kerneuropa, überschreiten Grenzen –

Nein, die Wandrer sind’s, die Lehrer, die Gestalter,
Unsichtbarer Schätze Mehrer und Verwalter,
An sie hast du uns stets herangeführt,
Behutsam horchend ihnen nachgespürt;

Mit kluger Hand gewiesen und gelehrt;
Die Herzen auf den rechten Weg gekehrt,
Durst, Kälte, Hitze, Hunger abgewehrt,
Und dann zum Schluss noch meinen Klagen zugehört.

Europa-Besinnungs-Adventskalender
morgen, am 24. Dezember, endet unser gemeinsamer Weg:

Ich danke Dir!   

 

 Posted by at 23:50

Dal tuo stellato soglio. Ein Abendlied

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Sep 082016
 

Ein Lied des Johann Baptist Semaforo, gesungen in der süditalienischen Grecía

Abend ist es. Nun reden lauter alle Quellen. Seefeuer flackern noch auf, hinten am Horizont versinken die letzten Streifen körnigen, streifigen Lichts. Eisiges Weltall verschlingt die letzten Funken der Seefeuer. Zischende Leuchtfeuer verglimmen, salzige Gischt spritzt auf.

Abend ist. Nacht wird. Nun schimmert das Licht herab, nun reden lauter alle singenden Quellen. Und von oben träufelt herab das singende Licht.

Abend ist es. Dunkelheit lastet auf uns. Nun kommt ein Bus heran, nun kommen die Menschen näher an unsere Herzen. Und auch dieser Abend ist ein pochendes Herz. Nun kommen die Menschen heran, nun kommt das Volk heran. Das Volk, welches Volk? Dein Volk, dein Volk kommt heran.

Nun öffnen sich Türen, nun kommen sie hervor aus dem Bus, der den Namen Misericordie trägt. Bleiche Taumler, stinkend von Benzin, vom Werg der Taue umschlungen. Fetzen hängen herab statt Kleidern. Knochen, Gerippe, Knöchelchen, sind das noch Menschen?

Nun öffnest du deine Hände, nun reichst du ihnen das Brot. Du nimmst ihnen den Puls ab, die fertigst die ersten Röntgenbilder.

Von deinem sternenbesäten Thron, Herr, tritt herab! Nun tritt der Gequälte hervor, nun breitet er die Arme aus, nun bittet er, nun dankt er. Niederkniet er, dem die Arme so oft ermatteten. Er kniet nieder, Ihm, dem da, dem großen Unsichtbaren  auf dem sternenbesäten Thron zu danken. Nun haben sie es geschafft.

Abend ist. Nun komm herab, du gute, warme, lauschende Nacht. Sterne, träufelt herab euer Licht. Und du, auf deinem sternenbesäten Thron, beug dich herab, noch ein bisschen mehr. Zeig uns, dass du da bist. Jetzt, ja, jetzt darf es Nacht werden.

Nacht ist es geworden. Nun tönen lauter alle Quellen des Lichts, der Sternengesang schwillt an. Nun öffnen sich alle pochenden Herzen. Und auch die Erde, sie ist ein pochendes Herz.

 Posted by at 22:24