Aug 252009
 

23082009001.jpg Wenn Mephisto im zweiten Theil des Faust ausruft:

Ungern entdeck ich höheres Geheimniß –

Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,

Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit

Von ihnen sprechen ist Verlegenheit

Die M ü t t e r sind es!

so rufe ich aus: Die Väter sind für jeden Sohn, der zur Freiheit gelangen will, eine unerläßliche, vielleicht lebenslange Aufgabe. Von ihnen – den Vätern – sprechen ist nicht Verlegenheit, sondern Notwendigkeit!

So nutzte ich denn die Ruhepausen in der Pflege meines kranken Vaters dazu, um eine erneute Auseinandersetzung mit den politischen Vätern zu suchen. Mit Helmut Schmidt hatten wir uns mehrfach in diesem Blog befasst. Ich griff deshalb in den letzten Tagen zu zwei Büchern über zwei andere Vatergestalten der deutschen Politik: Konrad Adenauer und Helmut Kohl.

Im Radio hatte ich – auf der A9 –  den damaligen Kanzlerberater Horst Teltschik im Radio vernommen: „Beim Prozeß der Einigung sind wahrscheinlich keine Fehler gemacht worden – allenfalls muss man fragen, was nach der deutschen Einigung hätte besser gemacht werden können.“ So äußerte er sich sinngemäß im Deutschlandradio. Und er schreibt das Hauptverdienst an der Möglichkeit der deutschen Einigung Michail Gorbatschow zu. Dieses Urteil wird – wie ihr wisst – keineswegs von allen geteilt. Meine russischen Freunde lachen mich nicht aus, wenn ich so etwas behaupte, aber sie verdrehen ihre Gesichter. Aus russischer Sicht war die deutsche Einigung vermutlich  eine Wiederherstellung eines naturgemäßen Zustandes, an dem einem äußerst kritisch gesehenen sowjetischen Politiker allenfalls auslösende, aber niemals treibende oder auch nur ermöglichende Kraft zugesprochen wird.

Den Worten Teltschiks über diese diplomatische Meisterleistung, die Kohl und sein Team damals vollbrachten, muss ich jedoch aus ganzem Herzen zustimmen. Ich habe noch einmal Teltschiks Rechenschaftsbericht „329 Tage“ gelesen. Eine wahre Fundgrube an Entdeckungen, eine im einzelnen höchst glaubhafte Darstellung aus der Sicht eines Akteurs!

Ich schlug gestern – am Geburtstag meines Vaters – einfach den 24. August 1990 auf. Kohl spricht vor der CDU-Volkskammerfraktion. Teltschik gibt ihn so wieder:

„Er habe immer gesagt, daß es ganz große Schwierigkeiten geben werde. Ohne Opfer sei die Einheit nicht möglich. Diejenigen, die ihn ständig aufforderten, öffentlich zu Opfern aufzurufen, gehörten häufig zu denjenigen, die selbst am wenigsten dazu bereit seien. Es gebe in der Bundesrepublik viel Heuchelei. Er bleibe jedoch bei seiner Behauptung, daß es gelingen werde, die neuen Bundesländer in wenigen Jahren zu blühenden Landschaften zu entwicklen. Man müsse den Menschen nur die Chance dazu geben. Es reiche nicht, Solidarität zu beschwören. Sie müsse praktisch erbracht werden.“

Fuhr soeben zurück von Augsburg nach Berlin. Nahm bei Dessau eine Umleitung, um einem Stau zu umgehen. Die blühenden Landschaften sind Realität. Die Luft hat sich verbessert, das Land, das ich seit drei Jahrzehnten immer wieder bereise und durchfahre, hat sich verändert. Kohl hatte recht. Mein Mitfahrer – ein Russe – sagte mir: „Ich bin vor 30 Jahren hier durchgekommen. Auf der Saale schwamm ständig ein 30 cm dicker Schaum aus Chemikalien, den Fluss konntest du nicht sehen, es war ständig neblig, ich spürte das Kratzen im Hals.“

Kohl hatte recht.  Die blühenden Landschaften gibt es, und die Menschen müssen die Chancen nutzen, die blühenden Landschaften weiter wachsen zu lassen. Und noch in einem hatte er recht: Es gibt in der Bundesrepublik viel Heuchelei. Interessant: Ich habe in den letzten Jahren nur einen Politiker gehört, der zu „Opfern“ aufrief. Es war Obama – vier Mal nannte er das Wort „Opfer“ in seiner Rede am Brandenburger Tor – was mich damals höchst erstaunte, als ich ihn hörte. Und außer mir scheint kein einziger Kommentator diesen hohen sittlichen Anspruch des US-Präsidentschaftskandidaten bemerkt zu haben.  Bei uns hat in diesem Bundestagswahlkampf kein führender Politiker den Mut (oder sagen wir: die Selbstmordneigung?), Opfer (oder sagen wir: Einschränkungen) zu verlangen. Und wären es auch nur höhere Steuern, eine Senkung des Lebensstandards zugunsten der Kinder, ein Dienen an der Gemeinschaft. Ein Aufruf zur besseren Fürsorge für die Blinden, für die Demenzkranken, für die helfenden Familienangehörigen. Nichts. Nichts. Es ist niederschmetternd. Oder dass man mal einem türkischen Jungen die Mitgliedschaft in einem Fußballverein schenken könnte. Oder dass man mit arabischen Grundschülern Volkslieder singt. In der Freizeit.

Ich konstatiere allenthalben – wenn auch mit löblichen Ausnahmen (wie etwa Vera Lengsfeld): Die Politiker verlangen und erwarten kein Dienen von den Bürgern, sondern sie be-dienen in diesem Wahlkampf die Anspruchshaltungen und Erwartungen der Bürger. Besonders stark gilt dies für die SPD und die Linke, aber leider auch teilweise für die CDU. Die causa clamorosa namens Opel-Rettung lehrt es. „Wir kümmern uns darum.“ So die simple Botschaft unserer Bundesregierung. Mitleiderregend. Was für eine Mutlosigkeit. Schaut euch heute nur die Tagesthemen an.

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Aug 242009
 

23082009006.jpg Vor kurzem diskutierte ich in einer größeren Runde mit einer Sozialarbeiterin aus Niedersachsen. Wieder einmal ließ ich meine bekannte Meinung vom Stapel, dass es weder eine Schande noch entwürdigend sei, von Hartz IV zu leben. Ich verstieg mich zu der dreisten Behauptung: „Es gibt Schlimmeres als von Hartz IV zu leben!“ „Ja, aber wir können es uns nicht leisten, dass 30% der Bevölkerung dauerhaft von allen Chancen ausgeschlossen werden! Hartz IV führt in die Chancenlosigkeit. Warst du denn schon mal in Marzahn?“

Wieder musste ich meine Mitdiskutanten entäuschen: „Ich fahre des öfteren nach Marzahn, ich habe dort Freunde. Übrigens kenne ich auch Familien, die in einem der wunderschönen Marzahner Einfamilienhäuser samt Garten dort leben! Allerdings gebe ich zu: Ich wohne nur in Kreuzberg. Aber wir haben einen ähnlich hohen Hartz IV-Anteil wie Marzahn.“

Ich meine: Aus Kreuzberg und Marzahn kommen keine anderen Menschen als aus Charlottenburg oder Karlshorst. Jeder kann die Silbermedaille oder Goldmedaille gewinnen. Man muss es nur wollen. Beweis: Silbermedaille für Hammerwerferin Betty Heidler!

Johannes gratuliert Betty! Kreuzberg gratuliert Marzahn!

Lest auch nachstehenden Artikel über den täppischen Herrn Poschmann, der total daneben geworfen hat:

Berliner Kurier – Startseite BK
Wolf-Diter Poschmann fand es total witzig, die Menschen zu kränken …

Das Bild zeigt einen Sonnenuntergang im bayerischen Voralpenland, bei Eresing in der Nähe des Ammersees, wo ich gestern durch die Landschaft gondelte.

Der Ammersee! Auch nett. Aber wart Ihr schon mal in Marzahn?

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Glaubwürdigkeit steht und fällt mit Personen

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Aug 232009
 

Es gibt viele glaubwürdige Politiker. Immer wieder führe ich aus der Fülle der Beispiele namentlich einige Politiker an, die mir durch einige aufblitzende Erkenntnisse, durch unscheinbare, aber bedeutsame Abweichungen von der Parteilinie zu erkennen geben, dass sie mit Herz und Verstand zu dem stehen, was sie sagen: Helmut Schmid, Horst Köhler, Oswald Metzger, Jürgen Todenhöfer, Kurt Biedenkopf, zu Guttenberg („Unsere Kommunikationsstrategie ist gescheitert“), Peter Gauweiler („Wir haben vor Feigheit gestunken“). Und und und. Die Liste der glaubwürdigen Politiker ist verlängerbar. Jeder Politiker kann sich einreihen, so sie oder er dies will, denn wir sind ein freies Land.

Die Parteizugehörigkeit ist für mich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit unerheblich, ebenso unerheblich ist es, wo und in welchem Organ der Politiker veröffentlicht oder nicht veröffentlicht.

Aber zu den unverstelltesten, den glaubwürdigsten deutschen Politikern zähle ich Vera Lengsfeld. Niemand, der sich zu dieser Politikerin heute zu Wort meldet, scheint übrigens ihre gesammelten Äußerungen als Bundestagsabgeordnete zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist es doch das Naheliegendste der Welt, dass man erst einmal nachsieht, was eine Politikerin schon früher veröffentlicht hat, ehe man sie wieder zurück in den Bundestag wählt.

Man kann dies aber ohne weiteres tun. O Segnungen des Internets! Klickt euch einfach  durch den untenstehenden Link. Die Äußerungen Lengsfelds sind – so meine ich – gut haltbar. Sie verdienen es, nachgelesen zu werden. Sie sind natürlich nicht plakativ, man kann so ein Interview nicht auf die nächste Litfass-Säule kleben. Die Leute würden darüber nicht diskutieren. Aber es lohnt sich schon, sich darin ein bisschen festzulesen.

Hier sind die gesammelten Äußerungen:

Vera Lengsfeld Mitglied des Deutschen Bundestages

Danach kann man immer noch entscheiden, ob man dieser Frau auch seine Erststimme gibt oder nicht.

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Aug 222009
 

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft kriechen jetzt bleich und übernächtigt all die Fragen nach der geschichtlichen Wahrheit ans Licht, die seit 1948, also seit der Machtergreifung kommunistischer Parteien in den Ländern der östlichen Hälfte Europas, gewaltsam unter dem Deckel gehalten wurden. In einem endlosen Gewürge von Manipulationen, Umdeutungen und Beschönigungen hatten die parteiamtlichen Historiker die unschönen Wahrheiten der eigenen Nationalgeschichte unter den Teppich gefegt. Dazu gehört auch die Beteiligung nicht-deutscher Verbände, offizieller Regierungen, ja ganzer Staaten an dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus im besetzten Europa. Nur so lässt sich etwa folgende, geradezu bizarr anmutende Meldung verstehen, wonach ein EU-Staat dem Staatsoberhaupt eines anderen EU-Staates die Einreise verbietet:

Einreiseverbot: Ungarns Präsident bläst Slowakei-Besuch ab – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Mit klaren Worten hat die slowakische Regierung dem ungarischen Präsidenten Laszlo Solyom an einer Reise in die Slowakei gehindert. Ein Verstoß verletzte internationales Recht und zeige einen „Mangel an Respekt“, sagte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico.

Bizarr ist diese Meldung, weil hinter dem Einreiseverbot die unaufgearbeitete Geschichte der beiden Staaten Ungarn und Slowakei in den 30er und 40er Jahren steht. Kaum jemand weiß, dass die beiden Staaten Ungarn und die Slowakei treue Verbündete Deutschlands waren, dass sie den Deutschen Waffenhilfe leisteten. Die Schreckensherrschaft der Deutschen wäre ohne ein riesiges Heer an nicht-deutschen Helfern, Waffenbrüdern, Kollaborateuren und Vollstreckern nicht möglich gewesen. Und daneben gab es auch ganze Länder – Italien, Slowakei, Ungarn, das besetzte Frankreich – die mit ihren Regierungen, also als Land,  insgesamt auf Seiten Deutschlands standen, Truppen stellten, an Verfolgungsmaßnahmen aktiv beteiligt waren. Wer weiß heute noch, dass Hunderttausende italienischer Soldaten am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt waren, bis vor Stalingrad vorrückten?

Was hört man aus Italien, Ungarn, der Slowakei über diese Beteiligung? Praktisch nichts. Dazu meine ich sagen zu können: Diese Länder haben es erfolgreich und wider die historischen Belege vermocht, sich ausschließlich als Opfer Deutschlands darzustellen. Sie haben nicht ernsthaft begonnen, ihre eigene Verstrickung in die Terrorherrschaft der Deutschen aufzuarbeiten. Kaum jemand kennt überhaupt noch die Namen der Tiso, Horthy, Pétain, Badoglio. Die verbündeten oder kollaborierenden Länder Italien, Slowakei, Rumänien, Ungarn, Frankreich haben sowohl unter dem Kommunismus als auch in der Demokratie ihre eigene nationale Geschichte weitgehend reingewaschen.

Selbstverständlich diente dies auch als Rechtfertigung für die Vertreibung von etwa 12 Millionen Deutschen, aber auch von Hunderttausenden Ungarn nach dem 2. Weltkrieg. Die Botschaft war klar: „Wir waren nicht dabei! Das waren alles die anderen!“

Eine groteske Veranstaltung! Und derartige Grotesken werden mühsam gehegt und gepäppelt, ehe es zum nächsten Knall kommt, wie an dem gespannten Verhältnis zwischen Ungarn und der Slowakei regelmäßig zu bestaunen.

Ungarn hat sich 1989 offiziell bei der damaligen Noch-Tschechoslowakei dafür entschuldigt, dass ungarische Truppen an der Niederschlagung des Prager Frühlings beteiligt waren. Die heutige Slowakei hat derartiges gegenüber Ungarn nicht vermocht, da sie eine Kontinuität zu der deutschlandfreundlichen Tiso-Regierung ab 1940 nicht herstellen will. Die Vertreibung der Ungarn aus dem Gebiet der Tschechoslowakei wird weiterhin verschwiegen.

Ungarn hat offiziell seine historische Schuld an der Vertreibung der Deutschen, aber auch auch an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 anerkannt. Dennoch gehen die endlosen Streitereien zwischen der Slowakei und Ungarn weiter. Im Zentrum stehen dabei vordergründig Rechte der ungarischen Minderheit in der Slowakei – und ungelöste Fragen der Vergangenheit.

Letztlich wurzeln die ständigen slowakisch-ungarischen Reibereien in der dunklen europäischen Vergangeheit. In diese gilt es Licht zu werfen. Wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten weiterhin so saumselig und zögerlich sich mit Halbwahrheiten zufriedengeben, kann das gemeinsame Haus Europa nicht gelingen.

 Posted by at 08:29

Gähnen oder aufwachen? Habt ihr nicht mehr zu bieten?

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Aug 212009
 

Kurt Biedenkopf, Oswald Metzger, Vera Lengsfeld, Horst Köhler … diese und viele andere stehen für eine mögliche neue Debatte um Werte und Projekte der Unionsparteien. Diese und andere Leute sollte die CDU fördern – und fordern! „Was können wir als Partei tun? Wie können wir die Leute ansprechen, ehe sie uns vom Stuhl kippen vor Langeweile?“

Unser alter Blog-Freund, Franz Walter, meldet sich in Spiegel online einmal wieder zu Wort. Harte Fakten hält er der CDU vor die Nase, denen man wohl kaum widersprechen kann. Hier ein paar Befunde:

Konservative ohne Ideen: Merkels CDU steuert ins Vakuum – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Zweitens: Auf Werte über 40 Prozent ist die CDU zuletzt bei den Bundestags- und Landtagswahlen allein noch bei den über 60-Jährigen gekommen. Doch selbst in diesem Altersbereich sinken die Anteile der CDU seit den achtziger Jahren kontinuierlich.

Drittens: Bei den unter 45-jährigen Wählerinnen und Wählern erreicht die CDU keine 30 Prozent mehr. Je höher die Bürger dieser Jahrgänge qualifiziert und gebildet sind, desto geringer fällt gar die Präferenz für die Christdemokraten aus.

Viertens: Keine andere Parteianhängerschaft ist derart stark durch die Gruppe von Arbeitslosen dominiert wie die der CDU. Nur die Hälfte der christdemokratischen Wähler steht aktiv im Beruf. Als vitaler Träger dynamischer Marktreformen taugt das CDU-Lager daher schon sozialstrukturell nicht.

Wir schaut es bei den Grünen aus? Genau umgekehrt! Sie haben den höchsten Erwerbstätigenanteil, die jüngste Wählerschaft, die am höchsten Gebildeten.

Was tun? Ich plädiere für einen Parteienwandel – wobei jeder natürlich in seiner Partei beginnen muss.  In Berlin braucht die Union möglicherweise andere Impulse als in Augsburg. Wo ich zur Zeit bin, um meinen kranken Vater zu pflegen – der seit 50 Jahren Mitglied der CSU ist. Aus den vielen Streitgesprächen mit ihm rührt mein tiefes Einfühlungsvermögen in Wohl und Wehe der Christdemokraten. Schon als Bub habe ich die eine oder andere Veranstaltung der CSU besucht. Folgerichtig trat ich als Student zunächst einer anderen Partei bei: den Grünen. Auch heute bin ich nicht Mitglied der CSU. Das wäre zuviel des Triumphs für meinen alten Vater, dem ich aber in zahlreichen anderen Punkten fast widerwillig recht geben muss.

Hier in Augsburg plakatieren die Christsozialen  mit dem Spruch: „Deutschland braucht jetzt eines: Sicherheit.“ Nur als Text, keine alte oder junge Frau mit oder ohne Dirndl-Dekolleté drauf, kein alter oder junger Mann in Lederhosen oder am Laptop.

Der unschuldige Betrachter fragt sich: Na und? Habt ihr nichts anderes zu bieten?

HABT IHR NICHT MEHR ZU BIETEN?

Was würde meine Berliner Parteifreundin Vera Lengsfeld dazu sagen? Vermutlich dieses: „Gähn, gähn.“

Aber es gibt ja noch andere, die mehr wagen. Sogar bei der Union.

 Posted by at 14:08

Wachstum per se ist nichts Gutes

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Aug 202009
 

Irgendwo auf der A9 hörte ich gestern im Deutschlandradio Kurt Biedenkopf. Beachtlich! Der Mann beweist seinen unabhängigen Kopf – genau so wie ich das im letzten Eintrag forderte. Was mir auch gefällt: Er redet mit Leidenschaft, wie es kein auf Wählerstimmen bedachter Politiker tun dürfte. Na, der Herr Biedenkopf scheint nicht anzutreten beim Wahlvolk.

Das passiert mir auch immer wieder bei Diskussionen – ich rede mich in Feuer, wirke polarisierend – und dann beim Rausgehen merke ich: Jetzt sind  80% gegen mich – und die anderen sagen: Er hat zwar recht, der Hampel, aber er hätte es nicht so deutlich sagen dürfen.

Den aktiven Politikern – und letztlich uns allen – wirft Biedenkopf  vor, die wahren Probleme der Gerechtigkeit überhaupt nicht anzugehen. Darin kommt er mit Horst Köhler überein.

Wir müssen uns von dem Vorrang des Wachstums, dem Vorrang des Wohlstands verabschieden. So Biedenkopf, so Köhler.

Das bedeutet aber eine wesentliche Korrektur am Wachstumsdenken, wie es den Diskurs der aktiven Politker heute noch beherrscht. Dieses Wachstumsdenken fordert: Die Volkswirtschaft muss wachsen, damit wir Deutsche uns unseren Wohlstand weiter leisten können. Diese Grundfigur findet man wieder und wieder. Im aktuellen Wahlkampf stellt niemand diesen Wachstumskonsens offen in Frage. Denn das würde bedeuten: Wählt mich, dann werdet ihr ein Opfer bringen. Wählt mich, dann werdet ihr weniger Geld im Geldbeutel haben. Wählt die neue Selbstbescheidung!

Keiner sagt in diesem Wahlkampf wie Biedenkopf oder Köhler: Wachstum und Wohlstand sind nicht die obersten Gebote. Was sind sie? Die obersten Gebote politischen Handelns sind in meinen Augen das Recht, die Freiheit und die Gerechtigkeit unter den Menschen des Planeten Erde. Diese drei Pole gilt es immer wieder gegeneinander zu gewichten: ein kompliziertes Spiel von Kräften und Gegenkräften, das unter anderem im Parteiengefüge seinen Niederschlag findet.

Biedenkopf sagt: Wir haben keine gerechte Wirtschaftsordnung, wenn 2 Milliarden Menschen hungern.  Wir haben keine Wirtschaftsordnung der Freiheit, wenn wir die Lasten des eigenen Wohlstands den Kindern und Kindeskindern aufbürden.

Bitte mehr Einsichten, Herr Biedenkopf! Sie sind eine echte Erleuchtung für die Ohren im Funkloch des Wahlkampfes!

Biedenkopf erwartet kein baldiges Ende der Wirtschaftskrise

Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Biedenkopf erwartet keine rasche Erholung der Wirtschaft. Nach Auslaufen der Kurzarbeit werde die Arbeitslosigkeit ansteigen, sagte das Mitglied im Bankenrettungsfonds SoFFin im Deutschlandfunk. Alle Elemente, die die Krise hervorgerufen hätten, seien noch da. Wachstum allein könne die Probleme nicht lösen, so Biedenkopf. Zu schnelles und rücksichtsloses Wachstum habe in der Vergangenheit viele Schäden verursacht. Der CDU-Politiker warnte in diesem Zusammenhang vor kurzfristigem Denken. So habe etwa die Abwrackprämie ein Problem heute so gelöst, dass es übermorgen komme.

 

 Posted by at 21:02
Aug 152009
 

Unser Oberschulrat Schmid, mit dem ich schon zwei Mal diskutiert habe (dieses Blog berichtete), muss heftigen Tadel für seinen Vorschlag eines Migrantengymnasiums einstecken. Der Tagesspiegel schreibt:

Migrantengymnasium: Tadel für Schulrat
Cumali Kangal, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, bezeichnet Schmids Vorstoß als fatal. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Türken in Berlin das nachvollziehen können“, so Kangal. „Wer kann, versucht sein Kind auf eine Schule zu schicken, an der nicht so viele Migrantenkinder sind.“ Auch der Leiter der Arabischen Eltern-Union in Berlin, Mahmoud el Hussein, hält nichts davon, Migranten gezielt in einem Sondergymnasium zu konzentrieren. „Das sind Kinder, die hier aufgewachsen sind, und keine Außenseiter“, sagt er. Schmids Argument, dort könnten sie besser Deutsch lernen, sei paradox: „Wer ans Gymnasium kommt, sollte sowieso keine Sprachmängel aufweisen.“

Ich selber  kann den Vorschlag, Gymnasien nur für Migranten und Kinder aus bildungsfernen deutschen Schichten einzurichten, nicht so recht verstehen. Wir haben doch bereits de facto eine weitgehende Separierung der türkischen und arabischen Schüler einerseits, und der Schüler aus allen anderen Nationen, einschließlich der deutschen,  andererseits. Eine weitere Trennung scheint mir nicht nötig.

Ich meine: Die Familien müssen ihren Kindern ab Lebensjahr 1 die deutsche Sprache beibringen, sie müssen die Kinder auf ein Leben in diesem Land hinerziehen. Wir brauchen eine Kultur des Lernens und der Bildung.

 Posted by at 19:30

Freiheit – eine lebenslange Aufgabe

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Aug 152009
 

Bin begeistert von dem Interview mit Hans-Joachim Maaz in Spiegel online. Der in der DDR aufgewachsene Psychotherapeut schildert eindrücklich, dass die Gewinnung von innerer Freiheit ein mühseliger, über Jahre und Jahrzehnte sich erstreckender, bewusst angestrebter Prozess sein muss. Klasse! Er ist noch nicht bewältigt, ja eigentlich kaum begonnen.

Was mir weniger gefällt, ist, dass er behauptet, die Ostdeutschen hätten noch viel nachzuholen, die Westdeutschen seien da schon wesentlich weiter. Ich glaube – und ich habe dies immer in diesem Blog vertreten – , dass wir Deutsche überhaupt den vollentwickelten Begriff von Freiheit, wie er an der Wurzel des Grundgesetzes steht, teilweise verloren haben. Der eine mehr, der andere weniger. Einen Mangel an innerer Freiheit erkenne ich immer dann, wenn Menschen alles den Umständen zuschieben, Umstände nicht als veränderbar begreifen. Und dieses Denken ist allzu weit verbreitet. Zitat:

SPIEGEL ONLINE: Am meisten sind die Ostdeutschen über ihre mangelnden politischen Einflussmöglichkeiten enttäuscht. Nach einer aktuellen Studie sind nur elf Prozent mit der Demokratie und nur sieben Prozent mit ihrem politischen Einfluss zufrieden. Wollen die Ostler wirklich Partizipation?

Maaz: Sie können es noch nicht wirklich. Nach der verständlichen Enttäuschung und Ernüchterung über den Westen müsste eine kritische Auseinandersetzung folgen. Uns fehlt noch eine reife Ablösung vom autoritären Syndrom, ein 1968-Ost, wie es auch im Prager Frühling aufschien. Die noch nicht bewältigte Unterwerfung blockiert Selbstbewusstsein und Kreativität. Erst wenn wir das nichtheldenhafte Verhalten in der DDR kritisch analysieren, werden wir auch reif, uns mit den westlichen Strukturen offen auseinanderzusetzen.„Viele Ostdeutsche sind nicht geheilt“ – einestages

 Posted by at 13:19
Aug 132009
 

Thüringen – Fall Zeca Schall beschäftigt nun Staatsanwaltschaft – Bundestagswahl 2009 – sueddeutsche.de
Nach der NPD-Attacke auf den dunkelhäutigen CDU-Wahlhelfer ermittelt nun der Staatsanwalt – wegen des Verdachts auf Volksverhetzung, Beleidigung und versuchte Nötigung.

Beschämend, dass in Deutschland so etwas denkbar ist. Ein Mensch, ein Bürger unseres Landes wird nur wegen seiner anderen Herkunft oder Hautfarbe bedrängt und genötigt! Hier erkläre ich mich in jedem Sinne solidarisch mit Zeca Schall. Dabei fällt mir das merkwürdige Bild ein, das ich am dritten Tag meiner italiänischen Reise an der Türe der Klosterkirche Ettal sah: ein dunkelhäutiger Fürst – das Wappen des Marktes Mittenwald mit dem gekrönten Mohrenkopf aus dem Jahr 1407. Dass ein König, ein Herrscher, als Schwarzer, als ein Mohr, dargestellt wurde, deute ich so: Offenbar hat man in früheren Jahrhunderten noch gar nicht in Hautfarben gedacht. Es gab einfach schwarze Menschen. Darunter gab es auch Könige und Fürsten. Der dritte der Weisen aus dem Morgenlande  wurde meist als Mohr dargestellt. Er vertrat den Erdteil Afrika, die anderen Asien und Europa. Das hatte nichts Rassistisches.

Den echten Rassismus, diese furchtbare Verirrung, scheint es erst seit dem 19. Jahrhundert zu geben. Noch heute plagt er uns, wie die Vorfälle um Zeca Schall belegen. Hier dürfen wir nicht nachgeben! Zeca Schall braucht unsere volle Unterstützung, Schutz und – genau jenen Geist der umfassenden Anerkennnung, oder sagen wir – der Liebe, von denen die Geschichten um den Mohren Balthasar, aber auch die Selbsterforschungen des Augustinus sprechen.

Die italiänische Reise brachte mich natürlich immer wieder vor die Wegmarken der europäischen Geschichte. Einer der größten Lehrer der Christenheit, Aurelius Augustinus, war selbst von Herkunft Afrikaner, und ich habe ihn auf frühen Darstellungen oft als Schwarzen, mit krausem Haar gesehen. Augustinus ist übrigens einer jener Kühnen, Wagemutigen, der mit seinen Confessiones die Tür zur öffentlichen Darstellung der eigenen Biographie aufgestoßen hat. Selbst dieses Blog wäre nicht denkbar ohne den ungeheuren Beitrag, den dieser Christ aus Afrika geleistet hat. Wenn wir früher in diesem Blog immer wieder bekräftigten, dass das Christentum aus Asien stammt, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass es entscheidende frühe Umformungen in Nordafrika durchlebt hat, noch ehe es sich zur dominierenden Religion auch in Europa entwickelte.

Wir dürfen auch nicht vergessen, welch ungeheure ausgleichende Kraft das Christentum über die Jahrtausende hinweg ausgeübt hat. Da alle als Kinder Gottes gesehen wurden, konnte es auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen geben. Ob Römer oder Afrikaner von Geburt, ob Fürst oder Sklave – alle fanden sich unter einem Dach zusammen. Als Brüder und Schwestern.

Genau diesen Geist gilt es wiederzubeleben. Ein religiöses Bekenntnis wird dazu nicht erforderlich sein. Aber eine Rückbesinnung auf die fundamentale Gleichheit und gleiche Würde aller Menschen. Darunter unser Bruder Zeca Schall. Der Mohr an der Kirchentür in Ettal zeigt uns den Weg.

 Posted by at 23:52

„Wir haben Erfolg“. – „Wir haben mehr zu bieten“. Über Frauenbilder

 Donna moderna  Kommentare deaktiviert für „Wir haben Erfolg“. – „Wir haben mehr zu bieten“. Über Frauenbilder
Aug 132009
 

Leider läuft heute die Leihfrist eines entliehenen Buches ab, dem ich viele, sehr viele Leser und auch Leserinnen wünsche: „Wir haben Erfolg“ von Kerstin E. Finkelstein. Die Autorin hat es geschafft, 30 deutsche Frauen aus muslimischer Herkunft ihre Geschichten erzählen zu lassen: Erzählungen von individuellen „Wegen zur Freiheit“.  Grundbotschaft: „Erfolg ist möglich“, wir übernehmen Verantwortung, wir sehen uns nicht als Benachteiligte. Ob als Polizistin, Ärztin, Professorin oder Unternehmerin.

Ich halte dieses Buch für äußerst wichtig. Es hilft uns bei folgender Frage: Wie schaffen wir es, die 50% der unter 6 Jahre alten deutschen Kinder, die fälschlich als Migrantenkinder bezeichnet werden, so ins Leben zu führen, dass sie selbstbewusst, frei, selbstverantwortlich ihr Leben meistern – dass ihr Leben gelingt?

Wir haben noch keine Antworten. Aber wir haben erste Erfolgsgeschichten. Bitte weiter dranbleiben! Bitte das Thema im Bundestagswahlkampf ansprechen!

Stolz bin ich darauf, dass die Autorin bei uns im ADFC Berlin mitmacht. Sie ist meine Kollegin als Sprecherin einer Stadtteilgruppe. Sie für Mitte, ich für Friedrichshain-Kreuzberg. Traf Kerstin gestern bei der Bezirksratssitzung des ADFC und sprach ihr mein höchstes Kompliment für das Buch persönlich aus.

Ade, du schönes Buch, ich geb dich jetzt auf die Post. Güle güle. Tschüss!

Kerstin E. Finkelstein: „Wir haben Erfolg!“ 30 muslimische Frauen in Deutschland. Vorwort von Seyran Ates. Fackelträger Verlag Köln, 2008. 223 Seiten

P.S.: Auch hier haben es wieder die besonders  jungen dieser 30 deutschen Frauen auf das Cover geschafft. Die über 50-Jährigen wie etwa Lale Akgün fehlen. Man stellt sie nicht vorne hin. Ich nehme an, das haben die Marketingspezialisten so eingerichtet. Denkt mal über Frauenbilder nach, ihr Werbefachleute, ihr Alice Schwarzer und Luise F. Pusch dieses Landes!

 Posted by at 14:25
Aug 112009
 

Immer wieder besuche ich Gemäldegalerien und lasse mir die ausgestellten Kunstwerke erklären. „Achten Sie auf die Augen! Was sagen Ihnen die Blicke? Wie ist das Bild aufgebaut? Welche Blickrichtung nimmt das Auge des Betrachters? Welche Beziehung herrscht zwischen den dargestellten Personen? Welche Fläche nehmen sie auf den Bild ein? Wer ist wichtig? Was sagen die Hände?“ Dieses und ähnliches erläutern mir die geschulten Kustoden.

Genau dieses Wissen wende ich auch bei der Analyse der Wahlplakate an. Meist blicken einen die Kandidaten direkt an, versuchen Aufmerksamkeit für die 2,5 Sekunden zu erheischen, die der Passant das Plakat wahrnimmt.

Anders das neue Plakat von Vera Lengsfeld!  Erstens sind zwei Frauen darauf zu sehen. Politik spielt sich ja zwischen Menschen ab, ist keine Einbahnstraße. Das erste mir bekannte Wahlplakat mit zwei gleichrangig dargestellten Menschen – gut! Demokratie ist ein Geben und Nehmen. Eine allein schafft es nicht. Man muss mehr bieten als nur eine Spitzenkandidatin. Erst in dem Zwischen der Politik, von dem Hannah Arendt immer wieder spricht, entfaltet sich echte Politik – im Gegensatz zu den Anordnungen und Befehlen autoritärer Herrschaft.

Beide Frauen werden mit großem Selbstbewusstein dargestellt. Die linke Hauptgestalt wendet ihr Gesicht zur rechten Dame, die Sprache ihrer Hände drückt eine raumgreifende Frage- und Vorschlagshaltung aus. Die rechte Frau nimmt die Position der Angesprochenen ein, sie wendet sich jedoch in freiem Ermessen dem Betrachtenden zu. Ein geheimes Einverständnis scheint zwischen den beiden Damen zu herrschen, denn sie haben sich in ähnlicher Weise festlich angezogen. Der feine Perlenschmuck der linken Dame gemahnt an Darstellungen von Herrscherinnen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, so etwa Porträts von Zarin Katharina II. Erinnert sei insbesondere an das Porträt Fedor Rokotovs aus dem Jahr 1763. Dieses Blog widmete ihm am 6.1.2009 eine kunstgeschichtliche Betrachtung.

Zum festen Inventar weiblicher Herrscherporträts gehört ein dezentes Unterstreichen der selbstbewussten, auch körperlich dargestellten Weiblichkeit. Dies kann durch Schmuck geschehen, durch ein Décolleté oder andere Attribute der Weiblichkeit wie etwa Fächer, Spiegel oder Pelz.

Lengsfeld hat sich über die Jahre hin immer wieder für eine stärkere Betonung der individuellen Freiheitsrechte ausgeprochen. Unsere politische Landschaft sieht sie im Griff der übermächtigen Parteien. In einem sehr bemerkenswerten Aufsatz im aktuellen Heft des Cicero hat sie genau diese Einsicht mit treffenden Analysen untermauert.

Vera Lengsfeld mahnt mit ihrem Plakat genau die politischen Freiräume an, die im Tagesgeschehen allzuleicht aus den Augen verloren gehen. Sie tritt mit der Bildersprache ihres Plakates für ein starkes, selbstbewusstes Parlament ein, dem die hier mit abgebildete weibliche Herrscherin zuhören soll. Dem obwaltenden Übergewicht der Exekutive setzt sie gewollt eine Aufwertung der Legislative entgegen. „Wir, die Kandidatinnen des Parlaments, sind genauso wichtig wie die Regierungsmitglieder.“ Das ist die Botschaft der Raumaufteilung.

Legislative und Exekutive speisen dabei ihr beziehungsreich-kraftvolles Mit- und Gegeneinander nicht aus der Zugehörigkeit zu einem Hofstaat, Parteiungen oder Klüngeln, sondern aus dem in sich ruhenden, nach außen geöffneten Zusammenspiel von freien, entscheidungsfähigen Menschen.

Das Plakat verströmt diese Kraft der Freiheit. Als wollte es sagen: „Es gibt zwei von uns. Wir sind wie gegensätzliche Schwestern.“ Es setzt auf den mündigen, all seiner Sinne mächtigen Betrachter, der die Gesamtkomposition im Auge hat und sich nicht in einigen wenigen Details verliert.

Sinnfällig wird dieser ikonographische Gehalt – ähnlich dem Sinnspruch allegorischer Darstellungen aus dem Barock – durch die Zeile „Wir haben mehr zu bieten“ untermauert. Das „Mehr“ unterstreicht den Wettbewerbscharakter moderner Demokratie – ohne doch die Betrachter auf eine Eindeutigkeit festlegen zu wollen, wie sie das zeitgenössische Anspruchsdenken einfordert. Es werden keine Versprechungen gemacht, keine Forderungen erhoben.

Das Ganze ist durchwebt von einem raffiniert-ironischen Spiel mit hergebrachten Bildern des Weiblichen, das den mündig-aufgeklärten Betrachter voraussetzt, der die zunächst einfach scheinende, aber doch vielfach gebündelte Bildsprache des Plakats zu entschlüsseln vermag.

Es wird spannend sein zu sehen, wie die moderne Kommunikationswissenschaft auf die Herausforderung dieses herausragenden Plakates reagiert, das am heutigen Tage völlig zu recht auf die Titelseiten einiger deutscher Tageszeitungen gesetzt wurde.  Kunstgeschichtlich gesehen ist es ein Sonderfall einer produktiven Umformung traditioneller Mal- und Bildgestaltungstechniken, die zu widersprüchlichen Reaktionen ermutigt.

 Posted by at 18:37
Aug 112009
 

Den dreißigsten Juli, früh neun Uhr stahl ich mich aus dem heimischen Berlin weg, weil das Gefühl einer unauflöslichen Verknüpfung mich sonst nicht fortgelassen hätte. Manche Tage blieb dieses Blog verwaist. Doch werde ich nunmehr, soeben nach Berlin zurückgekehrt, den bislang vernachlässigten Berichtspflichten eifrig nachkommen und euch durch allerlei Denk- und Merkwürdiges zu unterhalten suchen. Das flache Land um Berlin herum, welches dem Auge erst beim näheren Hinsehen manche Anregungen bietet – hier ein aufsteigender Habicht, dort ein stillgelegtes Mühlenwerk -, ließen wir bald hinter uns. Brandenburg, Sachsen, Thüringen stiegen nach und nach ins Bewaldet-Bergichte auf. Wir durchquerten das Land rasch von Nord nach Süd.

Unsere erste Etappe war Augsburg. Nach längerem Fortbleiben bot sich die Vaterstadt dem Auge des Heimkehrers mit manchen überraschenden Einzelheiten dar.

NEMO OTIOSUS las ich auf dem Deckenmedaillon des Goldenen Saales im Rathaus: „Niemand sei müßig!“. Der Goldene Saal bietet eine deutliche Bildersprache dessen an, was die bürgerliche Gesellschaft dieser Stadt einst zusammenhielt: Ein Kanon an Grundhaltungen, das Gefühl einer unleugbaren Zusammengehörigkeit und das unausgesetzte Bemühen, an einem gemeinsamen Werk zu schaffen. Klare, einprägsame Botschaften, allegorisch verschlüsselt, aber eben darum auch über das Individuum hinausgreifend.

„Niemand gebe sich dem Müßiggang hin!“ Diese unbedingte Hochschätzung der Vita activa scheint  mir ein Grundzug der erfolgreichen Handelsstädte der frühen Neuzeit zu sein: Venedig, Augsburg, Antwerpen, Brügge, Krakau: Mit allen stand Augsburg in regem Austausch, diente als Umschlagplatz und Börse.

Wenn es keine Arbeit gab, dann wanderte man aus oder man suchte sich welche. Man bewegte sich!

Und genau unter diesem Motto stand auch die Aktion „Deutschland bewegt sich“.  Dieses Foto entstand bei den Aufbauarbeiten, die ich am 31. Juli beobachtete.

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