Von der heilenden Kraft der Rede

 Freude, Gemeinschaft im Wort  Kommentare deaktiviert für Von der heilenden Kraft der Rede
Mai 312022
 

Die Red‘ ist vns gegeben
Damit wir nicht allein
Vor vns nur sollen leben
Vnd fern von Leuten seyn;
Wir sollen vns befragen
Vnd sehn auff guten Raht,
Das Leid einander klagen
So vns betretten hat.

Soweit Simon Dach, der aus Memel gebürtig ist, dort als Sohn eines Gerichtsdolmetschers für Litauisch aufwächst. Auf Litauisch heißt diese Stadt Memel von alters her übrigens Klaipėda.

Simon Dach hat recht: wieviel hilft es doch schon in Not und Ungemach, wenn man einander klagt, wenn man um guten Rat fragt – selbst wenn man weiß, dass diese Klage noch keine Veränderung der äußeren Welt mit sich bringt.

Was kan die Frewde machen
Die Einsamkeit verheelt?
Das gibt ein duppelt Lachen,
Was Freunden wird erzehlt;
Der kan sein Leid vergessen,
Der es von Hertzen sagt;
Der muß sich selbst aufffressen
Der in geheim sich nagt.

Von geradezu Dantescher Wucht ist hier das Sprachbild des sich selbst auffressenden, menschenabgewandten Sonderlings!

Wir lernen von Simon Dach: Die Rede, die Klage, das Raten – sie alle entfalten heilsame, entlastende Wirkung. Sie tun uns gut!

„Jetzt habe ich Dir meinen schlechten Tag erzählt – und schon geht es mir besser.“

Simon Dach hat recht!

Quelle:
Simon Dach: Perstet semper amicitiae venerabile foedus! Hier zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Wulf Segebrecht. S. Fischer Verlag o.O. 2005, S. 58-59

 Posted by at 20:49

Мир вам oder Мир вам? Wie unterscheidet man Ukrainisch und Russisch?

 Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Мир вам oder Мир вам? Wie unterscheidet man Ukrainisch und Russisch?
Apr 232022
 

In einer früheren Zeit, als Kreuzberg meine zweite, dritte oder vierte Heimat war, hörte ich dort immer wieder den uralten, den ewig neuen Friedensgruß, der zugleich auch ein Alltagsgruß geworden ist: Мир вам, wie der Ukrainer sagt, oder auch Мир вам, wie der Russe sagt, oder auch Salam aleikum, wie die Moslems im Späti am Kotti um die Ecke sagen, oder auch Scholem aleichem wie die Juden sagen, oder auch der Friede sei mit Euch, wie Jesus nach seiner Auferstehung nach dem Zeugnis des Johannes dreifach zu den Jüngern sagte.

Es ist erstaunlich, dass im Evangelium des Johannes Jesus nur an dieser Stelle die Jünger ausdrücklich mit diesem so alltäglichen, drei Mal wiederholten Friedensgruß anredet. Der Evangelist verknappt die Begrüßung Jesu an seine Jünger ins Dichteste, Alltäglichste. So wie er den Judas mit „Freund“ anredete, so redet er jetzt die Jünger mit „Der Friede sei mit euch“ an.

Im griechischen Neuen Testament lautet das bei Johannes so:

ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον, καὶ λέγει αὐτοῖς· Εἰρήνη ὑμῖν.

Auf Ukrainisch lautet das so:

увіходить Ісус, став посередині та й каже їм: «Мир вам!»

Auf Russisch lautet das in der eigenwilligen russisch-jüdischen Übersetzung des Neuen Testaments, die David Stern vorgelegt hat, so:

пришёл Йешуа, встал посередине и сказал: „Шалом алейхем!“

Dies zu begreifen ist gar nicht so schwer. Kann man Russisch, wird man das Neue Testament auch auf Ukrainisch lesen können. Kann man Ukrainisch, wird man das Neue Testament mit seiner Friedensbotschaft auch auf Russisch lesen und verstehen können.

http://kifa.kz/bible/stern/stern_yohanan_20.php

 Posted by at 18:46

Was bleibt, Letizia? Was stärker ist!

 Das Böse, Das Gute, Freude, Krieg und Frieden  Kommentare deaktiviert für Was bleibt, Letizia? Was stärker ist!
Apr 142022
 

Jeder Mensch fragt sich wohl immer wieder: Wie möchte ich sein? Wie sehen mich andere? Wie möchte ich gesehen werden? Manchmal gelingt es, diese Fragen in einem Bild zu beantworten. So etwas geschah mir im Mai 2008. Frau Steffan vom Zürcher Ammann Verlag sandte mir damals ein Bild von einer Veranstaltung mit Letizia Battaglia und Leoluca Orlando zu. Damals aufgenommen, im Willy-Brandt-Haus, Berlin-Kreuzberg. Zwei lachende Menschen sehe ich da, – eben Letizia Battaglia, die gestern verstorbene Photographin, daneben ich -, die beiden Menschen strahlen irgend jemandem entgegen, belustigt, fast augenzwinkernd. Sie scheinen einer Meinung zu sein. Im Hintergrund sieht man Fotos von einigen Verbrechen und Verbrechensopfern. Aber auch so etwas wie eine weiße Taube. Palermo, ihr wisst schon … Letizia selbst hat diese weiße Taube aufgenommen. Damals lief mehrere Wochen die Fotoausstellung im Willy-Brandt-Haus.

Du fragst, mein Freund: Darf man lachen, wenn man über schwierige, traurige Themen spricht? Ich frage dich: Wem hülfe es, wenn wir nicht lachten? Würde dadurch auch nur eines der Opfer wieder lebendig?

Beim Betrachten des Fotos kommt mir der Gedanke: Ja, so möchte ich immer sein! Im Einverständnis mit anderen, nach außen offen, gesprächsbereit, optimistisch. Niemand leugnet das Böse auf diesem Foto. Ich verleugne nicht die Schuld! Aber deine Gnad und Huld gibt eine Kraft, die auf Dauer stärker ist als das Böse: die Gemeinschaft im Jetzt, das Lachen, die Sympathie.

Ed i vivi? I vivi sono più esigenti dei morti, Letizia, sono molto esigenti! Il tuo sorriso mi rimarrà sempre. Ciao, Letizia!

Foto: Letizia Battaglia (Palermo, 5 marzo 1935 – Cefalù, 13 aprile 2022), Johannes Hampel. Willy-Brandt-Haus, Berlin-Kreuzberg, Mai 2008.  Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ulla Steffan, Zürich

 Posted by at 08:43

„Beisassen“, „Metöken“, „stranieri residenti“

 Antike, Migration, Philosophie  Kommentare deaktiviert für „Beisassen“, „Metöken“, „stranieri residenti“
Apr 042022
 
Im Theater des Dionysos, Athen, Januar 2019

Die kursorische Lektüre des wichtigen Buches „Stranieri residenti“ von Donatella di Cesare macht mir Lust, ein bisschen durch Zeiten und Räume, durch Sprachen und literarische Gattungen zu wandern. Wandern wir gemeinsam! Beginnen wir beim Titel des Buches! Wie könnte man auf Deutsch am besten das von der römischen Philosophin Gemeinte wiedergeben? Wir denken her, wir denken hin, wir fragen im Wandern: Menschen, die bei uns wohnen, die bei uns nicht nur vorübergehend verweilen, die bei uns bauen, ohne hier geboren zu sein, ohne von Ansässigen abzustammen, die aber einen gesicherten Aufenthaltsstatus ohne die vollen Bürgerrechte genießen, wie könnten wir die nennen? Antwort: Mit einem heute veralteten, aber überall verstandenen Ausdruck schlage ich für „straniero residente“ den Ausdruck „Beisasse“ vor. „Beisasse“, in Grimms Wörterbuch als „beisasz“ eingetragen, ist die häufigste Bezeichnung für das in Rede Stehende in alten deutschen Übersetzungen der biblischen Bücher, in Übersetzungen der Bücher aus dem alten Griechenland. Das griechische Wort dafür lautet μέτοικος, italienisch meteco.

In den meisten Stadtgemeinden der griechischen Antike, insbesondere in Athen, war bekanntlich das Bürgerrecht meist an die „Herkunft aus diesem Ort“, an die Abkunft von „Hiergeborenen“ geknüpft, während die dauerhaft Zugewanderten, eben die Metöken oder „Beisassen“ nur eingeschränkte Teilhaberechte genossen und eingeschränkte Teilhabepflichten auf sich nehmen mussten. Die ukrainische Wikipedia sagt darüber zutreffend:

Мете́ки (грец. Μέτοικοι) — у Стародавній Греції так називали чужинців, що оселилися у тому, чи іншому полісі. У 5-4 ст. до н. е. метеки, що складали значну частку міського населення Аттики, відігравали важливу роль в економіці міст. Становище метеків, що жили в різних грецьких полісах, було неоднаковим.

Der im Jahr 384 in Stageira geborene Aristoteles etwa, der selbst kein Bürger Athens war, aber doch als Metöke, d.h. als Beisasse in Athen etwa 20 Jahre lange lernte, lehrte und forschte, schreibt in lakonischer Kürze, politische Teilhabe genössen in Athen diejenigen, die von beiden Elternteilen her Abkömmlinge Athens seien. Sobald sie nach glaubhafter Bezeugung durch andere Bürger 18 Jahre alt seien, würden sie unter feierlichem Schwören in die Liste der Gemeindemitglieder, der „Vollbürger“ aufgenommen. Solle jedoch eine nachträgliche Prüfung ergeben, dass jemand fälschlich in den Besitz der Bürgerrechte gelangt sei, so verkaufe die Gemeinde Athen diesen Mann, der das Bürgerrecht erschlichen habe, in die Sklaverei.

Ausführlich im griechischen Text (Aristot. Const. Ath. 42.1):

 μετέχουσιν μὲν τῆς πολιτείας οἱ ἐξ ἀμφοτέρων γεγονότες ἀστῶνἐγγράφονται δ᾽ εἰς τοὺς δημότας ὀκτωκαίδεκα ἔτη γεγονότεςὅταν δ᾽ ἐγγράφωνταιδιαψηφίζονται περὶ αὐτῶν ὀμόσαντες οἱ δημόταιπρῶτον μὲν εἰ δοκοῦσι γεγονέναι τὴν ἡλικίαν τὴν ἐκ τοῦ νόμουκἂν μὴ δόξωσιἀπέρχονται πάλιν εἰς παῖδαςδεύτερον δ᾽ εἰ ἐλεύθερός ἐστι καὶ γέγονε κατὰ τοὺς νόμουςἔπειτ᾽ ἂν μὲν ἀποψηφίσωνται μὴ εἶναι ἐλεύθερον μὲν ἐφίησιν εἰς τὸ δικαστήριονοἱ δὲ δημόται κατηγόρους αἱροῦνται πέντε ἄνδρας ἐξ αὑτῶνκἂν μὲν μὴ δόξῃ δικαίως ἐγγράφεσθαιπωλεῖ τοῦτον  πόλιςἐὰν δὲ νικήσῃτοῖς δημόταις ἐπάναγκες ἐγγράφειν.

Die Untersuchung Donatella di Cesares liefert, wie wir gesehen haben, bereits vom Titel an fundamentale Anstöße, unser gesamtes Denken über Herkunftsgemeinschaften, Herkunftsdenken, Migration, Staatlichkeit in Frage zu stellen.

Di Cesares Hauptthese scheint mir dabei zu sein, dass grundsätzlich jedem Menschen das Recht zustehen müsse (müsse!), in ein Gebiet seiner Wahl zuzuwandern. Umgekehrt stehe den modernen Territorialstaaten, die sich zu viele Geltungsansprüche anmaßten, grundsätzlich nicht das heute allzu leichtfertig als selbstverständlich angenommene Recht zu, Ankommende, Zuwandernde, Wandernde an den Staatsgrenzen zurückzuweisen.

Sie untermauert diese Behauptung mit einer beeindruckenden Fülle an systematischen und historischen Befunden.

Quellen:

Donatella di Cesare: Stranieri residenti. Una filosofia della migrazione. Bollati Boringhieri, Torino 2017

›beisasz‹ in: Deutsches Wörterbuch (¹DWB) | DWDS

Метеки — Вікіпедія (wikipedia.org)

Aristotle, Athenian Constitution, chapter 42, section 1 (tufts.edu)

 Posted by at 09:05

„Mourir pour Dantzig?“ Frieren für Kyjiw? 5% weniger BIP, nur um die Ukraine zu unterstützen?

 Krieg und Frieden, Ökologie, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Mourir pour Dantzig?“ Frieren für Kyjiw? 5% weniger BIP, nur um die Ukraine zu unterstützen?
Mrz 132022
 

„Mourir pour Dantzig?“ – So fragte die Weltpresse, als das Deutsche Reich sich Mitte August 1939 völkerrechtswidrig die Freie Stadt Danzig einverleibte. Die Antwort lautete: nein. Niemand wollte für Danzig sterben.

Man ließ Hitler im August 1939 gewähren und bereitete so dem Deutschen Reich den Weg, ganz Europa in den Abgrund zu treiben. Man wollte den Diktator nicht provozieren, um ihn nicht weiter zu reizen.

Frieren für Kyjiw? Sollen oder wollen wir Deutschen frieren, wenn wir Russland kein Gas, kein Öl mehr abkaufen? Sollen wir dafür sogar 5% Prozent Rückgang unseres Bruttoinlandsproduktes in Kauf nehmen? Unser Bundeswirtschaftsminister Habeck befürchtet die Gefährdung des sozialen Friedens, wenn wir ein Ölembargo gegen Russland einziehen wollten.

https://www.deutschlandfunk.de/habeck-haelt-an-importen-aus-russland-fest-warnt-vor-gefaehrdung-des-sozialen-friedens-in-deutschlan-102.html

Der Minister traut uns einfachen Bürgern offenbar nicht so ganz über den Weg. Er unterschätzt unseren Idealismus, unsere Opferbereitschaft, unseren Menschenverstand.

„Frieren für Kyiw?“ Ich meine: Aber ja doch! Eine Absenkung der Durchschnittstemperaturen um nur 3°C in Innenräumen bringt bereits erhebliche Einsparungen beim Energieeinsatz von ca. 18%! Frieren muss niemand, bei 18°C kann jeder sich wohlfühlen. Dann zieht man halt noch einen zweiten Pullover an. Was ist so schlimm daran? Man bedenke auch den erheblichen Beitrag der Absenkung der Raumtemperatur zur Abmilderung des Klimawandels, denn die Gebäudeheizung verschlingt etwa 30% des Primärenergieverbrauchs in Deutschland.

„Drehen Sie der russischen Führung den Geldhahn zu!“, lautet der klare Appell in einem offenen Brief der Bürgerbewegung Campact, der unter anderem von der Klimaaktivistin Luisa Neubauer, dem Youtuber Rezo und dem Wissenschaftler Eckart von Hirschhausen unterzeichnet wurde.“

Luisa Neubauer, Rezo und andere fordern Importstopp von russischem Öl und Gas (rnd.de)

Natürlich wäre es auch gut, die heimischen Energieträger stärker zu nutzen, statt sich von den diktatorischen Regimes der Gas- und Erdoöllieferländer (z.B. Russland und Iran) abhängig zu machen.

An erster Stelle ist hier die Steinkohle zu nennen, von der Deutschland für etwa 200 Jahre reichlich besitzt. Moderne Steinkohlekraftwerke sind mittlerweile nahezu ebenso emissionsarm wie Gaskraftwerke!

Zweitens gilt es, die bereits errichteten, voll funktionsfähigen Kraftwerke bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer laufen zu lassen. Das gilt neben den Atomkraftwerken insbesondere auch für die hochmodernen Braunkohlekraftwerke in der Lausitz. „Bis zum Ende der Nutzungsdauer sind technische Gerätschaften zu nutzen!“ Das war ehedem eisernes Gesetz der Umweltschutzbewegung, die übrigens auch mich geprägt hat! Nur so werden Ressourcen gespart. Das gilt sowohl für Autos wie auch für Kraftwerke. Klimapolitisch ist es vermutlich besser, bestehende Kraftwerke aller Art bis zum Ende der möglichen Nutzung laufen zu lassen. Denn gerade der Neubau von Kraftwerken ist extrem emissionsträchtig. Man denke nur an den hohen CO2-Ausstoß bei der Herstellung von Beton!

Drittens können auch erneuerbare Energien einen gewissen Beitrag zur Senkung der Importabhängigkeit leisten.

Und die Elektromobilität? E-Autos sind derzeit etwas für die Besserverdienenden wie etwa Umweltminister, CEOs von Industrieunternehmen und Professoren. Hübsches Angebergeraffel, Zweitautos, Spielzeug für die Reichen, Gesinnungsausweis! Mit der extrem spendablen Förderung von E-Autos (6000.- pro Stück) vergrößert sich derzeit der PKW-Fuhrpark nur noch. Nie rollten mehr private PKWs über deutsche Straßen als gerade jetzt! Unbegreiflich, dass die Ampel-Bundesregierung das Planziel von 15 Millionen neuen E-Autos in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Das ist staatliche Geldverbrennung und Ressourcenverschwendung. Die Grünen mischen da ganz vorne mit.

Ich meine: Jeder kann etwas tun, um die exorbitant hohen Zahlungen an das Putin-Regime zu vermindern. Ein bisschen Frieren für Kyjiw – das tut niemandem weh. Ein Gas- und Ölembargo gegenüber einem Aggressorstaat wie Russland scheint mir durchaus verkraftbar. Man muss es nur richtig anpacken!

Die Politik sollte umsteuern – hin zu einer Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern. Heimische Energieträger sollten stärker genutzt werden, insbesondere erneuerbare Energien, Steinkohle, heimische Braunkohle, bestehende Kraftwerke aller Art.

Und die Wirtschaftspolitik sollte die sinnlose Ressourcenverschwendung der planwirtschaftlichen Wirtschaftslenkung eindämmen, Rechenstift und Zahlenwerke zur Hand nehmen. Das geschieht meines Erachtens viel zu wenig.

Mourir pour Dantzig? Das verlangt niemand.

Frieren für Lviv, Kyjiw und Czernowitz? Ja, das ist machbar und sinnvoll.

 Posted by at 22:46

Der harte Taler der Träume klingt auf den Fliesen der Welt

 Krieg und Frieden, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Der harte Taler der Träume klingt auf den Fliesen der Welt
Mrz 122022
 
„Putins Freunden den Geldhahn abtreten – Ölembargo jetzt!“ Auf der Demonstration vor der Russischen Botschaft, 6. März 2022

Mit russischen, ukrainischen und deutschen Beratern tagte vergangenen Sonntag mein kleines Küchenkabinett. Gemeinsam beschließen wir, ein Plakat anzufertigen. Eine klare Botschaft für die Demo vor der Russischen Botschaft muss her – nur welche?

Vielleicht diese zwei Zeilen aus dem Band „Mohn und Gedächtnis“?

„Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf, und wir tragen dich zechend zu Grabe.
Nun klingt auf den Fliesen der Welt der harte Taler der Träume.“

Oder diese:
„Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.“

Ich bat: „Bedenkt: der Dichter, Paul Antschel, stammt aus dem heute ukrainischenЧернівці, dem damaligen טשערנאָװיץ oder auch dem heutigen Czernowitz.“ Ich denke sie an, ich schlage die Glocke des großen Dichters. Doch unerbittlich fällen die Freunde das Urteil: „Zu blumig, zu wolkig für eine Demo!“

„Also – was? Übersetzt ihr bitte mal diese zwei Verse das ganze Gemenge in zwei knappe Forderungen!“, bat ich die redlichen Freunde.

Sie rieten hin, sie rieten her, Ratschluss stand fest, verkündet ward es:

„Putins Freunden den Geldhahn abdrehen – Ölembargo jetzt!“

Quellennachweis:
Paul Celan: „Marianne„, „Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel„, in: ders., Mohn und Gedächtnis, in: ders., Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. suhrkamp taschenbuch. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, S. 34 und S. 36

 Posted by at 19:51

Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen

 Krieg und Frieden, Polen, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen
Mrz 122022
 
Die Rote Fahne mit Hammer und Sichel auf einem russischen Panzer in der Ukraine. Screenshot RAI News 24, 12.03.2022

Welthistorische Erinnerungen tauchen auf, wenn ich in verschiedensten europäischen Sprachen – darunter Russisch, Ukrainisch, Italienisch – die Berichterstattung über den imperialistischen Zerstörungskrieg Russlands gegen die Ukraine verfolge und mir ein Gesamtbild zu verschaffen suche! Mit geballter Wucht rollen in diesen Augenblicken die russischen Panzer auf Kyiw zu. Sie sollen offenkundig das allrussische Reich, von dem schon die russischen Zaren und die russischen Bolschewiki träumten, mit Geschützdonner und Bombardierungen wiederaufbauen.

Stolz und aggressiv wie eh und je flattert heute, in diesen Augenblicken, die sowjetische Rote Fahne von diesem russischen Panzer. – Reib dir die Augen, sieh ihn dir an: da rollt doch die „Allrussische“ Union der Sowjetrepubliken heran. Wer dächte da nicht an das riesige Monumentalgemälde „Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern“ von Isaak Brodski, das Lenin herrscherlich am 19. Juli 1920 bei der Rede zeigt, in der er die berühmten Worte sprach: „Jawohl, die Sowjettruppen stehen in Warschau! Bald werden wir Deutschland haben!“

Dies war zwar eine glatte Lüge, wie so viele andere Lügen Lenins und der anderen sowjetisch-allrussischen Führer, die in seiner Nachfolge standen und stehen. Denn damals standen die russischen Panzer VOR Warschau, nicht IN Warschau. Und sie wurden zurückgeschlagen, sie nahmen Warschau nicht ein, sondern wurden in der Schlacht bei Warschau im August 1920 geschlagen, zerstreut und in den Rückzug getrieben. Józef Klemens Piłsudski vertraute übrigens damals nicht auf Diplomatie, Friedensappelle oder Handelssanktionen, sondern auf das letzte Mittel, das in solchen Situationen weiterhelfen konnte: eine schlagkräftige Armee, ein strategischer Schlachtplan, Entschlossenheit, Kampfwillen, Überlebenswillen seines Volkes.

Aber hier stellt sich nun die Frage: Wird ein Putin oder wer auch immer – hierin dem „allrussischen“ Vorbild Lenins folgend – bald sagen können: Unsere Panzer rollen auf Kiew zu – bald werden wir Polen haben?

Bitwa Warszawska – Wikipedia, wolna encyklopedia

 Posted by at 11:39

Мир Украине! Свободу России!

 Holodomor, Krieg und Frieden, Petrarca, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Мир Украине! Свободу России!
Mrz 012022
 

„Friede für die Ukraine! Freiheit für Russland!“ Starke, erhebende, erschütternde Momente bei der großen Kundgebung am Sonntag auf der Straße des 17. Juni gegen den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine! Gut die Einsicht, dass nur ein diktatorisches System einen solchen Angriffskrieg lostreten kann, wie ihn am 24. Februar Russland gegen die Ukraine vom Zaun brach.

Ohne Freiheit für die Bürger Russlands selbst, ohne Rechtsstaatlichkeit in Russland selbst wird Russland keinen dauerhaften Frieden für seine Nachbarn zulassen, scheint mir. Erschütternd die Erzählungen, die mir im Zusammenhang der Demo von Russen und Ukrainern zugetragen werden, – von anonym verbrannten russischen Soldaten, die diesem russischen Krieg zum Opfer gefallen sind, von Flugzeugladungen voller russischer Leichen, die irgendwie und irgendwo anonym in der Ukraine aufgesammelt werden und dann heimlich nach Russland geflogen werden. „Niemand darf davon erfahren.“ – „Die jungen russischen Wehrpflichtigen werden zu einem Manöver gekarrt, und am nächsten Morgen sind sie in einem gepanzerten Transportfahrzeug und müssen schießen, müssen töten.“

Viele Reden waren zu hören, einige sehr bewegend! Beachtlich fand ich insbesondere die Rede der ukrainischstämmigen Olexandra Bienert. Sie bezeichnete diesen Krieg Russlands nicht als die wahnsinnige Tat eines Verrückten, sondern als „imperialistischen Krieg“. Sie stellte ihn in eine Reihe anderer imperialistischer Kampagnen des russischen Großreichs, in eine Reihe mit den zahlreichen staatlich orchestrierten Massenmorden, die die kommunistisch geführte Sowjetunion im Gebiet der Ukraine beging, – wobei der Holodomor zweifellos einen traurigen Tiefpunkt ukrainischer Geschichte darstellte.

Über all dem schrie laut Petrarca: „Ich gehe durch die Welt und rufe ‘Friede, Friede, Friede’.

“I’vo gridando: pace, pace, pace.”

 Posted by at 15:39

Ein Film spannt des bunten Bogens Wechseldauer

 Frau und Mann, Freude  Kommentare deaktiviert für Ein Film spannt des bunten Bogens Wechseldauer
Feb 142022
 
Komm mit mir in das Cinema. Die Gregors. Film von Alice Agneskirchner. Weltpremiere am 13. Februar 2022 im Delphi Kino bei der Berlinale Berlin

Augsburg, im Domviertel, abends, 14. Februar 2022

Bin immer noch ganz beseligt von diesem herrlichen Film über Erika und Ulrich Gregor – er spannt so einen schönen, farbenbunten Bogen durch das Leben dieses bewundernswerten Paares, geht so klug, so bedachtsam, so einfühlsam und so professionell mit Menschen, Filmen, Themen, Klängen, Schnitten um, dass ich kaum zu Ende komme mit dem Loben!

Dieses gemeinsame Kind – der Film – wird seinen Weg machen, wird Erfolg haben! 

Die Filmproduktion Ehlermann & Agneskirchner hat aus dem mit mir geführten Gespräch zwei sehr prägnante, sehr gut ausgewählte Aussagen in den fertigen Film hereingenommen, eigentlich die besten überhaupt! Auch damit war und bin ich hochzufrieden. Hochzufrieden, sagte ich, glücklich, und – ja – auch dankbar dafür. Denn wann sonst erhielte ich die Chance, als Zeitzeuge mit und nach Wim Wenders, Jim Jarmusch, Helke Sander, István Szabo, Rosa von Praunheim und einigen anderen die Filmwelt und Filmwahrnehmung umgestaltenden Persönlichkeiten zu Wort zu kommen?

Der starke, tiefe, beglückende Eindruck dieses wunderbaren Films steht mir noch lange — vor Augen, klingt in den Ohren, hängt in der Nase…!

 Posted by at 22:47

Ist das „richtiges Deutsch“? – Was ist das eigentlich – „richtiges Deutsch“?

 Deutschstunde  Kommentare deaktiviert für Ist das „richtiges Deutsch“? – Was ist das eigentlich – „richtiges Deutsch“?
Feb 072022
 

Brandenburgs ehemaliger Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) hat einem Medienbericht zufolge in Hohen Neuendorf an einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen teilgenommen. Das bestätigte Schröter am Sonntag dem «Nordkurier». Er tue das, weil er überzeugt sei, dass die 2G-Regelungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sagte Schröter der Zeitung.

Demonstrationen: Medienbericht: Ehemaliger Innenminister bei Corona-Demo | ZEIT ONLINE

Soweit eine hier unverändert wiedergegebene dpa-Meldung vom gestrigen Tage – hier in der durch die renommierte Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlichten Fassung.

Unabhängig vom Inhalt der Meldung, über deren Wahrheitsgehalt wir uns jeder Wertung enthalten, stellen wir die Frage: Ist dies „richtiges Deutsch“? Was ist überhaupt „richtiges Deutsch“? Näherhin betrachtet, werfen wir die Frage auf: Wie steht es um die Gesundheit der indirekten Rede im deutschen Sprachraum, insbesondere bei der in Tages- und Wochenzeitungen schreibenden Zunft? Lebt die indirekte Rede noch, oder stirbt sie gerade eines schleichenden Todes? Eine keineswegs nebensächliche Frage! Verändert sie doch Wahrheitsgehalt und Wertung von Aussagen dritter Personen in einem fundamentalen Sinne!

Betrachten wir etwa den Unterschied in folgenden, frei konstruierten Sätzen:

a) Max Ballauf nahm gestern eigenen Angaben zufolge am Kölner Tatort die Ermittlungen wieder auf, weil er überzeugt sei, dass der vor vier Jahren Verurteilte nicht der Mörder ist.

b) Max Ballauf nahm gestern eigenen Angaben zufolge am Kölner Tatort die Ermittlungen wieder auf, weil er überzeugt sei, dass der vor vier Jahren Verurteilte nicht der Mörder sei.

c) Max Ballauf nahm gestern eigenen Angaben zufolge am Kölner Tatort die Ermittlungen wieder auf, weil er überzeugt war, dass der vor vier Jahren Verurteilte nicht der Mörder war.

Überlegt: Was ist der Unterschied zwischen diesen Aussagen?

Antwort: Schwierig, schwierig! Lasst nicht locker!

Spielt nun dasselbe Spiel mit folgenden Aussagen, – wobei nur die erste Fassung tatsächlich so durch die dpa herausgegeben worden ist, während die anderen beiden zur Untersuchung des grammatisch-semantischen Problems der indirekten Rede umkonstruiert worden sind:

a) Brandenburgs ehemaliger Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) hat einem Medienbericht zufolge in Hohen Neuendorf an einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen teilgenommen. Das bestätigte Schröter am Sonntag dem «Nordkurier». Er tue das, weil er überzeugt sei, dass die 2G-Regelungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sagte Schröter der Zeitung.

b) Brandenburgs ehemaliger Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) hat einem Medienbericht zufolge in Hohen Neuendorf an einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen teilgenommen. Das bestätigte Schröter am Sonntag dem «Nordkurier». Er tat das, weil er überzeugt war, dass die 2G-Regelungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sagte Schröter der Zeitung.

c) Brandenburgs ehemaliger Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) hat einem Medienbericht zufolge in Hohen Neuendorf an einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen teilgenommen. Das bestätigte Schröter am Sonntag dem «Nordkurier». Er tue das, weil er überzeugt sei, dass die 2G-Regelungen „nicht mit dem Grundgesetz vereinbar“ seien, sagte Schröter der Zeitung.

Worin liegt der Unterschied? Findet ihr es heraus? Welche der Fassungen empfindet ihr als „richtiges Deutsch“? Wie gut kennt ihr euch mit der indirekten Rede aus?

Schwierig, schwierig!

Meine vorläufige Diagnose zur Gesundheit der indirekten Rede: Die schreibende und sprechende Zunft im deutschen Sprachraum einschließlich der dpa-Autoren steht zunehmend auf Kriegsfuß mit der indirekten Rede. Sie – die indirekte Rede, nicht die schreibende Zunft! – scheint tatsächlich eines schleichenden Todes zu sterben!

Das sollte man als wachsamer Leser wissen. Zahllose Missverständnisse können nämlich aus dem zunehmenden Verfall der indirekten Rede erwachsen, wie etwa dasjenige, das darin läge anzunehmen, die dpa und die ZEIT teilten die Meinung des SPD-Politikers Schröter, dass die 2G-Regelungen „mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“ seien.

 Posted by at 07:02