Die neue, die alte, ach die allzu alte Kriegswut

 Friedrich Schiller, Krieg und Frieden, Süddeutsche Zeitung  Kommentare deaktiviert für Die neue, die alte, ach die allzu alte Kriegswut
Nov 282015
 

Aus aktuellem Anlass fügen wir heute ein Gedicht eines in Deutschland vergeßnen Dichters bei. Sein Name tut nichts zur Sache. Nennen wir ihn, diesen unbekannten deutschen Dichter, einfach Fritz Marbacher. An wen richtete sich sein Gedicht? Niemand weiß es. Vielleicht an uns.

Der Marbacher hat damals sehr genau erfasst und verfolgt, was auf der weltpolitischen Bühne geschah: Napoleon erobert mehr als den halben Kontinent Europa, sein Ziel ist die Schaffung eines einzigen großen europäischen Reiches unter französischer Vorherrschaft. Pläne für eine europäische Einheitswährung waren entworfen, doch wollte Napoleon zunächst die politisch-militärische Einheit, erst danach dann die europäische Einheitswährung durchsetzen. 3 Millionen Kriegstote kostete Europa der französische Griff zur Weltmacht innerhalb von weniger als 2 Jahrzehnten. Die europäische Landkarte wurde umgepflügt.

Das ägyptische Abenteuer der Franzosen (1798/99) wurde zum Startschuß für den Wettlauf der beiden führenden Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts um neue Herrschaftsgebiete – Großbritannien und Frankreich. In Afrika, im Nahen Osten und überall. Beider Ziel war die Vorherrschaft rings um den gesamten Globus. Frankreich und Großbritannien richteten so die Determinanten der gesamten Nahostpolitik ein; bis zum heutigen Tage prägt die damalige Eroberungs- und Kriegspolitik der Briten und der Franzosen das weltpolitische Geschehen im Nahen und Mittleren Osten.

Freilich haben mittlerweile die USA und Russland – die neuen führenden Kolonialmächte – Frankreich und Großbritannien überflügelt; China und Indien versuchen aufzuschließen. So haben wir ein überraschend stabiles weltgeschichtliches Tableau vor uns: USA, Russland (1917-1991 Sowjetunion), Frankreich und Großbritannien führen seit damals immer wieder „Koalitionskriege“ mit wechselnden Bündnissen – deren erster fand 1792-1797 statt. Die 4 großen Kolonialmächte, THE BIG FOUR der letzten beiden Jahrhunderte, sind wieder da auf der weltpolitischen Bühne! Sie setzen die kriegerischen Akzente, sie erklären den Kriegszustand, sie beginnen und beenden Kriege. Seit 1792 werden an dieser Stelle in unterschiedlichen Koalitionen Kämpfe um die regionale und globale Vorherrschaft geführt. Der Nahe Osten ist seit 2 Jahrhunderten Schauplatz erbitterter Stellvertreterkriege. Die Völker kommen nicht zur Ruhe.

Und wir? Deutschland lässt sich fast blindlings herumtappend hineinziehen: „Der Krieg im Nahen Osten hat endgültig auch Deutschland erreicht.“ So schreibt es die Süddeutsche Zeitung heute auf S. 1. Man betrauert die 130 Todesopfer von Paris. Zu recht. Aber wer betrauert die 180 zivilen Todesopfer allein im Monat Oktober des Bezirks Aleppo?

Ach, läse man doch hierzulande noch Fritz Marbacher. Ach, könnten doch mehr Menschen in Deutschland die schöne französische Sprache verstehen und lesen! Dann würde es den deutschen Politikern wie Schuppen von den Augen fallen. Dann wäre schon viel gewonnen.

Dann müsste das Austrocknen oder besser Aushungern all der Stellvertreterkriege folgen: Stopp der Waffenlieferungen von außen. Stopp der Finanzflüsse, die diese Kriege seit mehr als 2 Jahrhunderten nähren und füttern. Wiedereinführung des Völkerrechts unter Führung der UN. Wiederherstellung souveräner Staaten. Einhaltung und Durchsetzung des Interventionsverbotes gemäß dem Völkerrecht. Wiederherstellung des grundgesetzlich garantierten Rechtsstaatsprinzips in der Bundesrepublik Deutschland durch Stärkung des Bundestages.

Und hier das Gedicht Fritz Marbachers in der Urfassung von 1802:

An ***

Edler Freund! Wo öfnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öfnet sich mit Mord.

Und die Grenzen aller Länder wanken,
Und die alten Formen stürzen ein,
Nicht das Weltmeer sezt der Kriegswut Schranken,
Nicht der Nilgott und der alte Rhein.

Zwo gewalt’ge Nationen ringen
Um der Welt alleinigen Besitz;
Aller Länder Freiheit zu verschlingen,
Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,
Und wie Brennus in der rohen Zeit,
Legt der Franke seinen ehrnen Degen
In die Waage der Gerechtigkeit.

Seine Handelsflotten streckt der Britte
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen, wie sein eignes Haus.

In des Südpols nie erblickten Sternen
Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf,
Alle Inseln spürt er, alle fernen
Küsten – nur das Paradies nicht auf.

Ach, umsonst auf allen Ländercharten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.

Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum;
Doch auf ihrem unermeßnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.

In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

Quelle:
Gedichte 1800-1830. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Jost Schillemeit [=Epochen der deutschen Lyrik. Herausgegeben von Walther Killy, Band 7], Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., München 1978, S. 67-68

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„Was ist für Sie deutsch?“

 Magdeburg, Süddeutsche Zeitung, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für „Was ist für Sie deutsch?“
Nov 252015
 

Auf diese Frage antwortete gestern in der Süddeutschen der Magdeburger Theologe David Begrich: „Der preußische Ikarus. Immer noch.“ Ein klarer Hinweis auf die trutzig aufbegehrende Ballade unsere Nationalbarden Wolf Biermann! Du kennst sie doch!

[…]
dann steht da der preussische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguss
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht weg – er stürzt nicht ab
macht keinen Wind – und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree

„Was ist für Sie deutsch?“

Darauf antworte ich mit einem vierfachen Glockenschlag:

Eins!
Der Magdeburger Dom mit seinem afrochristlichen Stadtpatron Mauritius, mit der ersten plastischen Darstellung eines Schwarzafrikaners im Norden der Alpen.

Vergiss es nicht ganz, o Magdeburg!

Zwei!
Die Magdeburger Stadtpatronin, Katharina von Alexandria, eine ägyptische Vorkämpferin der Frauenbildung und der Frauenemanzipation im Nahen Osten, die eine zahlenmäßig vielfach überlegene Schar an akademischen männlichen High-Potential-Philosophen in Grund und Boden disputierte.

Sei dir dessen bewusst und sei dankbar dafür, o Magdeburg!

Drei!
Das Magdeburger Stadtrecht, das modellhaft weithin strahlend in vielen Städten Europas Anwendung fand, darunter Königsberg, Kaunas, Vilnius, Warschau, Posen, Kiew und Minsk. Das Magdeburger Recht samt seinen Tochterrechten ermöglichte die Herausbildung städtischen Selbstbewusstseins, städtischen Eigenrechts in weiten Gegenden Europas. Städte – nicht die Territorialherrschaften waren die Keimzelle der Demokratie.

Gedenke dessen und vergiss es nicht, o Magdeburg!

Vier!
Otto I., römisch-deutscher Kaiser ab 962. Etwa ab dem Jahr 962 vollzog sich die Herausbildung eines mehr oder minder deutlich ausgeprägten Eigenbewusstseins der Deutschen. Erst seit etwas mehr als 1000 Jahren gibt es so etwas wie „deutsche Geschichte“ – oder besser „Geschichte der deutschen Lande“.

Schieb es nicht ganz weg, o Magdeburg!

Ein paar Zeilen seien rasch noch hingeworfen:

Magdeburger Mauritius an Preußens Ikarus

Du lass dich nicht verhärten
Von Eisen, Schuld und Stolz,
Von Riegeln und von Gerten,
Du bist aus weichem Holz.

Entfalt doch deine Flügel,
Steig raus aus deiner Gruft,
Tu ab den spröden Zügel,
Erheb dich in die Luft!

Zerspreng den Bann des Bösen,
Du kannst mehr als du denkst,
Lass dich vom Windhauch lösen,
Du fliegst so wie du lenkst.

Lass irre Tölpel keifen,
Flieg wie dein Herz dich trägt,
Lass deine Bahnen schweifen,
Zur Stelle die dich hegt.

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„Gibt die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürgern eine Garantie auf Wohlergehen?“

 Faulheit, Flüchtlinge, Migration, Süddeutsche Zeitung, Verwöhnt  Kommentare deaktiviert für „Gibt die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürgern eine Garantie auf Wohlergehen?“
Nov 242015
 

Der Magdeburger Theologe und Sozialwissenschaftler David Begrich sagt heute in der Süddeutschen Zeitung auf S. 11:

Die Flüchtlinge werden zur Projektionsfläche des Krisenbewusstseins. Dessen Kern liegt darin, dass der Kapitalismus nach der Wende das Versprechen gab: Wenn du fleißig tüchtig bist, kannst du es schaffen. Die Wahrheit ist: Es gibt auch im Falle von Fleiß und Tugendhaftigkeit keine Garantie mehr auf Wohlergehen.

Damit setzt der Magdeburger meiner Meinung einen Kristallisationspunkt der Debatte! Denn aus der Sicht der Flüchtlinge ist die Wahrheit genau das Gegenteil dessen, was laut Begrich viele ehemalige DDR-Bürger empfinden. Die Flüchtlinge denken eher: „Die Bundesrepublik Deutschland gibt dir, sobald du einmal einen ordentlichen dauerhaften Aufenthaltstitel in Deutschland hast, in jedem Fall eine Garantie auf lebenslanges Wohlergehen. Du brauchst nicht einmal fleißig und tüchtig zu sein.“ In der Tat ist es aus der Sicht der Neubürger genau so: Dank des unzerreißbaren Netzes an Sozialhilfe, Beihilfen, Zuschüssen, staatlichen Benachteiligtenkompensationsmechanismen, Wohngeld, Heizkostenzuschuss usw. usw. gelingt es allen Zuwanderern mit einem legalen Aufenthaltstitel, eine lebenslange Garantie auf Wohlergehen für sich und für ihre nachziehenden Angehörigen und Nachkommen zu erlangen. Das ist nun einmal so. Anders sieht es in echten Einwanderungsländern wie etwa den USA aus.

„Wer nicht arbeiten will, braucht auch nicht zu arbeiten.“ So hat es einmal ein Mitarbeiter eines Berliner Jobcenters anonym in einer Berliner Zeitung ausgedrückt. Und so ist es auch bei uns in Deutschland.

Wer hat nun recht – die Flüchtlinge mit ihrem Ruf „Auf nach Deutschland!“ – oder der Magdeburger Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus – Miteinander e.V. in Magedeburg? Ich denke, wenn man Wohlergehen als lebenslange Garantie auf Unterkunft, Essen, medizinische Versorgung, finanzielle Grundversorgung und Zugang zu kostenloser Schulbildung definiert, dann haben die Einwanderer – nicht David Begrich – recht. Es kann für Migranten deshalb derzeit weltweit nur die Devise geben: „Auf nach Deutschland! Dort haben wir alles: Unterkunft, Essen, medizinische Versorgung, reichlich Taschengeld, kostenlose Schulbildung – und keinen Zwang zu arbeiten und keine echten Verpflichtungen.“ Aus der Sicht von Menschen in den meisten anderen Ländern ist Deutschland in der Tat eine Art Garten Eden. Das Geld liegt auf der Straße. Voraussetzung ist eine amtliche Registrierung in Deutschland und die Zuerkennung eines vorläufigen oder auch dauerhaften Aufenthaltstitels.

Definiert man hingegen Wohlergehen als Berufserfolg, überdurchschnittliches Einkommen, Eigenheim, Frauengleichberechtigung, eigenes Auto, lebenslange Arbeitsplatzgarantie, dann kann „der Kapitalismus“ bzw. die Bundesrepublik Deutschland dies natürlich nicht garantieren.

Dann hat also David Begrich vollkommen recht.

Und die Wahrheit ist … ? Was ist überhaupt Wahrheit? Gibt es nur eine Wahrheit?

Was meinst du, lieber Leser?

Unbedingt lesenswert ist dieses Gespräch!

Beleg:
„Der geteilte Himmel“. Interview mit David Begrich. Süddeutsche Zeitung, 24.11.2015, S. 11

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Nov 212015
 

Starkes Wiederauftauchen des Generals de Gaulle und des Gaullismus in genau diesen Tagen! Was für eine Gestalt! Der Sozialist Hollande greift in seiner kriegerischen Rhetorik klar auf ihn zurück! Und der Flugzeugträger, der de Gaulles Namen trägt, ist unterwegs ins östliche Mittelmeer.

Oskar Lafontaine bekennt sich heute im Magazin der Süddeutschen Zeitung „in einem Punkt als überzeugter Gaullist„: er setzt wie de Gaulle die sicherheitspolitischen Interessen Europas an die erste Stelle; und die lassen seiner Meinung nach einen Interventionskrieg nicht zu.

Lafontaine ist wehrrechtlich ein waschechter Nationalkonservativer. Er beschränkt das Recht zur Kriegführung wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf den Verteidigungskrieg. So steht es ja auch wirklich im Grundgesetz! Man sollte es nicht glauben, aber es ist so. Und auch die Völkerrechtler verneinen weltweit überwiegend das Recht auf den Interventionskrieg, während jedem Staat unstrittig das Recht zur bewaffneten Selbstverteidigung zugesprochen wird. Lafontaine sagt: „Für mich ist die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee und keine Interventionsarmee.“

Mehr zufällig entdeckte ich dann beim Blättern in einem Buch über die Entstehung der Sowjetunion ein verschwommenes Schwarz-Weiß-Bild de Gaulles aus seinen frühen, den russischen Tagen als Kämpfer der Weißen Armee im Bürgerkrieg, dem sowjetisch-polnischen Krieg zwischen den Roten, den Bolschewiki einerseits, den Polen, Sozialdemokraten, Konservativen und Alliierten verschiedener europäischer Länder andererseits! Dem überragenden militärischen Geschick Trotzkijs, seiner Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung, der konsequenten Liquidierung der Gegner, der massenhaften Ermordung der innenpolitischen Feinde, der flächendeckenden Errichtung von Konzentrationslagern, der unerbittlichen Härte der von Trotzkij geschmiedeten Roten Armee hatten die Weißen keine annähernd gleichwertige Kampfkraft entgegenzusetzen. Auch fehlte ihnen eine konsequente Strategie.

Die Roten verjagten schließlich die Interventionsarmee der Weißen und setzten alsbald zu den Angriffskriegen auf das vorübergehend unabhängige Georgien, auf die vorübergehend unabhängige Ukraine, auf die vorübergehend unabhängigen baltischen Länder, auf das wiedererstandene Polen und auf Finnland an. Lenin, Trotzkij, Berija, Dzierzinski, Stalin, Sinowjew, Swerdlow schossen sich 1920/21 in einem gnadenlos geführten Bürgerkrieg ihren welthistorischen, mit Strömen von Feindesblut getränkten Weg frei und betrieben von da an, von den frühen 20er Jahren an konsequent eine militärisch aggressive Expansionspolitik selbst noch über die Grenzen des ehemaligen Russischen Reiches hinaus – mit dem vorläufigen Endpunkt der Besetzung Ostpolens in den Jahren 1939-41.

Die Rote Armee war ursprünglich zusammengeschmiedet als Bürgerkriegsarmee. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg wurde sie umgeschmiedet zur Angriffsarmee, in deren Schatten die Tscheka, die GPU, der NKWD ihren Terror gegen die Volksmassen entfalten konnten.

Und De Gaulle? Er hatte seinen frühen militärischen Kampf gegen die Bolschewiki verloren. Hätte es sich aber der Rechtskonservative de Gaulle je träumen lassen, dass er in den 40er Jahren den Schulterschluß mit den früher erbittert bekämpften Bolschewiki, dass er das Bündnis mit der UDSSR suchen würde, um den gemeinsamen Feind, das Deutsche Reich und dessen Verbündete Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien niederzuringen?

Im Zug nach Hamburg las ich als Dreingabe einen glänzend formulierten, höchst lesenswerten Aufsatz des Althistorikers Egon Flaig über den Historikerstreit, der eigentlich eher ein erinnerungspolitischer „Bürgerkrieg“ war, in dem es kaum um Fakten, sondern mehr um Meinungen über höchst selektiv erinnerte Fakten ging. Auch heute werden die über die letzten 25 Jahre gesammelten Erkenntnisse der Fachhistoriker zu den Ländern des ehemaligen Sojewtblocks im bundesdeutschen Feuilleton nur spärlich zur Kenntnis genommen. Die Sowjetunion bleibt die große Unbekannte im deutschen Erinnerungsdiskurs. So kann kein „Haus Europa“ gebaut werden.

Lesehinweise:
„Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom.“ Interview mit Peter Gauweiler und Oskar Lafontaine. Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 47, 20.11.2015

Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, Foto des Majors Charles de Gaulle: Seite 127

Egon Flaig: Die ‚Habermas-Methode“ und die geistige Situation ein Vierteljahrhundert danach. Skizze einer Schadensaufnahme. In: Mathias Brodkorb (Hrsg.): Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“. Adebor Verlag, Banzkow 2011

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„Selbstgleichschaltung“ bis zum „Kadavergehorsam“ in Deutschlands Parlamenten?

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Okt 202015
 

Vor der Gefahr einer neuen „Selbstgleichschaltung bis zum Kadavergehorsam“ spricht Peter Steinbach in seinem neuen Buch „Nach Auschwitz“. Die Kolonialgreuel im Kongo, die Greueltaten der russischen Oktoberrevolution, der Holodomor in der Ukraine, die Shoah in den Ländern Osteuropas (fälschlich mit „Auschwitz“ gleichgesetzt), die Massaker in Ruanda … die Liste der einzigartigen, erschütternden Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts ist lang! Stets funktionierten solche Massenverbrechen im Zusammenwirken vieler Befehlsempfänger und vieler williger Vollstrecker.

Kadavergehorsam auch heute? Ich denke, an der Warnung Steinbachs ist vielleicht schon etwas dran, aber von Selbstgleichschaltung oder Kadavergehorsam der Parlamente kann man heute in der Bundesrepublik nicht sprechen. Unsere Demokratie lebt, die Freiheitlich-Demokratische Grund-Ordnung gilt es zu schützen und zu hegen!

Ich sehe eher die Gefahr einer Selbst-Entmachtung der parlamentarischen Demokratie. Was sich derzeit abspielt, „geht an die Substanz der parlamentarischen Demokratie“ (Stefan Marschall).

Die Parlamente der Bundesländer und der Bundestag sind eigentlich die Herzkammern der Demokratie – oder sollten es sein. Aber heute werden sie immer mehr in den Schatten gestellt von der Bundesregierung, die eigentlich fast schon eine Zentralregierung geworden ist, und vor allem in den Schatten gestellt von der EU. Insbesondere die Fraktionen der CDU und SPD begreifen sich offenkundig immer mehr als Wasserträger und gehorsame Stützen ihrer Regierungen und Abnickorgane der EU-Behörden. „Vorgaben der EU wollen wir eins zu eins umsetzen“, heißt es im geltenden CDU-SPD-Koalitionsvertrag für den Bundestag. Was brauchen wir noch mehr? Das ist der brave Gehorsam von Schuljungen! Man vergleiche nur etwa einmal anhand der amtlichen Datenhandbücher des Bundestages die Zahl der Vorlagen und der Gesetzentwürfe, die die Bundesregierung einbringt, mit der viel geringeren Zahl an Vorlagen, die aus dem Bundestag selbst kommen!

Nein, Herr Steinbach, es droht nicht der Kadavergehorsam, sehr wohl aber die Gefahr der schleichenden Aushöhlung der Macht der Bundesländer und der Macht der Parlamente! In der 17. Wahlperiode betrug die Zahl der EU-Vorlagen im Bundestag atemberaubende 4258 – gegenüber noch 946 in der 6. Wahlperiode (1969-1972)! Und sehr oft begreifen die Bundestagsabgeordneten nicht, was sie da abnicken und durchwinken. Die Gesetze und Vorlagen sind ganz bewusst derart kompliziert, dass sehr oft nur eine winzige Handvoll Fachpolitiker deren Sinn und Zweck einschätzen kann.

Und das berühmt-berüchtigte Volk? Tja, das Volk – oder sagen wir besser die Bevölkerung – kriegt das natürlich irgendwie mit. Und es, das Volk, wird sauer.

Ich würde von einem schleichenden Übergang, einem Trasformismo (wie im Italien des späten 19. und 20. Jahrhunderts) sprechen, mit dem die parlamentarische Demokratie allmählich in eine zentral gesteuerte Apparatur der Machtausübung in den Händen der Exekutive umgewandelt wird. Der Wandel geschieht unmerklich, ist aber konkret an neuralgischen Themenfeldern wie etwa Flüchtlingspolitik und Finanzpolitik (Euro-Politik) nachweisbar. Diese Gefahr lässt sich meines Erachtens nicht leugnen.

Es ist noch nicht zu spät, um dieser Gefahr zu steuern.

Beleg:
Ulrike Nimz: Gedanken über Gedanken. Süddeutsche Zeitung, 20.10.2015, S. 15 [= Rezension von:
Peter Steinbach: Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung. Dietz Verlag 2015]

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Aug 282015
 

„Es zeigt sich einfach, dass der Euro nicht funktioniert, sondern immer größere wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt, und am dramatischsten zeigt sich das eben in Griechenland“, wurde am Wochenende eine Bundestagsabgeordnete in der WELT und der FAZ zitiert. Krass. Eine steile, ja geradezu eine krude These! Die Bundestagsabgeordnete NN bemängelt am Euro-System, dass es die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen zu stark einenge.

Das ganze Euro-Wesen – so dürfen wir zusammenfassen – sei also gewissermaßen das Ende der Freiheit. Ich denke, die krude These dieser Bundestagsabgeordneten NN verdient eine vorurteilslose Diskussion.  Aus diesem Grund sei ihr Name hier nicht genannt. Wie sie heißt und welcher Partei sie angehört, spielt hier keine Rolle; der Wahrheitsgehallt einer Aussage bemisst sich schließlich nicht danach, wer sie äußert. Entscheidend ist stets: Trifft diese Aussage zu? Ist sie wahr, teilweise wahr – oder ist sie falsch, teilweise falsch?

Zweifellos stützt sich die zitierte krude These nicht nur auf softe Gefühle, sondern auch auf harte Zahlen. Die Schere zwischen wohlhabenderen und ärmeren Volkswirtschaften ist seit 1996 innerhalb der Eurozone deutlicher als außerhalb der Eurozone auseinandergegangen. Das verblüfft, beruhte der Euro doch auf der Grundannahme der Konvergenz. Die Konvergenz der Euro-Volkswirtschaften hat jedoch abgenommen, die Divergenz hat hingegen dramatisch zugenommen. Und nunmehr hat ausgerechnet im Reiche des Euro sogar Frankreich den Status als wichtigster Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland an die USA abgeben müssen; Handelspartner Nummer 1 sind jetzt die USA, nicht mehr wie jahrzehntelang Frankreich. Das heißt, das Handelsvolumen Deutschlands mit den USA hat während der Herrschaft des Euro stärker zugelegt als das mit Frankreich. Der außenwirtschaftliche Trend zeigt also abwärts für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone.

Noch krasser ist aber der Befund in der drittwichtigsten Euro-Volkswirtschaft, in Italien. Hier haben wir aktuell eine Jugendarbeitslosigkeit von 43%, Italiens Volkswirtschaft  ist seit 1996 – als der Jubel über den Euro-Beitritt  unüberhörbar erscholl –  fast nicht mehr gewachsen.  Darüber hinaus hat sich sogar innerhalb Italiens die Divergenz zwischen ärmeren und reicheren Gegenden vergrößert. Der Süden Italiens – dem ich mich übrigens durch langjährige Erfahrungen mit jeder Faser meines Herzens verbunden fühle –  leidet an einem langanhaltenden wirtschaftlichen Niedergang. Quasi quasi mi si strazia il cuore! Adriano Giannola, 71, emeritierter Professor für Finanzwirtschaft, Präsident der Vereinigung für die Entwicklung des italienischen Südens (SVIMEZ) sagte es am 24.08.2015 in der Süddeutschen Zeitung (S. 18) so: „Der Euro hat die innere Spaltung des Landes in einen mangelhaft kapitalisierten Süden und in einen halbwegs leistungsfähigen Norden eher befördert als vermindert.“

Und immer wieder spreche ich persönlich auf Kreuzbergs und Schönebergs Hinterhöfen mit gut ausgebildeten Akademikerinnen und Akademikern aus Portugal und Spanien, die deutsche Plätze fegen, deutsches Unkraut jäten, deutsche Treppenhäuser putzen. Man fragt sich mit Horaz: Hoc erat in votis monetae unicae dedicatis? Ward dies dem Euro an der Wiege gesungen?

Dabei soll aber nicht alle Schuld ausschließlich dem Euro gegeben werden! Das tut ja auch niemand. Fest scheint aber zu stehen, dass der Euro nicht nur wegen politischer Versäumnisse und Fehler, sondern auch aus strukturellen, aus systemischen Gründen im vergangenen unrühmlichen Ventennio der Eurozone insgesamt mehr Schaden als Nutzen beschert hat.

Insofern ist – egal was die LINKE-Mehrheit, die CDU/CSU-Mehrheit, die SPD-Mehrheit und die FDP-Mehrheit nicht müde werden zu behaupten und endlos weiter vertreten  – der Bundestagabgeordneten Sahra Wagenknecht und dem Finanzwirtschaftler Adriano Giannola vorsichtig zuzustimmen. Beide haben eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient.

Sahra Wagenknecht und Adriano Giannola gehören zweifellos zu den Minderheitlern, den Menschewiki im Chor der politischen Stimmen, wie sie auf Russisch zu Beginn des 20. Jahrhunderts genannt wurden.  Aber sie haben gerade deswegen eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient. Man sollte sie nicht als Rechtspopulisten oder Europafeinde abkanzeln.

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/montagsinterview-italien-ist-nie-eine-geeinte-nation-gewesen-1.2617855?reduced=true

http://www.welt.de/politik/deutschland/article145454656/Sahra-Wagenknecht-stellt-den-Euro-infrage.html

http://www.svimez.info/index.php?lang=en

 Posted by at 12:21

Ist das europäische Volk also europafeindlich? Ist der Euro europafeindlich – oder nur EU-feindlich? Ist die Süddeutsche Zeitung rechtspopulistisch? Oder auch umgekehrt?

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Jun 202014
 

Nachdenklich stimmender Aufsatz in der aktuellen Süddeutschen Zeitung aus der Feder von Andreas Zielcke: Union ohne Bürger. SZ, heute, 20.06.2014, S.11!

Der SZ-Autor  deutet das Wahlergebnis als Ausdruck des Misstrauens der europäischen Bürgerinnen und Bürger gegenüber der EU. Als ein hauptschuldiger Auslöser, ja als der hauptschuldige Auslöser der tiefen EU-Krise wird hier der Euro genannt. Das Gefälle zwischen ökonomisch besser und den schlechter aufgestellten Staaten aufgestellten sei seit 1992 dramatisch angewachsen. Der Euro habe die Wirtschaftskraft der EU stark verschlechtert. „Daher vergrößert der Euro die Abgründe zwischen den Euro-Nationen, statt sie zu überbrücken. Die Staaten mit schwächerer Wettbewerbsfähigkeit geraten immer stärker unter Druck, die Tendenz zur Ungleichhheit beschleunigt sich. Umgekehrt profitieren wirtschaftsstrukturell überlegene Länder wie Deutschland überproportional von dieser Unwucht.

 

Zielcke fordert eine tiefgreifende Änderung der Europäischen Verträge. Ohne tiefgreifende Änderungen der EU-Verträge vermöge europaweiter Volksabstimmungen sind die von Zielcke avisierten Verbesserungen eines insgesamt schlechten Zustandes der EU nicht zu haben. Als einen wesentlichen Auslöser der tiefen EU-Krise erkennt Zielcke die Währung. Die Einheitswährung Euro ist in Zielckes Darstellung aus strukturellen Gründen neben der Selbstherrlichkeit der Institutionen und Parteien der Spaltpilz, der die EU auseinanderzutreiben droht.

 

 Posted by at 11:37
Nov 212011
 

Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Rheinland-Pfalz sind die Bildungssieger, wie der aktuelle SPIEGEL auf S. 71 berichtet. „Bayern und Baden-Württemberg, die Seriensieger in Bildungsvergleichen, schneiden insgesamt hervorragend ab“ (SPIEGEL Nr. 47, 21.11.2011, S. 72).

Woran mag das liegen? Sicher nicht am Geld, auch nicht an der Bildungsinfrastruktur, denn auch mit mehr Geld und besserer Bildungsinfrastruktur schaffen es andere Bundesländer nicht, die beiden Südstaaten einzuholen. Liegt es an der jahrzehntelangen CDU/CSU-Herrschaft in den vier genannten Südstaaten? Oder wählen erfolgreiche Bundesländer CDU/CSU?

Nein, das wäre zu grob vereinfachend. Daran mag aber soviel richtig sein, dass Bildungslandschaften Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchen, um einen hohen Stand zu erreichen. Die historisch-geographische Lage ist sicherlich ein Schlüssel für das Verständnis der Süd-Nord-Spaltung der Bildungsrepublik Deutschland.

Denn die genannten vier Bundesländer verbindet, wie ein Blick in jeden Geschichtsatlas lehrt, eines: Sie haben eine jahrhundertelange Tradition der kleinräumigen Eigenständigkeit, sie sind gekennzeichnet durch ein dichtes Netz an konfessionell, kommunal und regional getragenen „Pflanzstätten der Bildung“. Ein typisches Beispiel dafür ist das berühmte Tübinger Stift, aus dem Schelling, Hölderlin und Hegel hervorgingen. Die zahlreichen städtischen Volksschulen Bayerns mit ihrem täglichen gemeinsamen Singen von Schülern und Lehrern sind ebenfalls ein Faktor, der den überragenden Erfolg des bayerischen Schulwesens zu erklären vermag.

Die vier Bildungssieger widersetzten sich stets dem Gedanken eines starken deutschen Zentralstaates. Sie sind die „Abweichler“ vom starken Zentralstaat, die sich übrigens auch dadurch auszeichneten, dass in ihnen vor 1933 die extrem zentralistische NSDAP nie so stark war wie in den nördlichen und östlichen Teilen des Deutschen Reiches.

Die südlichen Königreiche Bayern (mit Rheinkreis) und Württemberg, das Großherzogtum Baden, das Königreich Sachsen bildeten mehr oder minder vollständig jenes eine Drittel des Deutschen Reiches, das vor 1871 nicht zum Königreich Preußen gehört hatte! Die nördlichen Bundesländer hingegen, die zum stark zentralisierten Preußen gehörten, bilden ausweislich des aktuellen SPIEGEL die untere Häfte des Bertelsmann-Bildungsatlanten. Die stark regional, kommunal und kirchlich geprägten südlichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, in geringerem Umfang auch Sachsen segeln seit Jahrzehnten mit vollen Segeln den anderen Bundesländern voran.

Die Verantwortung weg vom Zentralstaat auf die jeweils niedrigste Ebene zu verlagern oder auf ihr zu halten, das ist der Kerngedanke der Subsidiarität.

Der druckfrische SPIEGEL feiert einen großartigen Sieg für die Subsidiarität, er liefert ein klares Votum gegen den Zentralismus in der Bildungspolitik.

SPIEGEL ONLINE Forum – Braucht der Bund mehr Kompetenz in der Bildungspolitik?

 Posted by at 10:45
Jun 202011
 

… so hoch da droben?“ Sehr schöner Artikel  über die Forstakademie Tharandt heute in der Süddeutschen Zeitung auf S. 9! Unbedingt lesenswert! Herrliches Bild „Einsamer Baum“ von Caspar David Friedrich! Online leider nicht abrufbar, Kauf der Druckausgabe lohnt sich aber.

Burkhard Müller greift unter dem Titel „Die Schönheit des Waldbaus“ in seinem Bericht über 200 Jahre „Forstakademie Tharandt“ die zentralen Themen der deutschen Forstwirtschaft auf: Nachhaltigkeit, Biodiversität, Monokultur, Naturschutz, behutsame Walderneuerung.

Joseph von Eichendorff dichtete in genau jenen Jahren eins der ersten Wald-Lobpreis-Gedichte – Hunderte andere von Dutzenden anderen Dichtern werden dann folgen! Felix Mendelssohn Bartholdy, der im tiefsten Geschoß, 500 Meter von meinem Kreuzberger Ansitz, ruht, hat das großartige Nachhaltigkeitsgedicht 1841 in Melodie gesetzt.

Nachrichten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Sport – sueddeutsche.de

Die Jahre um 1810 sind die Gründerjahre des forstwirtschaftlichen Nachhaltigkeitsgedankens!  Von Tharandt aus trat das Leitbild der nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen seinen Siegeszug an – bis nach Cuba, Vietnam, Litauen, Russland, Polen – ja sogar in den Mittelmeerraum.

Bild: Einsamer Baum im Havelland, aufgenommen im Jahr 2007.

 Posted by at 12:36
Aug 232010
 

Es ist immer gut, sich viele einzelne Geschichten erzählen zu lassen, ehe man sich zu einem Urteil über ein politisches Problem vorarbeitet. Heute bringt die Süddeutsche auf S. 4 die Geschichte einer „Hartz-IV-Aufstockerin, die keine Chipkarte will“.

Das „Profil“ soll die unhaltbare Situation einer alleinerziehenden Mutter belegen, die lieber als die Chipkarte 60 Euro mehr pro Monat will, um dann 2 Euro pro Tag für Hausaufgabenbetreuung aufbringen zu können.

Die Chipkarte will Fauzia nicht haben: „Was soll ich mit einer Chipkarte?“ Sie will lieber 60 Euro. Die Tochter Shalima wechselt jetzt aufs Gymnasium.

Der Vater Shalimas hat die Familie verlassen, zu ihren eigenen Eltern hat Kerdouci keine Kontakt.

„Ich habe keinen, der Shalima betreut.“

Hierin liegt das Hauptproblem, wie ich meine. Die Mutter muss den ganzen Laden allein schmeißen. Es gibt kein familiäres oder durch Freunde gespanntes Umfeld, das ihr die Last der Betreuung abnähme.

Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, die Eltern der alleinerziehenden Mutter fallen aus, Freunde bieten keine Hilfe an. Hier meine ich: Da fehlt es an Mitmenschlichkeit, da fehlt es an mitmenschlicher Hilfe, da fehlt es an Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Es fehlt beim Vater Shalimas am Sinn für Verantwortung. Es gibt so viele alte Menschen, die Shalima doch sofort mit Freuden betreuen würden! Die muss man doch finden können.

60 Euro mehr oder weniger werden die Situation Fauzias und Shalimas kaum wesentlich ändern. Wichtiger scheint es mir, eine helfende Hand zu bieten – ohne Geld. Das ist es, was mit dem Wort Nächstenliebe gemeint ist.

Ein Mangel an wechselseitiger Fürsorge der Menschen untereinander wird in Deutschland unablässig mit staatlichem Geld zugeklebt. Die Geschichte von Fauzia Kerdouci zeigt mir das – wie viele andere Geschichten zuvor auch schon.

Politiknachrichten – sueddeutsche.de

 Posted by at 21:41