Sep. 052009
 

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Grüß Gott Hamed! So rede ich diesen Mann an, der in seinem Buch viele Orte nennt, die ich aus eigener Kindheitserfahrung kenne: den Friedberger Baggersee, an dem wir unschlüssig-begehrlich den Mädchen nachschauten. Den Betonklotz der neu erbauten Augsburger Universität, an dem Abdel-Samad sein Zweitstudium begann und ich damals noch als Gymnasiast die ersten Philosophie-Seminare besuchte. Der Betreuer des ägyptischen Studenten, Prof. Peter Waldmann, den ich kannte, war an der Volksschule in der Firnhaberau der Lehrer meines älteren Bruders. Und so gibt es sicher noch einige andere Menschen und Orte, die uns verbinden.

Ein Buch wie ein Sturmhauch. Ein Buch, mit dem ein Mensch die Fasern seines eigenen Lebens bloßlegt, schonungslos und doch von einer überwältigenden Sehnsucht nach Freiheit getragen. Das ist das Buch „Mein Abschied vom Himmel“ von Hamed Abdel-Samad. „Niemand ist frei außer Zeus!“, so schießt es dem Autor durch den Kopf, als er von seinem schmerzhaften Entschluss berichtet, als junger Erwachsener aus Ägypten nach Deutschland zu ziehen.

„Fast alles erschien mir fremd in diesem Deutschland: die Sprache, die Menschen, die Autos, das Essen, die Wohnungen, eben alles. Deutschland war für mich wie ein kompliziertes Gerät, für das es keine Gebrauchsanweisung gibt.“

In sich selbst steigt dieser Forscher der Seele hinein – aber während er dies tut, hält er uns Deutschen auch den Spiegel vor. Er hoffte auf das Land der Heidegger, Nietzsche und Husserl zu treffen, ein Land, das früher einmal emphatisch von Freiheit gesprochen hatte. Statt dessen zieht er ernüchtert Bilanz:

„Von Freiheit war nur im Zusammenhang mit Sexualität oder Konsum die Rede. Freiheit schien die Möglichkeit der Wahl zwischen Cola und Cola Light zu sein.

Die Gesellschaft übte einen ungeheuren Zwang auf die Bürger aus: Kein Zwang der Gebote, sondern der Angebote. Und so habe ich wirklich freie Menschen im Land von Nietzsche nur selten getroffen. Die meisten sind gleichgültige Gestalten, die erschreckend wenig über die Welt wissen, obwohl die Deutschen Weltmeister im Reisen sind. Gleichgültigkeit schien sich krebsartig in der satten Gesellschaft breitgemacht zu haben. […] Nachdem sie zwei Weltkriege ausgelöst und fast sechs Millionen Juden ermordet hatten, entdeckten die Deutschen ihre Leidenschaft für den Umweltschutz, wollten den Regenwald retten und für die Menschenrechte in der dritten Welt und in China eintreten.“

Hamed Abdel-Samad selbst macht es sich nicht so einfach wie wir. Eintreten für Naturschutz, gegen Atomkraft demonstrieren, das ist alles leicht, das ist bequem. Aber sich um die Geschichte auch nur eines arabischen Jungen zu kümmern, der bei uns um die Ecke lebt, der neben meinem Sohn in der Klasse sitzt, – das ist schon schwieriger. Mir fiel das heute wieder auf, am Tag der Einschulung der Erstklässler. Getrennte Welten – nur scheinbar vereint!

Dieses Buch ist ein Schlag der Befreiung. Es wird eine ganze Bibliothek von gutgemeinter, aber wirkungsloser Migrations- und Integrationsforschung in einem anderen Licht erscheinen lassen. Leute, lest das! Euch werden die Augen übergehen!

Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland. Fackelträger Verlag, Köln 2009, 312 Seiten. Zitate: S. 21, S. 41

Mein Abschied vom Himmel von Hamed Abdel-Samad

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Das Nicht-Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland bleibt gut

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Juli 202009
 

Weil die meisten Deutschen, die sich zum Mord an der Dresdnerin Marwa äußerten, in ihrer eigenen Welt leben, keinen oder kaum Kontakt zu Muslimen oder zu Ausländern zu haben scheinen, wurden viele schiefe Signale ausgesendet. Für besonders falsch halte ich es, wenn jetzt ein angeblich verbreiteter Fremdenhass, die angeblich verbreitete Angst vor dem Islam als wesentliche Ursachen für diesen Mord gesehen werden.

Deutschland ist heute ein Land, in dem weder Rassismus noch Ausländerfeindlichkeit besonders ausgeprägt sind. Sie sind nicht stärker, eher schwächer als in vielen anderen Ländern, die ich kenne. Oh ihr Deutschen, pflegt Freundschaften mit Muslimen, ladet sie ein, schickt eure Kinder doch bitte – wie ich – in die Schulen und Kitas mit muslimischen Mehrheiten – dann werdet ihr weniger hysterisch reagieren ob eurer eigenen Schuldgefühle, weil ihr euch von den Muslimen fernhaltet!  Und ich empfehle euch besonders die folgende Stellungnahme des Zentralrates der Ex-Muslime:

Der Zentralrat der Ex-Muslime hat islamische Verbände davor gewarnt, den gewaltsamen Tod einer Ägypterin im Dresdner Landgericht politisch zu instrumentalisieren. Es gebe keine Anzeichen für eine Islamophobie in Deutschland, sagte die Vorsitzende Mina Ahadi der «Leipziger Volkszeitung». Die Bundesregierung habe immer wieder erstaunliche Zugeständnisse an die hier lebenden Muslime gemacht, zuletzt beim Islamgipfel. Sie müsse eher aufpassen, dass sie nicht mit falschen Zugeständnissen dem radikalen Islamismus Vorschub leiste.

«Plötzlich redet keiner mehr über sogenannte Ehrenmorde, die hier in islamisch geprägten Familien traurige Realität sind», sagte Ahadi. Den damit bedrohten Mädchen und nicht islamistischen Fanatikern müsse geholfen werden. Ahadi warf dem Chef des Zentralrats der Muslime, Ayyub Köhler, «Doppelmoral» vor. «Wenn Frauen im Iran für ihre Rechte auf die Straße gehen, werden sie erschossen. Wird dagegen in Deutschland protestiert, werden Kritiker mit dem Vorwurf der Islamophobie unter Druck gesetzt.»

Und genau heute wurde berichtet, ein Deutscher sei auf offener Straße in der Türkei erstochen worden. Und in München hat ein Afghane unter Berufung auf den Islam seine ehemalige Frau erstochen, die sich von ihm losgesagt hatte. Auch das sind Einzelfälle, die das im wesentlichen gute Verhältnis, oder besser gesagt: das gute Nicht-Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland nicht beeinträchtigen werden.

Zentralrat der Ex-Muslime

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Juli 052009
 

Der Donnerstagabend stand im Zeichen der Diskussion  über Parallelgesellschaften und Integration. Mir war im Glashaus (die Kneipe heißt wirklich so!) die ehrenvolle Aufgabe des Moderators zugedacht. Gleich zu Beginn lobte ich die deutsche U21-Nationalmannschaft über den grünen Klee und zitierte ausführlich aus einem Interview mit dem Spielführer. Ich meine in der Tat: Wenn man gemeinsame Teams bildet, wenn alle an einem Strang ziehen, dann gelingt Integration.

Oberschulrat Schmid schlug, gestützt auf umfangreiches Wissen aus seiner Verwaltungspraxis, deutlich pessimistischere Töne an als dieser Blogger in all seiner Blauäugigkeit. Über weite Viertel Berlins bestünden bereits jetzt verfestigte Parallelgesellschaften. Sie seien gekennzeichnet durch ein archaisches Rollenverständnis und geringe Bildungsanstrengungen. Diese abgeschotteten Parallelwelten gelte es aufzubrechen: erstens durch konsequente Integration, zweitens durch das Einfordern und Durchsetzen guter deutscher Sprachkenntnisse und drittens durch einen deutlichen Mentalitätswandel bei den Eltern. Ihnen komme eine entscheidende Bedeutung zu.

Der Befund des Herrn Schmid  wie auch die Beiträge der anschließenden Diskussion lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Aufgrund jahrzehntelanger Fehler und Versäumnisse bei den Zuwanderern selbst wie bei der Politik hat sich nunmehr ein massives Integrationsdefizit bei der überwiegenden Mehrheit der Zuwanderer aus islamischen Kulturkreisen verfestigt. Es fehlt an grundlegenden Sprachkenntnissen, an Kenntnissen und Fertigkeiten bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Vorstellungen, dass mehrere voneinander abgeschottete Kulturen in einem Land nebeneinander ohne einen gemeinsamen Bestand an Werten existieren könnten, hat in die Sackgasse geführt.

Nur durch massive Anstrengungen, die vor allem durch die Migranten selbst zu erbringen sind, werden die Ghettogrenzen des Migranten-Status aufzubrechen sein. Dem muss eine großangelegte Bildungsoffensive dienen.

Weitere Themen, über die gesprochen wurde, über die jedoch keine Einigkeit erzielt wurde, waren das Gottesbild im Islam, die Rolle der Religionen bei Fanatismus und Glaubenskämpfen sowie auch Wesen und Natur des Islam überhaupt. Ist der Islam eine Religion oder ein umfassendes System, das alle Lebensbereiche durchdringt? Ist der Gott des Islam ein rächender, strafender Gott oder ein barmherziger, versöhnender? Welche Vielfalt an Gottesbildern gibt es in der Tora der Juden, im Neuen Testament der Christen, im Koran der Muslime?

Mir fällt ein, dass einmal ein irakischer christlicher Asylbewerber gefragt wurde: „Erklären Sie den Unterschied zwischen dem islamischen und dem christlichen Gottesbild!“ Damit sollte er beweisen, dass er würdig und recht sei, als Asylbewerber anerkannt zu werden.

Ich meine: Wer so fragt, hat schon bewiesen, dass er wenig Ahnung hat. Im Christentum, aber auch im Judentum gibt es mehrere, einander teilweise widersprechende Gottesbilder, die sich letzlich nur als Abfolge von Offenbarungen aufeinander beziehen lassen. Es gibt schlechterdings kein einheitliches Gottesbild im Christentum – weder in der Bibel noch im nachbiblischen Christentum. Der rächende, der strafende Gott ist von den ersten Kapiteln der Genesis bis zu der Offenbarung des Johannes spürbar. Ebenso auch der liebende, verzeihende, der barmherzige Gott. Ähnliches, so vermute ich, dürfte für den Gott des Korans gelten.

Oft wird auch fälschlich behauptet, der Gott der Juden sei der strafende, eifernde Gott, der Gott der Christen der verzeihende, gütige. Nichts ist falscher als das. Derartige Behauptungen lassen sich nur mit mangelnder Kenntnis der Schriften erklären.

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Juli 012009
 

Am 4. Juni 2009 sprach Präsident Obama bei seiner großen Rede in Kairo eine Wahrheit aus, die wenigen geläufig ist:

The White House – Press Office – Remarks by the President at Cairo University, 6-04-09
The dream of opportunity for all people has not come true for everyone in America, but its promise exists for all who come to our shores — and that includes nearly 7 million American Muslims in our country today who, by the way, enjoy incomes and educational levels that are higher than the American average.

Auf gut Deutsch: Die Muslime der USA haben ein höheres Durchschnittseinkommen als der Durchschnitt der gesamten Bevölkerung. An der Religion kann es also nicht liegen, wenn die Einwanderer aus muslimischen Ländern in Deutschland in nahezu allen Bereichen – Einkommen, Bildungsgrad, Arbeitslosigkeit – schlechter dastehen als der Durchschnitt. Nein, es muss andere Ursachen haben.

In ihrem Buch über Die letzte Volkspartei  (S. 157)  schreibt Mariam Lau:

Die Gründe für die Gewalt junger Ausländer sind weniger geheimnisvoll, als in der Diskussion damals oft suggeriert wurde. Prügelnde Väter, ein Ausmaß an Sozialhilfe, das jede eigene Anstrengung im Kern erstickt, die Priorität der Familie gegenüber den Einzelnen, die natürlich die Ausprägung eines individuellen Gewissens und ein eigenes Verhältnis zur deutschen Gesellschaft untergraben, gehören dazu. […]

Lange schon ist Deutschland ein Einwanderungsland; die Konservativen wollten das nicht zur Kenntnis nehmen, die Linken wollten nicht über die Schattenseiten reden. In Amerika, wo der Zugang zu Sozialhilfe fast unmöglich, der auf den Arbeitsmarkt dagegen leicht ist, gibt es praktisch keine Kriminalität von Arabern oder Türken. Sie fühlen sich als Amerikaner und empfinden Terror in der U-Bahn als das, was er ist. Die Kultur kann es also nicht sein. […] Viele würden gern alles auf den Islam schieben. Nur gerät man dann in Erklärungsnot, warum die Strukturen in amerikanischen Schwarzen- oder Latino-Vierteln denen in Neukölln so ähnlich sind, während amerikanische Muslime zu den wohlhabendsten und zufriedensten Gesellschaftsmitgliedern der USA gehören.

Ich meine: Wir brauchen ein Ideal von Deutschland.  Ein Ideal, dem jeder beitreten kann, sofern er nur den Willen dazu hat und bereit ist, für sich und andere Verantwortung in diesem Land zu übernehmen. Die ethnische Herkunft ist dabei unerheblich. Entscheidend ist dieser beständige Vorgang der Selbst-Integration. Dieser Prozess hört ein Leben lang nicht auf. Er ist unabschließbar, weil unser Deutschland sich beständig ändert. Es gibt keine materiellen Gewissheiten, die die Zugehörigkeit zu diesem Deutschland sichern. Das Ideal wird nie vollkommen verwirklicht. Wir sind immer unterwegs zu ihm. Aber wir brauchen ein solches Ideal. Und man muss es benennen und erzählen können. Es ist wie ein Traum, der lebbar gemacht werden muss. Weder die Deutschen noch die Ausländer konnten mir bisher genau, mit guten, überzeugenden Bildern erzählen, was dieses Ideal ist.

Wird der Abend morgen im Glashaus mehr Aufschluss bringen?

Buchtipp:

Mariam Lau: Die letzte Volkspartei. Angela Merkel und die Modernisierung der CDU. DVA München 2009. Hier: Ein deutscher Islam? Wie die CDU das Thema Integration für sich entdeckt hat, S. 133-167

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Skeptische Kelek

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Juni 252009
 

Recht skeptisch äußert sich die von diesem Blog mehrfach hervorgehobene Necla Kelek zur heute eröffneten Islamkonferenz. In der heutigen FAZ schreibt sie unter anderem:

Erfolgreich gescheitert.

Klargeworden ist bislang vor allem der Unwille des politischen Islam zur
> Integration.
Von Necla Kelek
>
> Nach drei Jahren Islamkonferenz weiß zwar niemand, wofür „der“ Islam in
> Deutschland steht, aber man weiß, was ein Segment von ihm will: Der
> politische Islam will Schritt für Schritt seine Rechte auf ein
> religiöses Leben in Deutschland durchsetzen. Das scheint zu gelingen,
> denn der Wille der politisch Verantwortlichen, sich mit den
> Islamverbänden zu arrangieren, ist überdeutlich. Der Innenminister
> feiert auf dem Plenum der Deutschen Islamkonferenz einen Dialog, der
> nicht wirklich stattfand.
>
> Wir diskutierten in der Arbeitsgruppe „Deutsche Gesellschaftsordnung und
> Wertekonsens“ drei mühselige Jahre lang, bis die meisten Islamverbände
> zumindest auf dem Papier den Wertekonsens des Grundgesetzes
> akzeptierten. Die Verbände wollen Rechte, aber Verantwortung für Dinge,
> die im Namen des Islams stattfinden, ja sogar die Integration lehnen sie
> ab. Trotzdem geben die politisch Verantwortlichen Schritt für Schritt
> der islamischen Mission durch Zuwanderung nach. Dabei findet kein Dialog
> auf Augenhöhe statt, sondern werden Sozialarbeit, Symbolpolitik und eine
> Integration um fast jeden Preis betrieben. Gelegentlich habe ich von
> verantwortlichen Politikern hinter vorgehaltener Hand gehört, „die
> Muslime“ seien noch nicht so weit, dass man mit ihnen Klartext reden
> könne. Für mich ist dieses Nichternstnehmen, dieses therapeutische
> Moderieren eine subtile, wenn auch ungewollte Art der Diskriminierung.
>

Ich enthalte mich eines Kommentars. Wegen Zeitmangels.

Feuilleton – FAZ.NET

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Mai 182009
 

 Yussuf – so heißt ein Mitschüler meines Sohnes. In Yussuf benannte sich auch Cat Stevens nach seinem Übertritt zum Islam um. Würdet ihr glauben, dass dieser Yussuf kein anderer ist als der Joseph aus dem 1. Buch Mose, das Juden wie Christen gemein ist?

Diesem Joseph oder Yussuf begegnete ich gestern beim Spazierengehen in Würzburg. Ihr seht ihn dort oben. Es war ein herrlich leichter, hingezauberter Abend. Die alte Mainbrücke zu überschreiten, den Blick der ruhig vertäuten Kähne zu genießen und ein paar Worte unter Freunden zu wechseln, das war für mich gestern ein schöner Augenblick.

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So wie Navid Kermani oder Necla Kelek uns einen neuen Blick auf das Kreuz lehren können, so vermag es Goethe, die Eigenart des Islam genauso hervortreten zu lassen wie auch sein Strenges und Hartes. Ähnlich wie Kermani gelingt es ihm, in Anziehung und Abstoßung des Eigene und das Fremde geradezu sinnlich spürbar werden zulassen.

Goethe schreibt in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans in dem Mahomet benannten Kapitel:

Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplificationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen  bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt.

Eine der wenigen im echten Sinne erzählenden Suren ist die Sure 12. Sie ist ganz dem Josef (ungarisch: Joschka, arabisch: Yusuf, bairisch: Sepp) gewidmet. Goethe rühmt an der koranischen Umarbeitung der biblischen Josefsgeschichte, sie sei bewundernswürdig.  Die Überlieferungen des Alten Testaments beruhen – so Goethe – „auf einem unbedingten Glauben an Gott, einem unwandelbaren Gehorsam und also gleichfalls auf einem Islam“.

So wie Kermanis Bildmeditationen das beste sind, was ich seit einigen Monaten über das Christentum gelesen habe, so stellen Goethes Meditationen über Mahomet das beste dar, was ich seit vielen Wochen aus der Feder eines Nicht-Muslims über den Islam gelesen habe. Ohne flache Multi-Kulti-Versöhnlichkeit gelingt es Goethe, sich in Lebenswelt und Schriftsinn des Koran hineinzuversetzen, sich in ihn einzufühlen, ohne die eigene, abendländische Denkart preiszugeben.

Der Goethe des West-östlichen Divans ist DER große Anreger für uns in der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er muss gleichberechtigt an die Seite des bekannteren Goethe gestellt werden, der den Faust geschrieben hat!

Schließen wir diese kurze Abendandacht mit einem Zitat aus der 12. Sure, Vers 92-93. Sie kann uns zeigen, wie innig verschwistert Judentum, Christentum und Islam sind und bleiben. Denn alle drei Religionen erzählen in immer neuen Abwandlungen das spannungsreiche Thema der Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Bruder und Bruder. Ob Cat „Yussuf“ Stevens, ob Josef „Joschka“ Fischer sich immer bewusst waren, welche Kraft in ihrem Namen lag? Ihrem hebräischen Namen, der bedeutet: ER fügt hinzu? Denn nachdem Josef von seinen Brüdern verraten und verkauft worden war und der Vater aus Gram und Kummer das Augenlicht verloren hat, führt er zuletzt die große Versöhnung herbei, indem er sein Hemd weggibt und hinzufügt und dabei seinen Brüdern sagt:

„Keine Schelte soll heute über euch kommen. Gott vergibt euch, Er ist ja der Barmherzigste der Barmherzigen. Nehmt dieses mein Hemd mit und legt es auf das Gesicht meines Vaters, dann wird er wieder sehen können.“

Das heißt: Die Versöhnung geht vom Sohn aus, nicht vom Vater. Heißt sie deshalb Ver-söhnung, also Wiederherstellung des Sohn-Seins? Etymologisch nicht, denn das Wort stammt von Sühne ab. Aber in einem tieferen Sinne stimmt dieses Brückenbild. Joseph oder Yussuf – sie stehen im Bilde gesprochen „auf der Brücke“, sie sind die großen Hinzufüger, die großen Schenkenden.

Versöhnung geht in der Josefsgeschichte von dem aus, dem Unrecht angetan wurde, nicht von den Tätern des Unrechts. Und die Versöhnung macht im vollen Umfang „sehend“.

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Quellen:

Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885,  S. 555-557

Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan. Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage, Gütersloh 2007, S. 185

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„Jud‘ und Christ und Muselmann“

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Apr. 232009
 

Lächelt nicht! – Wer weiß?
Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn,
In dem sich Jud‘ und Christ und Muselmann
Vereinigen; – so einen süßen Wahn!

So heißt es im ersten Aufzug bei G.E. Lessing. Auch heute spricht man immer wieder von den „drei abrahamitischen Religionen“, die mehr oder minder miteinander verwandt seien und sich eben deswegen häufig so erbittert bekämpften. Adam, Abraham, Isaak, Gabriel, Zacharias – der Namen sind viele, die die drei Religionen gemeinsam haben. Der Koran etwa mutet über weite Strecken wie ein Blog an, in dem ein eifriger Nacherzähler in einer Art beständigem Abschreiben, Überschreiben, Umschreiben ein kontinuierliches Textband aus den Vorgängerreligionen Judentum und Christentum erzeugt. Lest ihn doch im Wechsel mit der Tora der Juden und dem Neuen Testament der Christen!

Mit Spannung besuchte ich Nathan Messias von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel am vergangenen Samstag im Ballhaus Naunynstraße. Hier taucht man hinein in eine hitzige, von Erlösungshoffnungen erregte Stadt – das heutige Jerusalem. Psychiater erzählen mir, dass der Wahn, selber der Messias zu sein, am häufigsten überhaupt auftrete. Nicht nur in Jerusalem, sondern weltweit.

In seiner Umarbeitung spinnt Zaimoglu den Grundansatz Lessings fort: Die drei Religionen als im Grunde strukturähnliche, austauschbare Ausprägungen desselben Grundgedankens. Gleichermaßen gegen die Schandpriester aller Religionen wendet sich der selbsternannte Messias. Es wird in dem neuen Text geflucht, verflucht und geschimpft als wäre man im Prinzenbad. Insofern sehr lebensecht!

Die Reden des Nathan Messias erinnern stark an die Erweckungspredigten der Al-Qaida-Führer, soweit sie mir aus Transkriptionen bekannt geworden sind.  Beklemmend.

Meine Sympathie galt dem säkularen Bürgermeister der Stadt Jersualem, der sich redlich bemüht, den Laden so weit zusammenzuhalten, dass er nicht in die Luft fliegt. Und seiner Tochter Rebekka, deren Liebe zu einem Muslim leider scheitert.

Den großen Bogen eines Lessing, das weit ausholende Entfalten eines Gedankens vermag die Umarbeitung allerdings nicht zu halten. Der Spannungsbogen wird vielfach gebrochen. Lessing im Zeitalter des Bloggens!

Und die Religionen erscheinen überwiegend als Geistesstörungen, als Zwangsphänomene, bei denen die eine gefährlicher als die andere ist. Der befriedende Charakter der drei abramitischen Religionen wird nicht gesehen. Und erneut wird die Lessingsche Fabelei von den austauschbaren Ringen aufgetischt. Dem steht – so meine ich – entgegen: Das Judentum war zuerst da. Christentum und Islam kommen danach. Sie stehen unter Begründungszwang, weshalb sie sich für vollkommener als das Judentum halten, nicht umgekehrt. Wir hatten am vergangenen Ostertag an der Johanneischen Thomasgeschichte das Moment der Entscheidung hervorgehoben. Der Grundgedanke des Bundes, des Glaubens besagt ja, dass niemand sich unterwerfen muss, dass jeder Gläubige zu jedem Zeitpunkt die Freiheit der Wahl hat.  Diese Tatsache, dass nämlich sowohl im Judentum wie im Christentum die Entscheidung zum Bund ganz zentral ist, wird bei Lessing wie bei Zaimoglu einfach unterschlagen.

Insgesamt aber: nachdenklich stimmend, sehenswert!

Projekt Gutenberg-DE – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Kultur

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Apr. 182009
 

18042009007.jpg Heißes Wasser über die Köpfe der Gegner – so kennzeichnet der Prophet in Sure 22 die Grundhaltung des Streits.

Von Streit und unversöhnlichen Gegensätzen war die Podiumsdiskussion zwischen Necla Kelek und Tariq Ramadan auf dem heutigen taz-Kongress 2009 „30 Jahre taz“  gekennzeichnet.

Tariq Ramadan malte mit kräftigem Strich seine  Vorstellung eines aufgeklärten, fragenden, weltoffenen Islam. Überall in Europa bewegten sich die Muslime zu neuen Ufern hin. Ein neues Schriftverständnis breche sich Bahn, der Koran werde als etwas gesehen, was kontextualisiert werden müsse.

Ich fand, Tariq Ramadan zeichnete eine freundliche Vision, wie sich ein aufgeklärter Islam in Europa entwickeln könnte. Aber ich glaube: Vorerst sind davon keine echten Anzeichen zu erkennen, wie wir hier in Berlin eingestehen müssen. Ramadan glaubt an die Gestaltungskraft von Sozialpolitik. Allerdings kann er nicht erklären, weshalb die deutschen Familien Reißaus vor den türkischen und arabischen Schulkindern nehmen, wenn doch die Türken und Araber sich so bereitwillig als aufgeklärte Europäer sehen, wie er wähnt. Er glaubt an den Wandel.

Necla Kelek ging von der Beharrungskraft des im Grunde zutiefst konservativen Islam aus. Sie nahm den Ist-Zustand auf, und der sei nun einmal hier in Deutschland durch eine sich abschottende türkische und arabische Gemeinde gekennzeichnet. Besonders die Migrantenverbände seien letztlich von muslimischen Ländern aus gesteuert und finanziert. Die deutsche Gesellschaft werde durch einen kämpferischen, missionarischen Islam zielgerichtet unterwandert, bereits jetzt stünden den Muslimen genauso viele Moscheeräume zur Verfügung wie es Kirchen gebe. Im Islam sei individuelle Freiheit nicht möglich. Dies zeige sich daran, dass die Eltern es nie zuließen, wenn sich ein Kind vom Islam lossagen wolle.

Kelek und Ramadan bezichtigten einander wechselseitig der bewussten Entstellung, der bewussten Propaganda. Hier vermisste ich eine Grundhaltung des gegenseitigen Wohlwollens, wie sie doch angeblich für den Islam kennzeichnend sein soll.  Ein echtes Gespräch war unter diesen entgegengesetzten Vorzeichen nicht möglich, und die Moderatoren sahen ihre Aufgabe nicht darin, die beiden auf mögliche Gemeinsamkeiten hinzuführen. Ganz abgesehen davon, dass natürlich die Deutschen im Saal erkennbar kaum Erfahrungen mit Muslimen hatten und haben – wie sollten sie auch? Die Muslime leben in Deutschland weitgehend in ihrer eigenen, von außen nicht durchschaubaren Welt.

Die Fragen des Publikums waren ebenfalls emotional aufgewühlt: Eine deutsche Muslima beschuldigte beispielsweise Kelek, mit groben Falschaussagen ein verzerrtes Bild des Islam zu zeichnen. Ich selbst versuchte, die Wogen zu glätten, indem ich fragte: „Ich erlebe sich immer stärker abschottende Familien. Die muslimische Kindermehrheit und die wenigen deutschen Kinder driften immer mehr auseinander. Wie kann man das ändern?“Ramadan antwortete: „Da ist die Sozialpolitik gefragt.“ Nachher plauderte ich noch mit ihm. Ich bedankte mich für die Antwort, fügte aber offen hinzu: „Es wäre schön, wenn die Schüler sich mischen würden. Aber ich habe den Glauben an die Sozialpolitik nicht mehr. Wir brauchen einen neuen Geist.“

Es war eine Veranstaltung, in der die Luft flirrte und die Köpfe heiß liefen. Meine wichtigste Beobachtung: Die Deutschen haben eigentlich keine Ahnung von dem, was Islam bedeutet, und deshalb sind wir kaum imstande, den Wahrheitsgehalt von Keleks und Ramadans Äußerungen zu überprüfen. Wir sind auf das angewiesen, was einige wenige Muslime sagen und was wir beobachten. Wir tappen im Dunkeln. Schaut auf das Bild: Dort seht ihr eine große weiße unbeschriebene Leinwand. Das ist unser Bild vom Islam.

 Posted by at 23:30
Apr. 172009
 

07042009.jpg Wer hat’s zuerst gesagt? Mohammed oder Moses? Die überwältigende Mehrheit der Moslems würde heute zweifellos dem Gelehrten Ali ibn Ismail al-Ashari (874-955) folgen, wonach Gottes Wort seit jeher bestand und besteht: nicht geschaffen, sondern offenbart. In seiner Gänze offenbart in arabischer Sprache erstmals und letztmals durch Gabriel dem Propheten Muhammad. In Teilen bereits vorher angedeutet den früheren Erwählten wie etwa Moses oder Jesus.

Unser Eindruck, das der Koran im wesentlichen eine Umformung und Fortführung der beiden vorhergehenden Offenbarungsreligionen Judentum und Christentum ist, widerspricht diesem Selbstverständnis nicht: Für den asharitischen Islam sprach Gott in Andeutungen bereits vor Mohammed. Diese Andeutungen, diesen Vorschein der vollen Wahrheit bezieht Mohammed auf sich selbst. Er sieht sich als den Vollender. Selbst in dieser Denkbewegung übernimmt Mohammed eine entscheidende Grundfigur christlichen Denkens. Denn auch der Jesus des Johannesevangeliums behauptet von sich, dass alle bisherige Offenbarung auf ihn zulaufe, und zwar von jeher. „Ihr befragt die Schriften [gemeint ist: die Tora], da euch dünket, in ihnen ewiges Leben zu haben; auch und gerade diese Schriften [die Tora] sind es, die über mich Zeugnis ablegen.“ (Johannes 5,39. Eigene Übersetzung dieses Bloggers). In der Selbsterhöhung zum alles entscheidenden Dreh- und Angelpunkt der Offenbarung gleichen sich der johanneische Jesus und der asharitische Mohamed wie ein jüngerer Bruder dem älteren.

Übrigens verschafft mir dieses Blog selbst oft Erlebnisse, wonach ich mich fragen muss: Wer hat’s zuerst gesagt? So erhob ich, betrübt durch die harten Anklagen unserer Migrantenverbände, am 03.03.2009 meine Stimme und rief aus:

Oh ihr meine lieben Türken, fragt nicht immer: “Was kann der deutsche Staat noch alles für uns arme benachteiligte Migrantinnen und Migranten tun, damit wir endlich in Deutschland glücklich werden?”

Fragt doch mal: “Was können wir für uns tun, damit wir endlich – nach drei oder vier Generationen – in diesem Land ankommen und glücklich werden?”

Und heute entdecke ich, dass Necla Kelek eine ganz ähnliche Frage formuliert hat – und zwar wohl vor mir:

„Was tut jeder einzelne Migrant für sich und die Familien für sich und für die Gesellschaft überhaupt, um hier anzukommen?“

Ihr könnt das Video ansehen:

YouTube – Politik direkt | Necla Kelek – Engagierte Kämpferin gegen Islamismus

Habe ich also bei ihr abgekupfert? Der Streit darüber wäre müßig. Nein, wir sind durch konkrete Erfahrungen – sie als Deutsche und Türkin, ich als Russenbräutigam und polyglotter Deutscher, dessen Sohn in eine Klasse mit fast ausschließlich türkisch-deutschen und arabisch-deutschen Kindern geht  – zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. Schlussfolgerungen, die wir beide als Frage an die Türken gerichtet haben.

Morgen kommt ja Necla Kelek zum tazkongress 2009 – sie wird ab 14.00 Uhr mit Tariq Ramadan, dem berühmten Verfechter eines aufgeklärten, europäischen Islam, diskutieren. Ich erwarte mir ein Fest des Denkens und Streitens! So nach taz-art eben. Ich werde hingehen und in diesem Blog live vom taz-Kongress berichten. Meine Hoffnung ist, dass sich diesmal auch endlich die Berliner Moslems beteiligen und zu Wort melden – anders als bei unserem allerersten Beitrag, der überhaupt den Anstoß zu diesem Blog gab. Wenn morgen sich außer Ramadan und Kelek wieder kein Berliner Moslem, kein Berliner Türke an der Diskussion beteiligt, dann werde ich zweifeln, ob solche Diskussionen etwas bewirken, oder nicht doch im luftleeren Diskurs-Raum tänzeln und tazzeln. So recht nach taz-Art eben.

Meine Leitfrage beim Zuhören wird morgen sein: Wird sich durch all das Tazzen und Tanzen die Lage der Klassenkameraden meines Sohnes – Zakaria, Israa, Beyza-Gül, Oguzhan, Fahad, Rojhat, Baris, Furkan – auch nur um einen Deut ändern? Wird es ihnen helfen, in diesem ihrem Deutschland glücklich zu werden? Diesen Kindern fühle ich mich verpflichtet. Und wenn morgen niemand für diese Kinder ein Wort einlegt, dann werde ich das tun.

Unser Bild zeigt den Volkspark Hasenheide in Berlin-Neukölln.. Dort gibt es jederzeit Dinge zu kaufen, die man beim Krämer nebenan nicht bekommt.

 Posted by at 09:51
Apr. 172009
 

Der Prophet Muhammad war zutiefst eingetaucht in die Welt der jüdisch-christlichen Überlieferung. Über weite Strecken ist der Koran eine Auseinandersetzung mit den Juden und den Christen, deren Überlieferung Muhammad so genau kannte. Achmed A. W. Khammas hatte uns am 08.11.2007 in diesem Blog die Augen für diese Kontinuität zwischen Christentum und Islam geöffnet, indem er fragte: „War Mohammed Christ?“

Immer wieder entdecke ich beim Studium des Korans Aussagen, Sätze, Bilder, die mir bekannt vorkommen. Woher kannte Mohammed diese Bilder? Was war sein Hintergrund? Gestern zitierten wir Sure 22, Vers 11. „Wenn ihn eine Versuchung trifft, kehrt er seinen Blick ab.“ Heute lese ich einen ähnlichen Satz in der jüdischen Torah. Gott spricht zu Kain. Gott weiß nicht alles, aber er kann das Gesicht des Kain lesen – da gärt etwas in Kains Gesicht. Kain wendet den Blick ab, senkt ihn. Es ist das Gesicht dessen, der mit sich nicht im reinen ist. Gott spricht zu Kain, 1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers: „Ist es nicht so: Wenn es dir gut geht, trägst den Blick hoch, und wenn du nicht gut handelst, dann lauert Fehltritt und nach dir ist sein Verlangen.“

Kaum ein anderer Satz hat mich in den letzten Tagen mehr beschäftigt als eben dieser. Ich halte diesen Dialog zwischen Gott und Kain für einen der schönsten überhaupt. Warum? Er zeigt etwas Grundlegendes: Kain, unser aller Vorfahr, ist weder völlig gut noch völlig böse. Er ist jederzeit hineingestellt in diese Entscheidung. Der Gott, der ihm begegnet, ist weder allmächtig noch allwissend. Es ist ein sprechender, ein suchender Gott. Wie der Gott des Korans auch, so lässt der Gott der jüdischen Bibel den Menschen in diese Freiheit hineingestellt. Der Mensch ist weder absolut gut noch absolut böse.

In genau diesem Sinne erklärte Yehuda Bacon, dessen Familie von den Nazis in Auschwitz umgebracht worden war, im Frankfurter Auschwitz-Prozess: „Niemand ist absolut böse, jeder hat einen Funken Menschlichkeit in sich. Jeder Mensch muss vorsichtig sein, denn jeder kann in seinem Leben in die Hölle abrutschen. Der Abgrund ist eine Gefahr für uns alle.“ Ich las dies in einem sehr profunden Artikel über die „Banalität des Bösen“ von Sebastian Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 11./12./13.04.2009.

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Apr. 152009
 

13042009.jpg Erneut zitieren wir heute aus dem Koran. Heute aus Sure 22, Vers 11. An diesen Vers musste ich gestern nacht denken. Ich fuhr auf dem Rad die Stresemannstraße nachhause. Es war ein herrlicher lauer Sommerabend, ein letztes Spätlicht hielt sich noch in den Straßen. Plötzlich zuckte ich zusammen – mein Lenker schlug aus, ich zitterte. Dann erst merkte ich: Aus einem knapp an mir vorbeifahrenden Auto hatte mich ein Mann angebrüllt: HU! Sehr laut, völlig unvorbereitet, so plötzlich, dass ich erst erschrak und zusammenzuckte, fast stürzte, und dann erst bemerkte: aus dem offenen Fenster eines vorbeifahrenden Kleinwagens heraus lehnte ein junger Mann, lachte über mein Erschrecken.

Ich fing mich, stürzte nicht. Dann erwachte in mir stechend, heiß und unbeugsam der Wunsch nach Vergeltung. „Na, dich knöpf ich mir vor!“ Mein Wunsch nach Vergeltung verlieh mir Kraft, an der nächsten Ampel, vor der SPD-Parteizentrale hatte ich das Auto eingeholt.  Ich klingelte laut, rief zornig: „Hey, ihr da! Was sollte das da sein!“ Der Beifahrer kurbelte das Seitenfenster herunter: „Bitte, wie können wir Ihnen helfen?“ „Was hast du mich eben angebrüllt, ich wäre fast umgefallen!“, rief ich.

„Das war ich nicht!“, sagte der junge Mann und wandte sein Gesicht in die andere Richtung. „Aber ich erkenne dich, ich erkenne euer Auto wieder“, erwiderte ich. „Warum habt ihr das gemacht? Ich möchte wissen, was in euch vorgeht!“ „Wir waren das nicht, Sie müssen sich täuschen!“, erhielt ich als Antwort.

Und schon begannen in mir die Zweifel aufzusteigen. Hatte ich mich getäuscht? Vielleicht waren sie es doch nicht? Ich fasste einen Plan: „So, dann fahren Sie mal rechts ran – Papiere bitte, Fahrzeugschein und Führerschein!“ Und die List wirkte.

„Natürlich, wir waren es“, sagte jetzt der Fahrer. Er schaltete die Warnblinkanlage an und stieg aus: „Hey, mein Kumpel hat Stoff genommen, der ist high, der weiß nicht, was er sagt. Klar, er war es. Ich entschuldige mich für meinen Freund. Ich lebe schon seit 28 Jahren hier in Berlin, ich bin Deutschtürke. Ich bin mit einer Deutschen verheiratet. Ich will keinen Ärger mit der Polizei.“

Der Typ war mir sympathisch. Mein Zorn war schon verraucht. Ich verzieh ihm, wir verabschiedeten uns – als Freunde, wir gaben uns die Hand, und ich bin sicher, wir würden uns bei einem Wiedersehen gut verstehen. Dass er sich im Namen seines Freundes, der gerade auf auf Rauschgift war, entschuldigte, hat mich beeindruckt. Allerdings wird der Brüller, der mich fast zum Stürzen gebracht hätte, dadurch in seinem Handeln eher bestärkt werden. Denn er weiß: Es findet sich immer einer, der die Haftung übernimmt. Man kommt immer davon.

Was sage ich im Nachhinein dazu?

Ich habe immer wieder mit jungen Männern gesprochen, die was ausgefressen haben, mit den Steineschmeißern, mit Rauschgiftsüchtigen, mit den Jungs, die etwa ins Prinzenbad über den Zaun einsteigen. Was mir immer wieder auffällt: Sie wenden das Gesicht ab, sobald man sie anspricht, wie es im Koran so schön heißt. Wenn man sie fragt: „Warum machst du das? Mach das nicht!“, dann kommen immer Antworten wie: „Ich war das nicht“, oder: „Wir müssen das machen, wir haben kein Geld“. Jede persönliche Verantwortung wird abgeleugnet, es wird irgendeine Lüge aufgetischt, der Blick wandert in andere Richtungen. Sie verweigern letztlich die Antwort. Als Einzelpersonen kriegt man die Jungs so kaum zu fassen. Sie verweigern jede persönliche Verantwortlichkeit, verstecken sich im Wir. Sie werden nie sagen: „Ja, das habe ich gemacht.“

Ich halte diese Grundhaltung für verheerend. So werden diese jungen Leute nie lernen, zu sich zu stehen. Ein gesundes Selbstbewusstsein kann so nicht entstehen.

Was hören diese jungen Männer in der Schule, in den Familien? Etwa, dass sie arme Migrantenkinder sind, denen die böse, hartherzige Mehrheitsgesellschaft keine Chancen einräumt?

Sind sie arm? Nein, solange man mit einem Auto ziellos durch die Gegend kurvt, harmlose Radfahrer erschreckt und Rauschgift konsumiert, ist man nicht arm. Sind sie Migranten? Nein, sie sind hier in Berlin geboren und aufgewachsen, es sind unsere Kinder, es ist unsere nächste Generation. Sie sprechen einwandfreies Kreuzberger Türkdeutsch als Erstsprache.

Ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft böse? Nein, denn diese Kinder aus türkischen und arabischen Familien sind bereits die Mehrheit in unseren Kreuzberger Regelschulen. Diese Jugendlichen sind nicht böse. Sie sind nur vollkommen verwöhnt und verhätschelt, orientierungslos, alleingelassen. Die deutschen Familien wenden ebenfalls das Gesicht ab, ziehen weg.

Die jungen Türken und Araber der dritten und vierten Generation  sind das Gegenstück zu einer anderen Gruppe deutscher Jugendlicher, die derzeit wieder verstärkt Autos anzünden, Läden einschmeißen, Steine schmeißen, Polizisten angreifen, Menschen zu vertreiben suchen. Die deutschen sogenannten autonomen Jugendlichen einerseits und die türkisch-arabischen sogenannten muslimischen Jugendlichen andererseits halten sich streng voneinander getrennt, sie haben nichts miteinander zu tun. Sie leben die Spaltung, auf die die deutsche Gesellschaft zuschreitet, bereits vor. Aber sie verbindet doch eine gemeinsame Grunderfahrung: „Mach, was du willst, hier in Berlin kannst du dir alles erlauben – aber lass dich nicht erwischen.

Und wenn sie dich erwischen, leugne alles ab.“

Über diese Haltung sagt der Koran in Sure 22, Vers 11:

Und unter den Menschen gibt es manch einen, der Gott nur beiläufig dient. Wenn ihn etwas Gutes trifft, fühlt er sich wohl dabei. Und wenn ihn eine Versuchung trifft, macht er kehrt auf seinem Gesicht. Er verliert das Diesseits und das Jenseits. Das ist der offenkundige Verlust.

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Pro oder contra Reli? Wo bleiben eigentlich … die Muslime?

 Islam  Kommentare deaktiviert für Pro oder contra Reli? Wo bleiben eigentlich … die Muslime?
Apr. 062009
 

060420091.jpg 16012009.jpg Die „Amtliche Information zum Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion“ liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Gleich daneben liegt mein Exemplar des Korans, in dem ich regelmäßig lese, heute etwa die Sure 22.

In der Klasse meines Sohnes gibt es zwei Schüler christlichen Bekenntnisses, alle anderen stammen aus „moslemischen Ländern“, und ich gehe mit großer Gewissheit davon aus, dass sie Moslems sind. Zumal ja nach muslimischer Auffassung alle Menschen als Moslems geboren werden – es aber aus Sicht des Islam nur zum Teil auch wahrhaben wollen.

Ich studiere die Broschüre genau. Meinen Eindruck von der Broschüre formuliere ich in Anlehnung an Sure 22, 19: Das sind zwei Streitparteien, die miteinander über den rechten Weg zu einem guten Miteinander streiten. Beide Seiten können teils gute, teils unlogisch-windschiefe, teils verstiegen-abenteuerliche Argumente für ihre Sache ins Feld führen. Freiheit, Miteinander, Solidarität, gemeinsame Werte – beide Seiten berufen sich auf diese Begriffe. Dass aber Pro Reli behauptet, mit dem staatlichen Religionsunterricht fundamentale Freiheitsrechte zu verwirklichen – „Freiheit statt Scheuklappen“ – halte ich für eher abwegig! Denn keiner wird behaupten, dass die USA ein Hort der religiösen oder politischen Unfreiheit seien, nur weil dort jeglicher Religionsunterricht an staatlichen Schulen verboten ist.

Wie gespannt war ich zu erfahren, wie Pro Reli e.V. die Vertreter der Religion der Mehrheit in meiner Schule, nämlich die Moslems, einbeziehen würde! Am Umgang mit der muslimischen Schülermehrheit entscheidet sich für mich als Vater Sinn und Unsinn dieser Initiative. Denn die katholische und die evangelische Kirche, die jüdische Gemeinde, ja selbst der französische Staatspräsident werden bereits als Unterstützer von Pro Reli  in Anspruch genommen.

Wie enttäuscht bin ich, feststellen zu müssen, dass keine einzige muslimische Stimme in der Broschüre zu Wort kommt! Kein Moslem meldet sich, weder bei den Befürwortern noch bei den Gegnern des Gesetzentwurfes. Das heißt, die entscheidende Herausforderung  für unsere Stadtgesellschaft, nämlich die Einbindung der muslimischen Kindermehrheit in vielen Schulen, wird nicht angenommen. Ich weiß also nicht einmal im Ansatz, was die Schülermehrheit in der Klasse meines Sohnes unter staatlicher Aufsicht zu hören bekommen soll.

Verzeihung, mit Verlaub: Das ist mir alles zu kurz gesprungen.

Und was die gepriesene Freiheit zum Religionsunterricht angeht: Die jüdische Tora, die christliche Bibel, der Koran enthalten zahlreiche Aufrufe, in denen die Unterwerfung des Einzelnen unter ein verkündetes, göttliches Gesetz verlangt wird. Auch hierzu schweigen die Initiatoren sich aus. Wie soll man denn mit den Traditionen der Unfreiheit in den großen Religionen umgehen? Ich höre die Antwort: Schweigen!

Wie sehen uns die anderen? Schon beim Volksbegehren über den Flughafen Tempelhof hatten wir – unter dem Datum 26.04.2008 – in diesem Blog eine überregionale Presseschau angestellt und kamen zu dem Schluss: Die auswärtige Presse macht sich über uns Berliner lustig, nimmt uns einfach nicht ernst. Sobald über Berliner Landespolitik geschrieben wird, geraten die Auswärtigen in einen ironischen Tonfall, ob nun FAZ, Süddeutsche, ZEIT, Economist – so als wäre die Berliner Landespolitik nur ein leicht komischer Schaukampf um Dinge, die eigentlich nicht weltbewegend sind, bei denen man aber immerhin die wirklich drängenden Probleme der Stadt so herrlich vergessen kann.

Der britische Economist widmet der Auseinandersetzung um Pro Reli am 28. März 2009 auf S. 34 immerhin fast eine ganze Seite. Erneut verfällt er in einen leicht amüsierten Tonfall, man hört das Kopfschütteln über so viel Erbitterung in einem Kulturkampf der etwas anderen Art heraus:

The battle lines are not sharp. Stephan Frielinghaus, a Protestant pastor, supports ethics classes as a “space where different traditions can learn to live together”. Troubled by what he sees as Pro-Reli’s “demagogic campaign”, he has joined a pro-ethics movement. Berlin’s ruling coalition of Social Democrats and the Left Party is anti-Reli, but some Social Democrats are pro, including the foreign minister, Frank-Walter Steinmeier.

What everyone shares is an obsession with Muslims, who account for over half the students in parts of the city. The ethics course is partly meant to snuff out incipient violent radicalism. But it leaves many children learning the Koran from teachers who have little stake in German society. Better, says Pro-Reli, to bring it into school, where German-speaking teachers can impart Islam under the state’s watchful eye.

In der heutigen Süddeutschen Zeitung meldet sich auf S. 38 Hartmut von Hentig zu Wort.  Er fordert, die Schulen sollten sowohl Ethik/Philosophie als auch Wissen über Religion als wesentlichen Bestandteil der Unterweisung vermitteln. Unter dem Titel „Eine Wahlfreiheit, die in die Irre führt“ fordert er: „Religionsunterricht und Philosophie und deren Teildisziplin Ethik können nicht eines für das andere eintreten. Es muss sie beide geben, weshalb für Ethik und Religion verschiedene Unterrichtszeiten vorgesehen sein müssen.“  Abschließend bezeichnet er den „seltsam eifrigen Streit über den Religionsunterricht“ als „ziemlich unnötig“.

Was ist meine Meinung? Ich glaube zutiefst, dass die Religionen ein kulturelles Phänomen allerersten Ranges sind. Nimmt man Judentum und Christentum aus dem hinweg, was Europa ausmacht, so ist Europa nicht mehr Europa. Hat man die Texte der Bibel nicht verstanden, so hat man auch nicht verstanden, wie wir Europäer denken, fühlen und handeln.  So ist etwa eine Partei wie Die Linke, so ist die Glaubensgemeinschaft des Marxismus nicht denkbar ohne einen Rückgriff auf die biblischen Gebote der Solidarität mit den Schwachen und der Gleichheit. Die Partei Die Grünen/Bündnis 90 wiederum, mit ihrem durch und durch moralisch-sittlich geprägten Politikverständnis, wird erst begreifbar, wenn man die biblische Erzählung von der Welt als dem Menschen anvertraute Schöpfung kennt, wenn man den Bündnisgedanken ernst nimmt.

Umgekehrt scheint die CDU zu ihrem C im Parteinamen kein echtes Verhältnis mehr zu haben. Sie scheint das „C“ durch das „B“ ersetzt zu haben. „B“ wie Bürgerlich. Begrenzt. Wo sind die leidenschaftlichen Bemühungen um die christlichen Tugenden der Demut, der Bescheidenheit, der Armut im Geiste, der Nächstenliebe? Die christliche Bibel ist doch ein Buch, das von der ersten zur letzten Seite mit Migrationserfahrungen gespickt ist – warum entdeckt die CDU nicht diesen riesigen Schatz? Warum lässt sie ihn so achtlos links liegen? „Ehre und achte den Fremden, denn du bist selbst einer gewesen!“ So steht es schon bei Moses. Ich bin fest überzeugt: Das Christentum ist die Religion der Migranten schlechthin – beginnend von Jesus Christus, der ein jüdischer Wanderer war.

Solidarität mit den Schwachen, Gleichheit aller Bürger, Schutz der Umwelt – das alles sind Grundprinzipien der Politik, die erst durch die orientalischen Offenbarungsreligionen in die europäische Geschichte gelangt sind. Der griechisch-römischen Antike sind sie – so meine ich – vor Ankunft des Judentums und des Christentums fremd.

Darüber hinaus meine ich: Hat man den Koran nicht achtsam gelesen, wird man auch keine sinnvolle Politik in Afghanistan oder Pakistan machen können.

Mein Fazit: Es wäre wunderbar, wenn durch die Initiative Pro Reli ein echtes Gespräch über Religionen und Politik, vor allem über den deutschen Islam, über das Gemeinsame und Trennende, über Freiheit und Unfreiheit in Gang käme! Ich vermisse dieses ernsthafte Gespräch schmerzhaft bei der Auseinandersetzung um den Religionsunterricht.

Schließen wir doch unsere kleine Betrachtung mit Sure 22, Vers 19 ab – und nehmen wir diese Sure als Aufruf zum wechselseitigen Verstehen. Denn niemand – weder die Befürworter noch die Gegner der Gesetzesinitiative –  will der anderen Partei Gewänder aus Feuer anlegen, niemand schüttet gern heißes Wasser über seinen Nächsten aus. Wie stehen die Muslime Berlins dazu? Fragen über Fragen!

Das sind zwei Streitparteien, die miteinander über ihren Herrn streiten. Für diejenigen, die ungläubig sind, sind Gewänder aus Feuer zugeschnitten; über ihre Köpfe wird heißes Wasser gegossen.

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März 312009
 

„Das von der „Aktion Mensch“ geförderte Talent-Projekt richtet sich an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, die neugierig sind und Fragen haben, die ihnen ihre Eltern nicht oder nur begrenzt beantworten können. Zwischen einem halben Jahr und einem Jahr sollen sich die Paten und die kleinen Talente treffen und in einem Online-Tagebuch ihre Erfahrungen dokumentieren.“

Gute, sehr gute  Sache das – diese Patenschaften!  Man könnte fragen: Wären nicht Freundschaften ausreichend? Muss das Ganze so regelhaft, sozusagen öffentlich organisiert werden? Meine Antwort: ja. Von selber ergeben sich die unterstützenden, regelmäßigen Kontakte nicht. Was war das doch immer für eine Aktion, wenn uns mal ein moslemisches Kind besuchte – vieles musste bedacht werden, insbesondere beim Essen. „Wir sind ja Moslems, das wissen Sie hoffentlich.“ Aus lauter Angst aß das uns besuchende Kind aus der Kita überhaupt nichts.

Das Bild im Tagesspiegel heute auf S. 16 zeigt eine Szene, wie ich sie selbst als Kind hunderte Mal erleben durfte: Junge Erwachsene, Studentinnen und Studenten meist, spielten mit uns; sie waren unsere Miterzieher – in Gruppen, Vereinen, und auch bei uns zuhause. Meine Eltern hatten ein geschicktes Händchen darin, andere in die Erziehungsarbeit für uns vier ungebärdige Rangen „einzuspannen“. Folge: Wir waren selten einander ganz allein überlassen, es gab immer Erwachsene, die etwas mit uns unternahmen.

Heute klappt das offenbar nicht mehr von selbst, man muss es in die Wege leiten. Und dafür finde ich dieses Neuköllner-Talente-Projekt vorbildhaft. Toll! Gibt es sowas auch bei uns? Wir leben hier in Kreuzberg doch auch in einem ach so finsteren Problembezirk! Muss mich mal drum kümmern …

Die Paten von Neukölln
„Jedes Kind hat ein Talent im Sinne von Gaben, Wünschen und Interessen – auch die Kinder aus Neukölln“, davon ist Efe überzeugt. Wie beispielsweise die siebenjährige Meltem, die so gerne tanzen und Klavier spielen lernen will und deren Mutter sich den Unterricht nicht leisten kann. Oder der hochbegabte Sahi, der Schwierigkeiten hat, Anschluss zu finden. „Ich sehe hier Kinder, die permanent die Erfahrung machen, nicht dazuzugehören, ob das jetzt ökonomisch oder kulturell bedingt ist“, sagt die 33-Jährige. Sie habe selbst erfahren, wie sehr ein anderes soziales Umfeld die eigene Entwicklung beeinflussen kann.

Die Deutschtürkin ist in Kreuzberg aufgewachsen und hat ein Gymnasium in Tempelhof besucht. Das von der „Aktion Mensch“ geförderte Talent-Projekt richtet sich an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, die neugierig sind und Fragen haben, die ihnen ihre Eltern nicht oder nur begrenzt beantworten können. Zwischen einem halben Jahr und einem Jahr sollen sich die Paten und die kleinen Talente treffen und in einem Online-Tagebuch ihre Erfahrungen dokumentieren. Die Bürgerstiftung steht den Paten unterstützend zur Seite, und einmal im Monat gibt es ein Patentreffen für den gemeinsamen Austausch. Um die Studenten bei ihren Unternehmungen finanziell zu entlasten, gibt es 20 Euro im Monat.

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