„Warum bist du so weit hinten?“ fragt mich ein Junge aus dem Fanny-Hensel-Kiez. Wir fahren vom Taekwon-Do-Training alle zusammen mit den Fahrrädern nachhause: Meine Frau, zwei Jungen der dritten Klasse, ich. „Weil ich mich an die Verkehrsregeln halte!“, rufe ich zurück. „Verkehrsregeln? Das ist doch nur etwas für Angsthasen!“, erwidert mir der Junge. In genau diesem Augenblick fährt er über einen Bordstein und stürzt mit dem Rad. Zum Glück passiert ihm nichts.
Die deutsche Gesellschaft zerfällt zusehends. Diesen Befund habe ich wieder und wieder in diesem Blog festgestellt, und in meinem persönlichen Leben mache ich immer wieder die bestürzende Entdeckung, dass die verschiedenen Umfelder, in denen ich mich bewege, keinen Kontakt zueinander haben. Das gilt vor allem für Kreuzberg. Die Deutschen, die Russen, die Türken, die Araber, die Linken, die Bürgerlichen – diese Volksgruppen existieren unverbunden nebeneinander her. Es gibt fast keinen gemeinsamen Nenner, hat ihn nie gegeben. Nur in Familien wie etwa der meinen vermischen sie sich. Derselbe Befund gilt in den politischen Parteien: die Grünen, die am ehesten noch den Anspruch erheben könnten, hier eine Volkspartei zu sein, sorgen für ihre Klientel, die SPD ebenso, die Linke ebenso. Jeder sorgt für sich und seine Schäfchen.
Die Kreuzberger und die Berliner Gesellschaft ist hochgradig zersplittert. Kaum jemand sieht dies.
Ein hochinteressanter Bericht über Befindlichkeitsstudien des Sozialwissenschaftlers Heitmeyer leuchtet soeben auf meinem Bildschirm auf:
Wissenschaftler schlagen Systemalarm
Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben, warnt Heitmeyer. Die Konsequenz: Sie suchen nach Sündenböcken. Je größer das Empfinden ist, in Zeiten sinkender Normalarbeitsverhältnisse und sprunghaft wachsender Mal-rein/mal-raus-Arbeitslosigkeit zum Opfer der Verhältnisse zu werden, desto stärker scheint auch die Bereitschaft zu einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu sein, die sich gegen die Banker oder Amerika, aber auch generell gegen Ausländer oder Muslime richten kann. Ein Drittel der Befragten gab an, in Krisenzeiten könnten nicht länger die gleichen Rechte für alle Bürger gelten, gut 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten.
Liest man diesen Zeitungsartikel genau, so hat erhält man geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Sozialwissenschaften durch geschickte Art der Fragestellungen und subtil gesteuerte Deutung das gewünschte Ergebnis erzielen können. Ein Beispiel dafür? Hier kommt es:
Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben, warnt Heitmeyer.
Das wird man allerdings aus der Studie nie und nimmer folgern können! Denn die Studie kann gar nicht zu Aussagen über die tatsächlichen Verhältnisse gelangen. Keine Meinungsumfrage kann tatsächliche Verhältnisse abbilden. Sie kann nur Meinungen über die tatsächlichen Verhältnisse abbilden.
Eher gilt: Die Menschen haben das Gefühl, sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.Und dieses Gefühl ist – wie jedes Gefühl – weder widerlegbar noch rechtfertigbar. Es ist eben – ein Gefühl.
Letztlich dienen solche Studien dazu, politische Paradigmen zu stützen. Die Menschen werden im Gefühl bestärkt, sich als Opfer zu sehen. Daraus folgert dann die herrschende Umverteilungspolitik die Berechtigung, noch mehr Geld für eigene Zwecke zu vereinnahmen, um den zuvor bewusst geschürten erzeugten Anschein der Ungerechtigkeit zu lindern.
Den Menschen wird eingeredet, nichts an ihrem Schicksal ändern zu können und weitere Wohltaten für sich in Anspruch nehmen zu müssen. Ein verhängnisvoller Zirkel ist in Gang gesetzt: „Ihr seid Opfer!„, sagen die Sozialwissenschaftler und die Politik. „Wir kümmern uns um euch!“ greifen die Politiker den Ball auf. Siehe Opel-Affäre. Da der Opferstatus durch die ausgeteilten Geschenke nie und nimmer zu beseitigen ist, werden immer neue Ausgleichmaßnahmen, Geld-Umverteilungsmaßnahmen benötigt. So wird zuletzt der Staatshaushalt gesprengt.
Perfektes Beispiel: das frühere West-Berlin und das heutige Berlin. Schuldenstand heute: 60 Mrd Euro. Erzielt durch eine stillschweigende große Koalition der Umverteiler einschließlich der alten Berliner CDU. Bedarf an Sozialhilfe und kompensatorischer Sozialpolitik: stetig wachsend. Bewusstsein dafür, dass man Opfer ist: ständig wachsend. Zahl der Opfergruppen: stetig wachsend. Zahl derer, die sich nicht als Opfer fühlen: stark fallend.
Ich werde bald meine eigene Opfer-Minderheit aufmachen könne. Wie wäre es zum Beispiel mit: „Schweinefleischverzehrer“? Da wir in der muslimischen Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft scheel angesehen werden, weil wir Schweinefleisch verzehren, haben wir doch Anspruch darauf, als Opfer der Verhältnisse anerkannt zu werden? Ich könnte aufschreien: „Mein nichtmuslimischer Sohn ist benachteiligt! Er ist eine ausgegrenzte Minderheit. Helft uns! Wir brauchen eine aktive Schutzpolitik für die Minderheit der schweinefleischessenden Kreuzberger Kinder. Geld her, Sozialhilfe her!“
Die Absurdität der ständig neue Minderheiten, neue Benachteiligtengruppen erfindenden kompensatorischen Sozialpolitik wird an diesem Beispiel deutlich, so hoffe ich.
Was wir vielmehr brauchen, ist ein Bewusstsein der Freiheit. „Es ist dein Leben! Mach daraus, was du willst.“
So sagte es der Imam, der Vater des deutschen Moslems Hamed Abdel-Samad. Der ägyptische Imam hat recht! Hört auf den ägyptischen Imam!
Zitat: Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland. Köln 2009, S. 165
„Wir wollen, dass die Menschen verbunden, nicht getrennt werden“, in diesem Sinne äußerte sich gestern unser neuer Außenminister. Aus diesem Grund gab er durch die Blume zu verstehen, dass die Wünsche unserer östlichen Freunde bei der Besetzung einer nationalen Stiftung berücksichtigt werden. Er gab den Freunden nicht in der Sache recht, er widerlegte auch die Argumente der Freunde nicht. Er forderte die Freunde nicht auf, eine Gewissenserforschung zu versuchen. Mit einem Wort: Der Außenminister zeigte ein Beispiel diplomatischer Toleranz. Toleranz bedeutet in diesem Sinne: Man nimmt die Bedenken und Vorwürfe des Freundes so entgegen, wie sie kommen. Man streitet nicht mit ihm, sondern lässt ihn in seinem Glauben. Man lässt alles, wie es ist, und vermeidet die Konfrontation. Eine gute Beziehung ist in diesem Fall wichtiger als die Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit. Man vermeidet die Auseinandersetzung in der Sache. So ist es über viele Monate hinweg zwischen Deutschland und Polen geschehen. Da ich Polnisch kann, immer wieder mit Polen zusammentreffe, kann ich nur sagen: Deutsche und Polen sind von einer gemeinsamen Wahrheitssuche noch weit entfernt.
Die großartige Chance, die sich mit den Jahren 1989/1990 eröffnete, ist bisher erst ansatzweise genutzt worden. Wir könnten heute ohne Unterjochung durch diktatorische Regimes versuchen, im gemeinsamen schmerzhaften Dialog eine Aufarbeitung der Vergangenheit zu erreichen.
Konfrontativ wäre es, wenn man Argumente für oder gegen eine Position abwöge und dann versuchte, eine gemeinsame Lösung zu suchen. Man würde – auch im Verhältnis zwischen Freunden – den Widerstreit unterschiedlicher Positionen aushalten.
Ich meine: Ein übermäßiges Entgegenkommen, ein ständiges Eingehen auf die Wünsche der Beziehungspartner ist Zeichen mangelnden Selbst- und mangelnden Fremdvertrauens. Die Beziehung ist nicht belastbar genug für eine Konfrontation. Der Psychologe Jeffrey Young spricht hier von einem zum Schema erstarrten Unterwerfungsgebaren: Starke eigene Unsicherheit führt uns dazu, uns den anderen gewissermaßen anzudienen. Wir halten dann größere Meinungsunterschiede nicht aus. Wir übernehmen die Sichtweise der anderen, ohne deren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Wir bleiben im Bann einer nicht durchschauten, unaufgelösten traumatischen Erfahrung. Wir sind dem Trauma verhaftet, wagen es nicht anzurühren aus Angst, der andere könnte böse werden, wenn wir ihn auf verschwiegene Wahrheiten aufmerksam machen.
Eine solche Toleranz gegenüber den anderen, ein bloßes Akzeptieren und Hinnehmen aller Übergriffe und Behauptungen des anderen halte ich für äußerst gefährlich. Denn es führt zu einer Leugnung von Erkenntnissen, zu einer künstlichen Beziehungsrealität, die zum Schema erstarrt. Der eine Partner wird ständig versuchen, mit dem anderen „Schlitten zu fahren“. Die Geschichte der Diplomatie ist angefüllt mit Beispielen dafür.
Ich meine: Zu jeder echten Freundschaft, zu jeder echten Beziehung gehört auch ein gewisses Maß an Konfrontation. Konfrontativ ist ein Verhalten, das unbequeme Meinungen ausspricht und aushält. Das Gerichtsverfahren zwischen zwei Zivilprozessgegnern ist ein Beispiel dafür. Im streitigen Für und Wider werden die unterschiedlichen Standpunkte vorgetragen, bewertet und entschieden.
Freunde können, ja müssen einander auch unbequeme Wahrheiten sagen. Es ist gerade Zeichen einer echten Freundschaft, wenn Meinungsunterschiede zugelassen werden. Sich-Andienen, Sich-Unterwerfen ist auf Dauer schädlich für jede Beziehung zwischen gleichberechtigten Partnern. Echte Freunde, Partner einer guten, gesunden, entwicklungsfähigen Beziehung finden den rechten Mittelweg zwischen Konfrontation und Toleranz.
Das Ideal der Toleranz allein führt in Gleichgültigkeit, in Erstarrung und Unterhöhlung von Beziehungen. Das Ideal der Konfrontation allein hingegen führt zu Streit, es kann – wenn dem anderen zuviel zugemutet wird – zum Beziehungsabbruch führen. Gleichgültigkeit und Beziehungsabbruch sind gefährlich.
Erneut verwenden wir einen Ausdruck aus der Welt der Psychotherapie: Eine gesunde Beziehung hält die Spannung zwischen polaren Positionen aus.
324 Jahre nach dem berühmten Toleranzedikt von Potsdam gilt es zu bedenken, dass Toleranz allein nicht der Goldstandard des Zusammenlebens sein kann. Falsch verstandene Toleranz vereinzelt. Das rechte Maß an Toleranz und Konfrontation ist unerlässlich für eine gelingende Partnerschaft. Das gilt sowohl für zwischenmenschliche als auch für zwischenstaatliche Beziehungen.
Leseanregungen:
1) Eckhard Roediger: Praxis der Schematherapie. Grundlagen – Anwendung – Perspektiven. Schattauer Verlag, Stuttgart 2009, hier insbesondere: S. 63 und S. 200
2) Potsdamer Toleranzedikt – Start
Am 324. Jahrestag der Verkündung des Ediktes von Potsdam gründet sich in der Französischen Kirche Potsdam dieser Verein. Er betrachtet als seine Zielsetzung, die Ergebnisse des Potsdamer Toleranzediktes des Jahres 2008 aktiv fortzuführen. „Der Verein setzt sich ein für die Förderung von Toleranz, Meinungsfreiheit und Demokratie im Sinne einer offenen und toleranten Stadt der Bürgerschaft“. Ziel ist es, das zivilgesellschaftliche Engagement im Sinne einer Stadt der Bürgerschaft anzuregen und zu fördern. Die stadtweite Toleranzdiskussion soll hierbei konkret durch Unterstützung bestehender Projekte, Bündnisse, Gruppen, Vereine, Aktivitäten und Ideen aufgegriffen und fortgeführt werden.
Ich bin ein Kreuzberger Unterschichtler. Wer kein eigenes Auto besitzt und seine Kinder nicht auf eine Montessori- oder kirchliche Privatschule, sondern in eine staatliche Grundschule schickt, ist unwiderleglich Unterschichtler. Außerdem lese ich immer wieder kleinformatige Blätter mit wie etwa die BZ und die taz. Ein echter Unterschichtler. So einfach ist das.
Doch gerade als Unterschichtler trete ich für eine bessere Mischung ein! Kreuzberg braucht reiche Zuwanderer, Oberschichtler wie etwa den Bundestagsabgeordneten Özdemir. Sie sollen hier Eigentum erwerben, sie sollen sich hier niederlassen, sie sollen hier ihre Kinder zur Schule schicken! Auf keinen Fall darf man diese Zuwanderer abschrecken, wie es heute wieder berichtet wird. Die Brandanschläge, die rassistische Hetze gegen die sogenannten Yupppies, die Einschüchterung und Bedrohung von Besitzenden muss aufhören!
Unser Bild zeigt entstehende Luxuswohnungen mit „entspanntem Doormanservice“ am Potsdamer Platz. Das Gute daran ist: Diese Luxuswohnungen entstehen in direkter Nachbarschaft zu einem riesigen Sozialwohnungsblock mit Tausenden von Sozialhilfeempfängern, mit sehr vielen migrantischen Familien, Zuwanderern aus Libanon und Syrien. Es sind die Ärmsten der Armen aus dem eigentlich reichen Land Libanon, die hier in Kreuzberg ihr Aus- und ihr Einkommen finden. Dass ihre neuen Nachbarn aus der Oberschicht hierher ihre Luxusappartments bauen, finde ich sehr gut. Die sollen dann auch ihre Kinder zu uns in die Grundschule schicken! Da möchte ich dabei sein.
Die autonome Szene rüstet hingegen auf zu einer Art Pogrom-Stimmung gegen alles, was auch nur entfernt nach Ober- und Mittelschicht riecht. „Yuppie-Schweine-Schüsse in die Beine“ – das ist eiskalt die Methode der Mafia! Das erinnert an die antijüdische Hetze der Nationalsozialisten (Deutschland 20er-30er Jahre) und die antibürgerliche Hetze der RAF-Terroristen (Deutschland, 70er-80er Jahre)! Das Aufkommen einer immer stärkeren linksextremen Mafia in Friedrichshain-Kreuzberg muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden! Mehr noch: Alle rechtstreuen politischen Kräfte müssen einmütig solche verbrecherischen Akte verurteilen! Ich erwarte sehnsüchtig Signale aus der BVV Friedrichshain-Kreuzberg!
Ich sage: Stoppt das feige hinterhältige Treiben der Hetzer!
Brandanschlag – Autonome bedrohen Yuppies in Kreuzberg – Berlin – Berliner Morgenpost
Erneut ist ein Loft-Projekt in Kreuzberg Ziel eines Anschlags geworden. In der Nacht zu Donnerstag hatten Unbekannte einen Brandsatz gegen die Fassade eines neusanierten Gebäudes geworfen. Dieses Mal jedoch wurden erstmals auch Menschen bedroht, die als Käufer dieser Wohnungen betrachtet werden.
Unbekannte haben in der Nacht zu Donnerstag einen Brandanschlag auf ein Gebäude mit Loftwohnungen an der Glogauer Straße in Kreuzberg verübt. Außerdem beschmierten sie die Hausfassade des sanierten Fabrikgebäudes mit dem Spruch „Yuppi-Schweine-Schüsse in die Beine“.
Freiheit oder Sicherheit? Wohin treibt die deutsche Politik?
Am Ruhetag des Herrn beschränken wir uns darauf, das zu lesen, was offen auf dem Tisch liegt. Heute: einer der besten Buchprospekte, die ich je las: vorne werden Bücher wie das gestern gepriesene „Kultur, um der Freiheit willen“ oder Helmut Schmidts „Außer Dienst“ angezeigt, hinten Bücher mit äußerst beredten Titeln wie etwa „Der Aufstieg der Anderen“, „Kalte Heimat“ oder „Klang ist Leben“. Aber mein Auge bleibt haften an einem ganz besonders klangvollen, in ausgepicht-raffinierter Art bebilderten Buchtitel: „Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von der Gegenwart bis zu den Anfängen.“ In wenigen Worten fasst der Flugzettel den Inhalt des Buches in folgenden Worten zusammen:
„Historisch erklärbare, kollektive Erwartungen an ein friedliches, sozial gesichertes Gemeinwesen haben seit 1949 sowohl innen- als auch außenpolitisch die Entwicklung Westdeutschlands entscheidend geprägt. Eckart Conze spürt in seiner umfassenden Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dem prägenden Konzept von Sicherheit nach und erhellt in einer spannenden Erzählung den Hintergrund gegenwärtiger Reformdiskussionen und Reformblockaden.“
Den Buchtitel ziert der glänzend-weiß verhüllte Reichstag. Straff überzogen ruht das Geschichts-Paket, abgeschirmt gegen die Fährnisse der Außenwelt. Es ist, als wollte man mit diesem gigantischen Überzieher den Kern des politischen Entscheidens für einen Augenblick dem Tagesbetrieb entziehen: Absicherung vor dem Draußen, Verhütung des Wandels, Stillstellung der Gegenwart – der Anschein der Sicherheit. Eine Illusion gewiß, aber eben doch ein schöner Schein, dem Tausende damals zujubelten.
Die Suche nach Sicherheit – ist dies das Grundthema der Geschichte der Bundesrepublik? Suche nach „sozialer Absicherung“, nach Einbettung in eine „Sicherheitsarchitektur“, nach dem abgezirkelten Ausbalancieren der Gegensätze?
Wir werden für das Verständnis der neuesten politischen Geschichte viel gewonnen haben, wenn wir die gegenwärtige Ratlosigkeit als Zeugnis eines nicht hinreichend bedachten Gegensatzes zwischen den beiden Polen Sicherheit und Freiheit begreifen. Die gesamte akademische Elite, und ebenso die politische Klasse unseres Landes scheuen mit saumseliger Zögerlichkeit davor zurück, sich zu diesen beiden einander bedingenden Polen ins Verhältnis zu setzen.
Nur die Partei Die Linke setzt ganz klar auf den Pol Sicherheit: Erhöhung der Grundsicherung auf 500.- Euro, möglichst weitgehende Absicherung der einzelnen Bürger gegen alle Widrigkeiten des Daseins. Man geht nicht fehl, wenn man die Linke als die im engeren Sinne konservative Kraft in Deutschland bezeichnet: Das vorherrschende Sicherheitsdenken, ererbt aus dem Kaiserreich, weitergetragen in den realen Sozialismus, wird nunmehr noch um eine Drehung verfestigt: Während es in der DDR-Verfassung und auch in der gelebten Wirklichkeit noch eine echte Arbeitspflicht gab, fällt dieses letzte Merkmal einer Beziehung auf Gegenseitigkeit ganz weg: die Grundsicherung nach den Vorstellungen der Linken wird ohne Bedingungen gewährt, der Staat übernimmt eine Letztgarantie für das Wohlergehen der Bürger und erkauft sich so wie in der Vergangenheit die absolute Unterwerfung. Denn man täusche sich nicht: Je stärker der Staat die Verantwortung für Wohl und Wehe der Bürger insgesamt übernimmt, desto mächtiger wird er, desto unhintergehbarer wird er. Es gibt dann irgendwann kein Außerhalb des Staates mehr – der Schritt zum totalitären Staat ist getan.
Der andere Pol – die Freiheit – ist nahezu verwaist. Ich sehe niemanden in der Landschaft, der klar, entschieden und mutig sich für die Freiheit ins Feld würfe. In einem Land, das Denker der Freiheit wie Friedrich Schiller, Hegel, Schelling, Fichte, Hölderlin, Hannah Arendt und Ludwig Erhard hervorgebracht hat, gibt es keinen einzigen maßgeblichen Politiker, der in der gegenwärtigen Krise noch einen emphatischen Begriff von Freiheit verträte. Nur einzelne, ganz vereinzelte Stimmen wie etwa der Historiker Christian Meier oder die Politikerin Vera Lengsfeld begehren gegen die Vorherrschaft des Sicherheitsdenkens auf. Sie sind noch eine kleine Minderheit.
Aber insgesamt reihen die Politiker sich verzagt und verstummend in die Reihen derer ein, die den Staat vor allem und zunächst als Bürgen der Sicherheit sehen – nicht als Ausdruck der Freiheit.
Den Journalisten, Soziologen und Politologen hat es – bei allem beredten Getöse und Geraune – die Sprache verschlagen: Man lese, als ein Beispiel von Hunderten, doch nur etwa das Interview des Soziologen Ulrich Beck im heutigen Spiegel online – es ist ein Offenbarungseid: Jahrzehntelange Forschungen zum Thema Risikogesellschaft entpuppen sich als Makulatur, weil versäumt wurde, Freiheit und Sicherheit als einander bedingende Pole zusammenzudenken. Ziel der Risikosoziologie, der Risikopolitik, der Risikoanalyse, der Risikowirtschaft war es ja, das Risiko einzugrenzen, zu managen, beherrschbar zu machen. Das ist der Grundgedanke der Futures und Hedgefonds – der Terminobligationen und Warenterminkontrakte. Und darauf beruhte zuletzt im wesentlichen der gigantische Finanzkreislauf der Erde – was für eine planetarische Verirrung!
Die Freiheit – war das große andere zur Sicherheit, das geradezu panisch ausgespart wurde.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet im Banken- und Versicherungswesen die gegenwärtige Krise ausgebrochen ist: verkörpern Banken und Versicherungen doch wie keine andere Institution das Streben nach Sicherheiten, Bürgschaften, Garantien. Die „Besicherung“ der Hypothekenkredite war in den USA nicht mehr gegeben – so geriet das ganze Kartenhaus ins Wanken. Sicherheiten, Sicherheiten, Sicherheiten – das verlangte der Chor der Makler und Banker – „Wir geben euch Sicherheiten!“ so erschallte es aus dem Munde der Politiker zurück. Und gerettet ward die Hypo Real Estate und viele andere dazu.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet im Automobilbereich derzeit die meiste Energie, die eigentlich zum Lösen der Probleme benötigt würde, sinnlos verheizt wird: Denn kein anderes Gerät verkörpert so sehr wie die großen massigen Geländewagen, die GM an den Bettelstab gebracht haben, den übermächtigen Wunsch nach Sicherheit: Sicherheit für die Insassen vor den Unebenheiten der Fahrbahn, vor all dem Widrigen des Daseins. Übertriebenes Streben nach Sicherheit und Komfort, das die allzu großen Wagen der GM bedienen und verstärken sollten, riss die GM-Tocher Opel in den Abgrund. Die Politik steht staunend und verzagt vor diesem Abgrund und ruft hinterher: „Welche Sicherheiten verlangt ihr? Und im Gegenzug: Was ist die Sicherheit, die ihr uns gewährt?“
Ihr seht: Sicherheit gegen Sicherheit, do certitudinem ut des certitudinem, Bürgschaft als Gegenleistung für politisches Wohlverhalten, Sicherheitsversprechen im Tausch für Wählerstimmen, das ist das betrübliche Spiel, das in einer Endlosschleife derzeit aufgeführt wird.
Aber Sicherheiten, die nur auf Sicherheiten begründet sind, werden zuletzt zur Lähmung: denn Sicherheit ohne Vertrauen in die Freiheit führt zur Blockade, führt zum Stillstand. Und genau das geschieht – Stillstand im Fall Opel seit über 5 Monaten, wie auch in vielen anderen Fällen – im Sozialbereich, in der Außen- und Verteidigungspolitik.
Vieles gäbe es hierzu zu sagen.
Für heute abend bleibe ich jedoch bei meiner mittlerweile gefestigten Überzeugung: Die deutsche und die europäische Politik leidet insgesamt an einem zu starken Sicherheitsbedürfnis. Der Gegenpol Freiheit wird vernachlässigt, es gibt keine namhafte politische Kraft in Europa, die diesen Pol besetzt hat. Das ist ein Schaden für das Ganze.
Was wir brauchen, ist eine Öffnung der Herzen und Geister zum frischen Wind der Freiheit, zum Ausgesetzten, zum Offenen – zur Einsicht in den grundsätzlich ungesicherten Zustand der Gesellschaft und des Einzelnen. Aus diesem Ungesicherten heraus erwächst Freiheit. Vertrauen in das eigene Vermögen, das Strebensglück zu erlangen. Freiheit bedeutet: Anerkennung, dass es im Politischen keine letzte Sicherheit gibt – keine letzte Sicherheit geben soll. Nur so kann aus der Freiheit-von, etwa der Freiheit von generationenübergreifenden Staatsschulden, eine Freiheit-zu, eine Freiheit etwa zur Gestaltung einer neuen Finanzordnung entstehen.
Wie kann dies geschehen? Dieser Frage werden wir uns in den nächsten Wochen widmen. Unsere nächste „Bürgin“ wird Hannah Arendt sein, deren Büchlein „Was ist Politik?“ wir nach dem hier angedachten Freiheitsbegriff durchforschen werden.
Wird die Kanzlerin Angela Merkel heute abend ihrer Gesprächspartnerin Anne Will etwas zu ihrem Verständnis der Freiheit sagen? Wir werden sehen und sind gespannt!
Mittlerweile empfehle ich den hier beigezogenen Faltprospekt des Siedler Verlags zum eifrigen Nachsinnen und Nachdenken. Der Prospekt ist kostenlos in die Bücher des Verlages eingelegt.
Phobie … aus Angst kann Hass entstehen
Im Tagesspiegel erscheint heute ein Artikel über die Ablehnung der Homosexualität. Diese Haltung wird häufig als Homophobie bezeichnet. Heißt aber Phobie nicht Angst? Heißt Homophobie also „Angst vor dem Gleichen“? Ich greife das Thema auf und antworte auf einen Leserkommentar von Leser „netter“. Er schreibt im Tagesspiegel:
Da kommt die Lesbe
Phobie?
Klaustrophobie, Arachnophobie usw..Das sind doch Ängste.
Ich denke, Homophobie triffts denn dann doch nicht. Ich glaube nicht, dass diese Leute Angst vor „Homosexuellen“ haben.
Das klingt ja beinahe so, als würde jemand gleich einen hysterischen Anfall bekommen, wenn er mit einem H. im selben Zimmer ist oder so.Zja, und dass unsere armen Migrationshintergründigen was gegen H’s. haben, das liegt ja nun an deren Kultur und dass die sich dieses Political Correctness NICHT aufpressen lassen
Auf diesen Kommentar antworte ich so:
Aus Angst vor dem Fremden kann Hass entstehen
@ netter: Diese Zusammensetzungen mit -phobie gehen auf griechisch phobos zurück. „Phobos“ heißt vieles: Fliehen, In-die-Flucht-Schlagen, Furcht, Angst. Das Fremdartige kann Flucht und Angst auslösen. Bereits in der griechisch-römischen Antike wurden Komposita mit „-phobia“ gebildet, die dann neben der „Angst vor …“ auch die „Ablehnung von…“ oder den „Haß auf …“ bedeuten, z.B. „iudaiophobia“, also die Ablehnung des Jüdisch-Christlichen durch das römische Imperium und dann der Hass auf das Jüdische (und auch das Christliche), der in gewalttätigen Verfolgungen gegen Juden (und auch Christen) seinen Ausdruck fand. Hierzu gibt es ein höchst lesenswertes Buch des Judaisten Peter Schäfer: „Judeophobia“. So auch bei Arachno-Phobie usw. Die Angst vor Spinnen (arachnoi) etwa kann in blinde Gewalttätigkeit gegen Spinnen umschlagen, also den Willen, alle Spinnen aus dem Haus zu vertreiben. Sinnlose Gewaltakte haben ihren Ursprung häufig in Angst vor Unbekanntem, das zu einem selbst gehört.
Was kann man dagegen tun? Wichtig scheint mir: Das Umgehen miteinander lernen. In einem geschützten Raum, wie ihn unser Rechtsstaat bereitstellt. Das ist schwer, aber es ist möglich.
Vertrauen säen statt Ängste schüren!
Unser Bild zeigt, frisch von der gestrigen Kita-Aufführung, eine gefährliche Biene und einen furchteinflößenden Stier. Den Stier Ferdinand. Na, wer sagt’s denn: Angst, Angst wohin das Auge reicht! Allerdings schelte ich die Medien nicht – denn die Medien bringen ja auch immer wieder in schöner Regelmäßigkeit Berichte, wonach ein großer Teil unserer Ängste unbegründet sind. Ein löbliches Geschäft! Die FAZ berichtet heute:
Fernsehen schürt Inflationsängste
Aber auch das Fernsehen ist einer neuen Studie zufolge mitverantwortlich für die aufgeflammten Ängste: Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich haben festgestellt, dass insbesondere das Fernsehen in Deutschland Inflationsängste vielfach über Gebühr schürt. Beim Wechsel von der D-Mark zum Euro-Bargeld sorgten zudem auch Zeitungen und Zeitschriften dafür, dass die neue Einheitswährung rasch ihren Ruf als Teuro weghatte, berichten die Forscher.
Es wäre interessant, aus diesen und anderen unschätzbar wertvollen Berichten ein Paket für eine Vertrauenskampagne zu schnüren! Mein Motto:
Vertrauen säen statt Ängste schüren!
Lasst euch nicht ins Bockshorn der Angst jagen!
Wir greifen unser altes Thema aus dem Winter wieder auf: Angst, und der Umgang mit ihr. Wovor habt ihr Leser Angst? Bitte ehrlich antworten! Vor Terroristen, vor BSE, vor Atomkraftwerken, vor der Partei Die Linke, vor steigenden Energiepreisen, vor den Deutschen, vor ausländischen Jugendlichen, vor dem Islam, vor christlichen Fundamentalisten, vor der Vogelgrippe, vor dem Finanzamt? Alles mit Nein beantwortet? Gratuliere – Sie sind wahrscheinlich weitgehend frei von irrationalen Ängsten!
Oder haben Sie Angst vor parfümiertem Lampenöl, vor der gemeinen Wintergrippe, vor Salmonellen, vor Kolivergiftungen, vor Verkehrsunfällen, vor Herz-Kreislauferkrankungen? Wenn Sie mit Ja antworten: Sie sind statistisch gesehen im Recht. Das Risiko, an einer der genannten Ursachen zu sterben, ist um ein mehrfaches Hundert höher als die zuvor genannte Risikofaktoren.
Im heutigen Tagesspiegel wartet der Soziologe Ortwin Renn mit bemerkenswerten Daten auf. Fast alle medial geschürten Ängste der letzten Jahre sind – nun zwar nicht völlig unbegründet, jedoch statistisch gesehen, und mit gesundem Menschenverstand erwogen, auf unglaubliche Weise aufgebauscht.
Herr Renn, Tschernobyl, Vogelgrippe, BSE – die Deutschen werden regelmäßig von Ängsten heimgesucht. Was hat es damit auf sich?
Bei vielen dieser Ängste gibt es Grundlagen, die nicht völlig idiotisch sind und über die man sich zu Recht sorgt. Andererseits sind die Reaktionen häufig übertrieben gewesen. Bei der Asian Flu (Vogelgrippe, Anm. d. Red.) haben Soldaten in Gasmasken und weißen Anzügen Schrecken unter der Bevölkerung hervorgerufen, obwohl eigentlich so gut wie nichts passiert war. Nur wenige Katzen und Vögel waren gestorben.
Währenddessen hat die größte Pandemie, die wir hatten, die Spanische Grippe vor dem Ersten Weltkrieg, immerhin dreißig Millionen Menschen umgebracht – damit ist dann auch nicht zu spaßen.
Wie war das bei BSE?
Der Schaden war insgesamt ausgesprochen gering und das ganze wurde völlig überbewertet. Wir haben in den letzten dreißig Jahren hochgerechnet etwa 180 BSE-Todesfälle unter den 300 Millionen Europäern gehabt. Im selben Zeitraum starben 136.000 an Salmonellenvergiftung, 12.000 an Kolivergiftungen. Noch ein Vergleich: Ungefähr die gleiche Zahl ist am Trinken von parfümiertem Lampenöl gestorben.
„Brennende Kühe zerstörten die Idylle“
Wie muss die Antwort auf die immer wieder anrollenden Angstkampagnen lauten? Erstens: Aufklärung. Die echten Gefahren lauern ganz woanders als die Angstmacher uns weismachen wollen. Dies lässt sich durch hartes Zahlenmaterial untermauern. Zweitens: Ursachen der echten Gefahren bekämpfen. Warnhinweise beachten, Vorsicht walten lassen, Sicherheitsvorschriften einhalten.
Gerade im Straßenverkehr kann jeder durch umsichtiges, vorsichtiges und regeltreues Verhalten sehr viel bewirken. Dem extrem hohen Risiko von Herz-Kreislauf-Erkankungen kann man durch tägliche ausreichende Bewegung, etwa durch das Fahrradfahren, und gesundes Essen wirkungsvoll vorbeugen.
Drittens: Vertrauen säen. Vertrauen in dich selbst, in den Nächsten, in das große Ganze, in das wir hineingestellt sind. Jeder Tag kann Neues, Schönes bringen. So habe ich zum Beispiel gestern in der Kita am Kleistpark eine schöne Aufführung von „Ferdinand der Stier“ gesehen. Bild steht oben, Bericht folgt!
Mein persönlicher Vierfach-Angst-Blocker:
Lasst euch nicht ins Bockshorn jagen. Esst mehr Äpfel. Fahrt mehr Fahrrad. Geht ins Kindertheater.
Mit einigen Büchern und einem USB-Stick im Gepäck radelte ich zu Marie-Luise. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren verspürte ich vor einem Vortrag oder Auftritt starkes Lampenfieber! Warum? Es war sicherlich ein titanisches Unterfangen, die Angst in einem Grenzgang zwischen Alt-Athen und Alt-Israel, zwischen Gegenwart und Antike, zwischen Psychologie, Literatur, Religion und Politik ausleuchten zu wollen. Aber es wurde ein sehr bewegender Abend für alle. Alle gingen mit starken Gefühlen schwanger – es war also keine theoretische Übung, sondern ein echtes Gastmahl für Kopf und Herz, zu dem jede und jeder etwas beitrug. Danke an euch alle, danke an Marie-Luise und Karl-Heinz!
Ein paar Folien, die man hier nachlesen kann, vermitteln einen ersten Eindruck von den Themen, dir wir erörterten: angst_eine-erregung.ppt
Entrüstungsmaximalismus – ein schönes Wort, das ich Sabine Bodes klugem Buch „Die deutsche Krankheit – German Angst“ entnehme (S. 251-3). Damals, im April 2006, ging es um das Attentat auf einen Deutsch-Äthioper in Potsdam. Heute geht es erneut um Jugendkriminalität, insbesondere bei jungen Männern. Damals wie heute werden einzelne Fälle herausgegriffen und überlebensgroß als Schreckensgemälde ausgespannt. Das ganze Angstszenario floß dann in politische Beratungen ein. Zitat aus dem Buch (S. 253):
Das zähe, jahrelange Verhandeln über ein Zuwanderungsgesetz ist ein Lehrstück darüber, wie nicht ausgedrückte Ängste eine vernünftige Politik blockieren können. Meiner Ansicht nach lag bei den Verfechtern der multikulturellen Gesellschaft wie auch bei den Befürwortern des Ausländerstopps dieselbe Ratlosigkeit zugrunde. Wäre die große gemeinsame Beunruhigung erkannt worden, dann hätte man sich eingestehen können: Wir haben Angst, weil wir nicht wissen, wie wir mit Fremden umgehen sollen.
Textauswahl für „Angst – Angststarre – Angstflucht – Angstlösung“
Für den Vortrag bei Marie-Luise am Freitag habe ich nunmehr die Textauswahl getroffen. Alle Zuhörer können sich vorab, so sie denn wollen und Zeit haben, mit diesen vorgeschlagenen Texten vertraut machen. Dies ist aber keine Bedingung – ich freu mich auf euch!
Aischylos: Perser insgesamt, jedoch besonders Einzugslied des Chores V. 1-155 vom Anfang und Monolog der Atossa, V. 598-622
Aristoteles: Rhetorik, 1382a-1383b; Poetik, 1449b-1450; 1453b11
Evangelium des Johannes: insgesamt, jedoch besonders 16,33
Biblia hebraica („Altes Testament“) in der griechischen Übersetzung der Septuaginta: Psalm 56 (Zählung der Septuaginta: 55, Zählung der evangelischen und katholischen Bibelausgaben: 56), Buch Genesis/Bereschit: Kapitel 3
Für alle Texte wird der griechische Text herangezogen, jedoch werden keine griechischen Sprachkenntnisse vorausgesetzt. Alles wird ins Deutsche übersetzt werden.
Gute deutschsprachige Literatur:
Sabine Bode: Die deutsche Krankheit – German Angst. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2. Auflage 2007
Borwin Bandelow: Das Angstbuch. Woher Ängste kommen und wie man sie bekämpfen kann. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2006
Wolfgang Schmidbauer: Lebensgefühl Angst. Jeder hat sie. Keiner will sie. Was wir gegen Angst tun können. Herder Verlag, Freiburg 2005
Im heutigen Tagesspiegel lese ich ein sehr bewegendes Gespräch mit Sabriye Tenberken. Es geht um ihre Angst, und wie sie sie überwunden hat. Auszüge:
„Als Sie neun Jahre alt waren, sind Sie durch eine Erkrankung langsam erblindet. Hatten Sie Angst?
Ich hatte Angst vor der Reaktion der Leute. Angst, allein zu sein, nicht mehr ernst genommen zu werden. Nicht vor dem Nichtsehen. Als ich sehen konnte, habe ich mir Blindheit als Dunkelheit vorgestellt, und als ich dann wusste, dass ich erblinde, habe ich auf die Dunkelheit gewartet. Aber es wurde nie dunkel.“
Ein großartiges Zeugnis der Überwindung der Angst, des mühsam errungenen Vertrauens – ich bin begeistert!
„Bekommen Sie Höhenangst?
Man kriegt nur Höhenangst, wenn man Zeit hat, sich auf die Höhe zu konzentrieren. Aber ich muss ständig auf meine Füße achten: Ist der Untergrund fest oder schlammig, Schnee, Eis oder Geröll? Und auf die Ohren: Jeder Blinde hatte ja einen sehenden Begleiter, bei mir war das Paul, und an seinem Rucksack hing ein Glöckchen, das mir die Richtung anzeigt.Da müssen Sie dem Vordermann ja eine ganze Menge Vertrauen entgegenbringen.
Klar, wenn er einen Abgrund runterspringen würde, dann spränge ich hinterher im Glauben, es ginge nur eine Stufe hinunter. Aber er wäre ja blöd, das zu tun. Als Blinder muss man sowieso Vertrauen haben. Wir haben bei uns zum Beispiel eine sehr gefährliche Straße, da rasen die Autos mit 100 Sachen. Ich sage den Kindern: Keine Angst, die Leute helfen euch rüber.Wie merken Sie, dass Sie jemandem vertrauen können?
Ich vertraue so ziemlich jedem. Das geht sogar so weit, dass ich beim Bezahlen das Portemonnaie offen hinhalte und sage: Such dir raus, was du brauchst. Die Leute sind so überrascht über dieses Vertrauen, dass sie es nicht missbrauchen. Wenn du dich als blinder Mensch mit Selbstverständlichkeit bewegen willst, führt Misstrauen zu nichts.“
Ich lese das Interview so: Der Gegensatz zu Angst ist nicht Mut oder Tollkühnheit, sondern Vertrauen. Dieses Vertrauen lässt sich nicht rational begründen, sondern nur beispielhaft am eigenen Leib erfahren, am besten durch das Vorbild eines anderen Menschen.
„Wenn Sie die Wahl hätten, sehen zu können oder blind zu sein, wofür würden Sie sich entscheiden?
Ich weiß nicht. Dadurch, dass ich etwas verloren habe, habe ich auch vieles gewonnen: Ich kann mich sehr lange stark konzentrieren. Und ich habe meine Angst verloren. Wenn man sehen kann, sieht man ein Problem, eine Sackgasse, und denkt: Da geht es nicht weiter. Ich habe diese Vorhersicht nicht, ich lasse mir Zeit und stelle mich ganz anders auf Leute und Probleme ein. Aus der Ferne scheinen Probleme manchmal unlösbar. Und wenn man davorsteht, dann begreift man erst: Hier ist eine Lücke, da kann ich durch.“
Wir müssen uns Sabriye Tenberken als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Angst vor etwas – warum eigentlich VOR?
Der aktuelle Spiegel (Nr. 2 vom 7.1.2008) bringt auf S. 143 unter dem Titel Willkommen, oh Schattenreich eine gute Besprechung der Tagebücher Peter Handkes. Handke schreibt demnach in seinem Tagebuch:
„A. hat Angst vor meiner Unbeherrschtheit, noch bevor ich die Beherrschung verliere (auch so ein kleiner Teufeskreis).“
Ein vortrefflicher Satz! Er spiegelt genau das wider, was die Angst oft so schrecklich macht: Die Erwartung eines Unheils, das man schon von irgendwoher zu kennen meint, das aber noch bevorsteht. Angst scheint stets in die Zukunft gerichtet zu sein. Vor etwa vollständig Vergangenem, einem Unheil, das endgültig abgeschlossen ist, empfindet man keine Angst, sondern Trauer, Wehmut oder ähnliches. Bereits in der Behandlung der Angst (phobos) bei Aristoteles, in der Rhetorik (1382b-1383a), wird das Wägend-Ungewisse, das in die Zukunft Vorgreifende der Angst sehr schön herausgearbeitet, und zwar so, dass auch wir modernen Menschen jeden Satz daraus verstehen und nachvollziehen können.
Tritt das Wovor der Angst dann endlich ein, dann erscheint die Angst sofort gemindert – oder sie verschwindet gänzlich. Dies haben viele Verbrechensopfer, aber auch Soldaten berichtet.
Wahrscheinlich heißt es deswegen: Angst vor etwas haben, nicht nach etwas.