März 312009
 

„Das von der „Aktion Mensch“ geförderte Talent-Projekt richtet sich an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, die neugierig sind und Fragen haben, die ihnen ihre Eltern nicht oder nur begrenzt beantworten können. Zwischen einem halben Jahr und einem Jahr sollen sich die Paten und die kleinen Talente treffen und in einem Online-Tagebuch ihre Erfahrungen dokumentieren.“

Gute, sehr gute  Sache das – diese Patenschaften!  Man könnte fragen: Wären nicht Freundschaften ausreichend? Muss das Ganze so regelhaft, sozusagen öffentlich organisiert werden? Meine Antwort: ja. Von selber ergeben sich die unterstützenden, regelmäßigen Kontakte nicht. Was war das doch immer für eine Aktion, wenn uns mal ein moslemisches Kind besuchte – vieles musste bedacht werden, insbesondere beim Essen. „Wir sind ja Moslems, das wissen Sie hoffentlich.“ Aus lauter Angst aß das uns besuchende Kind aus der Kita überhaupt nichts.

Das Bild im Tagesspiegel heute auf S. 16 zeigt eine Szene, wie ich sie selbst als Kind hunderte Mal erleben durfte: Junge Erwachsene, Studentinnen und Studenten meist, spielten mit uns; sie waren unsere Miterzieher – in Gruppen, Vereinen, und auch bei uns zuhause. Meine Eltern hatten ein geschicktes Händchen darin, andere in die Erziehungsarbeit für uns vier ungebärdige Rangen „einzuspannen“. Folge: Wir waren selten einander ganz allein überlassen, es gab immer Erwachsene, die etwas mit uns unternahmen.

Heute klappt das offenbar nicht mehr von selbst, man muss es in die Wege leiten. Und dafür finde ich dieses Neuköllner-Talente-Projekt vorbildhaft. Toll! Gibt es sowas auch bei uns? Wir leben hier in Kreuzberg doch auch in einem ach so finsteren Problembezirk! Muss mich mal drum kümmern …

Die Paten von Neukölln
„Jedes Kind hat ein Talent im Sinne von Gaben, Wünschen und Interessen – auch die Kinder aus Neukölln“, davon ist Efe überzeugt. Wie beispielsweise die siebenjährige Meltem, die so gerne tanzen und Klavier spielen lernen will und deren Mutter sich den Unterricht nicht leisten kann. Oder der hochbegabte Sahi, der Schwierigkeiten hat, Anschluss zu finden. „Ich sehe hier Kinder, die permanent die Erfahrung machen, nicht dazuzugehören, ob das jetzt ökonomisch oder kulturell bedingt ist“, sagt die 33-Jährige. Sie habe selbst erfahren, wie sehr ein anderes soziales Umfeld die eigene Entwicklung beeinflussen kann.

Die Deutschtürkin ist in Kreuzberg aufgewachsen und hat ein Gymnasium in Tempelhof besucht. Das von der „Aktion Mensch“ geförderte Talent-Projekt richtet sich an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, die neugierig sind und Fragen haben, die ihnen ihre Eltern nicht oder nur begrenzt beantworten können. Zwischen einem halben Jahr und einem Jahr sollen sich die Paten und die kleinen Talente treffen und in einem Online-Tagebuch ihre Erfahrungen dokumentieren. Die Bürgerstiftung steht den Paten unterstützend zur Seite, und einmal im Monat gibt es ein Patentreffen für den gemeinsamen Austausch. Um die Studenten bei ihren Unternehmungen finanziell zu entlasten, gibt es 20 Euro im Monat.

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Feb. 162009
 

Immer wieder konnten wir in diesem Blog von der religiösen Weihestimmung berichten, mit der die kommunistische Glaubensgemeinschaft ihre Gründerväter und Heiligen-Mütter umgibt. Ich habe dies selbst mehrfach erlebt, besonders eindrücklich beim Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau, wo ich die Sünde beging, eine Frage zu flüstern statt andachtsvoll zu schweigen. Ich spreche nicht von „quasi-religiös“, sondern von „religiös“ im Sinne einer echten Ersatzreligion. An ihrer Sprache, an ihren Bildern kann man die Religion erkennen! Wollt ihr Beispiele?

Vera Lengsfeld berichtet in ihrem Buch „Mein Weg zur Freiheit“, mit welchen Worten Heinz Kamnitzer, der Präsident des PEN-Zentrums der DDR, ihre Absicht verurteilte, bei einer Gedenkveranstaltung ein Spruchband mit einem Zitat Rosa Luxemburgs zu entrollen. Kamnitzer schrieb im Neuen Deutschland über die geplante Teilnahme der Friedensgruppen an der Luxemburg-Demo 1988:

„Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.“

Beachtlich ist hier: Kamnitzer setzt die kommunistische Glaubensgemeinschaft der DDR mit einer Kirche gleich, die ihre Würdenträger und kultisch verehrte Toten hat. Ferner: Wie in der katholischen Kirche, so gab es auch im Kommunismus der DDR eine Sünde in Gedanken. Denn verwerflich und strafbar war bereits die geplante Sünde der „versuchten Zusammenrottung“ – zur Ausführung kam es ja nicht, da die Obrigkeit bereits vor der Störung des Gedenkmarsches eingriff.

Zweites Beispiel: Den Titel ihres Buches über Rosa Luxemburg schmückt Frigga Haug, Gründungsmitglied der deutschen Partei DIE LINKE, mit dem Bild La crucifixion (Die Kreuzigung) von Pablo Picasso. Das Bild zeigt eine Golgatha-Szene, ein Kruzifix. Angesichts der Schrecken unseres Jahrhunderts wird Jesus erneut gekreuzigt in einer Umgebung, die stark an Guernica von Picasso erinnert.

Während Kamnitzer Rosa Luxemburg mit einem Kardinal oder Bischof gleichsetzte, wird  die ermordete Rosa Luxemburg durch Frigga Haug gleichsam in einen Rang mit dem ermordeten Jesus Christus gerückt.

Rosa Luxemburg selbst sah sich ebenfalls in der Nachfolge Jesu Christi. In ihren Schriften zieht sich eine Art unterirdischer Verweisungszusammenhang auf das jüdisch-christliche Erbe wie Zettel und Faden durch. An vielen Stellen verwendet sie Bilder der christlichen Mystik, des christlichen Ritus. Über die ihr bekannten Massenmorde Lenins schreibt sie beispielsweise:

„Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.“

Was für eine Sprache! Die Revolution wird als eine Art Taufe gesehen, eine Taufe, die allerdings nicht mit Wasser, sondern mit Blut erfolgt. Blut, das fließen muss, daran lässt Luxemburg keinen Zweifel. Blut zur Erlösung der Welt von den Sünden des Bösen. Und das Böse – das ist der imperialistische Kapitalismus.

In der moralischen Verdammung des imperialistischen Kapitalismus, in der Anprangerung seiner sittlichen Verderbtheit, des jämmerlichen Sündenfalls des deutschen Proletariats, nämlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie, scheut Luxemburg sich nicht vor einer Häufung stärkster Anklagen: „Schmach“, „Ruin“, „Gespinst von Lügen“, „ein teuflischer Witz“, „Sittenverfall“ … man könnte Seiten füllen mit den kraftvollen, geradezu mit alttestamentarischer Wucht geschleuderten Wehe-Rufen der Prophetin Rosa Luxemburg über die tiefe Not der sündigen Welt.

Sich selbst sah Luxemburg weder als Bischöfin noch als Kardinälin – sondern als leidende Gottesmagd, als eine Art politischer Christus – wobei der Gott hier nicht der Gott des Judentums, sondern die Weltgeschichte ist.

Sie nennt ihre Verfolgung ausdrücklich den „Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen“  – und fast in einer Vorwegnahme ihrer Hinrichtung schreibt sie, wie sich das vierfache „Kreuziget ihn“ gegen sie selbst richtet – als Forderung der Kapitalisten, dann der Kleinbürger, und dann – wir zitieren wörtlich aus Rosa Luxemburgs Werken:

dann der „Scheidemänner, die wie Judas Ischariot die Arbeiter an die Bourgeoisie verkauft haben und um die Silberlinge ihrer politischen Herrschaft zittern“; und schließlich:

„Kreuziget ihn! wiederholen noch wie ein Echo getäuschte, betrogene, missbrauchte Schichten der Arbeiterschaft und Soldaten, die nicht wissen, dass sie gegen ihr eigenes Fleisch und Blut wüten, wenn sie gegen den Spartakusbund wüten .“

Immer wieder wird hervorgehoben, dass Rosa Luxemburg Jüdin war – um so verblüffender ist es zu sehen, wie stark ihr gesamtes Denken und Fühlen von im engeren Sinne christlichen Motiven durchdrungen ist, bis hin zu einer ausdrücklichen Selbststilisierung als weiblicher Messias in der Nachfolge Jesu Christi.

Wer diese messianischen Antriebe bei Rosa Luxemburg und im Kommunismus nicht sieht, wird Luxemburg und den Kommunismus nicht begreifen. Wer die Bibel nicht kennt, wird auch Rosa Luxemburg oder Karl Marx nicht verstehen können.

Wir beschließen diese kleine abendliche Betrachtung mit einem Blick auf ein Andachtsbild, das ich gestern am Potsdamer Platz aufnahm:

15022009.jpg

Wir sehen Rosa Luxemburg auf einem Reststück der Berliner Mauer – es ist jene Stelle, die, wie die Legende will, am 9. November 1989 erstmals durchbrochen ward. Umgeben ist Rosa (lateinsch: die Rose, Symbol der Unschuld) von einem Herzen – dem Symbol der Liebe. Ein rotes Kreuz ist über das Gesicht gezogen – so entsteht die Gekreuzigte, der weibliche Messias.  Unten dann – das Friedenssymbol, welches eine Weiterentwicklung altchristlicher Grabsymbolik darstellt, wie man sie etwa in den Katakomben Roms findet: Der Kreis mit den drei Armen stellt das Wasser des ewigen Lebens dar, wie es das verlorene Paradies umfloss. Zugleich bilden die drei Flüsse eine Vorwegnahme der göttlichen Dreifaltigkeit.

Die namenlosen Schöpfer dieses hochverdichteten Mahnmals haben etwas geschaffen, wozu sich der öffentliche Wettbewerb für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal nicht die Freiheit nehmen konnte: Sie haben eine starke Aussage zu Leben und Botschaft Rosa Luxemburgs getroffen, indem sie sie in drei Jahrtausende europäischer Religionsgeschichte, in die neueste deutsche Geschichte buchstäblich einritzten.

Hingehen lohnt. Religiöses Schweigen ist nicht mehr vorgeschrieben. Wir sind frei.

Literaturnachweis:

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag, Hamburg 2007, hier: Umschlagbild

Auch zu folgender öffentlicher Veranstaltung lohnt sich das Hingehen:

Dienstag, 17. Februar 2009, 18.30 Uhr, Café Sybille, Karl-Marx-Allee 72, Berlin-Friedrichshain.  Start der Gesprächsreihe “Politik ohne Phrasen – Vera Lengsfeld lädt ein” mit dem Titel:  ”Taugt Rosa Luxemburg als Ikone der Demokratie?” Diskussion mit Halina Wawzyniak (Linke), Prof. Manfred Wilke, Manfred Scharrer

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Feb. 162009
 

15022009.jpg Unter dem Namen RosadeLuxe plante einer der 2005 ausgewählten Entwürfe zum Rosa-Luxemburg-Denkmal ein Modelabel zu entwickeln, das in Lizenz an Modefirmen verkauft werden sollte. Daraus wurde nichts, heute zieren stattdessen 60 Zitate Rosa Luxemburgs den Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte.Viele kennen somit weiterhin nur herausgerissene Zitate dieser wichtigen Galionsfigur der kommunistischen Bewegung. Der größere Zusammenhang wird von den Passanten leider buchstäblich mit Füßen getreten.

Das Buch von Frigga Haug „Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik“, erschienen 2007 im Argument Verlag, räumt mit zahlreichen Vorurteilen auf, die diese Frau heiligenscheinartig umwabern. Wer keine Zeit hat, die Werke und Briefe Luxemburgs zu lesen, sollte mindestens die umfangreiche Zitatsammlung in Haugs höchst verdienstvollem Bändchen studieren.

Rosa Luxemburg war zeit ihres Lebens überzeugte Marxistin. Dass die Menschheitsgeschichte notwendig auf den Kommunismus zulaufe, daran glaubte sie unerschütterlich. An keiner Stelle wich sie davon ab, dass sie die gewaltsame Umwälzung der kapitalistischen Ordnung und die darauf folgende Diktatur des Proletariats für notwendig und unausweichlich hielt. Die Liquidierung der Verfassungsgebenden Versammlung, ausgeführt am 19.01.1918 durch Lenin, begrüßte sie ausdrücklich ebenso wie den massiven Terror gegen das „Lumpenproletariat“, gegen „Abweichler“ und „bourgeoise Elemente“, die sich der Oktoberrevolution entgegensetzten.

Haug weist schlüssig nach, dass alle Versuche, die innere Einheit der revolutionären kommunistischen Parteien zu spalten oder Rosa Luxemburg gar zu unterstellen, sie wende sich gegen die Oktoberrevolution, ja sie habe sich innerlich vom Marxismus verabschiedet, wie dies etwa Hannah Arendt annimmt, zum Scheitern verurteilt sind (Haug, a.a.O. S. 164).

Warum sind aber viele so sehr von Luxemburg fasziniert? Luxemburg arbeitete wie Liebknecht, Lenin und Stalin auf die gewaltsame Errichtung einer Räterepublik hin, deren Entstehung selbstverständlich nicht „mit Rosenwasser getauft sein würde“, wie sie selbst in ihrer blumigen, mit religiösen Wendungen durchtränkten Bildersprache sagt. Wodurch unterscheidet sich Rosa Luxemburg von anderen kommunistischen Führern, die sie kannte, auf die sich bezog, die sie wiederum schätzten, wie etwa Lenin und Stalin?

Mit einem weiteren Bild gibt sie selbst Auskunft. Sie weist nämlich die Alternative „entweder Maschinengewehre oder Parlamentarismus“ als „Vereinfachung“ zurück (Haug, a.a.O. S. 142).  Für sie heißt es foglich:  Sowohl Maschinengewehr als auch Parlamentarismus. Zwar wird sie nicht müde, den deutschen Reichstag als „parlamentarischen Kretinismus“, als „Haus der tödlichsten Geistesöde“, als „verfallende Ruine“ zu bezeichnen, dennoch fordert sie zur Teilnahme an den Wahlen und zur aktiven Mitarbeit in den Parlamenten auf. Sie schreibt:

„Wir wollen innerhalb der Nationalversammlung ein siegreiches Zeichen aufpflanzen, gestützt auf die Aktion von außen. Wir wollen dieses Bollwerk von innen heraus sprengen“ (Haug, a.a.O. S. 60).

Was die russischen Kommunisten handstreichartig, gestützt allein auf Maschinengewehre, Erschießungskommandos, Tscheka  und Straflager bewirkten, das wollte sie durch Unterwanderung des bestehenden Systems erreichen.

Durch beharrliche Erziehung und Belehrung der Massen, nicht nur durch Terror und physische Vernichtung der Gegner, wollte sie den Weg zur Diktatur des Proletariats ebnen: Weltrevolution auf die etwas sanftere Art.

Innerhalb der kommunistischen Bewegung verlangte sie Meinungsfreiheit. Sie kritisierte den absoluten Vorrang, den die russischen Kommunisten gegenüber den KPs aller anderen Länder für sich beanspruchten. Deshalb sagte sie in ihrem Aufsatz über die russische Revolution: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenken.“ Damit ist gemeint:  Für die Revolution sind verschiedene Lösungsansätze denkbar und zulässig. Solange man die Diktatur des Proletariats anerkennt, darf es laut Luxemburg keine Denkverbote geben. Kein Marxist hat das Recht, einem anderen Marxisten die eigenständige Denkbewegung zu verbieten. So kritisierte sie scharf, dass Lenin alle anderen sozialistischen Parteien, etwa die Sozialrevolutionäre, liquidierte. Luxemburg verlangte nach der Beseitigung der bürgerlichen Ordnung eine ungehinderte Meinungsfreiheit für alle Revolutionäre, nicht nur für die Bolschewiki, sondern auch für die Sozialdemokraten, die ja damals noch marxistisch eingestellt waren.

Wie Karl Marx selbst sah sie voraus, dass bei der Errichtung der Diktatur Fehler und Irrtümer unterlaufen. Sie forderte: Wir müssen beständig korrigieren, nachbessern, lernen, die Revolution gelingt nicht über Nacht. Agitation, Belehrung der unreifen Massen, gemeinsam voneinander und miteinander lernen ist ebenso wichtig wie der bewaffnete Kampf.

Zeit lassen ist wichtig! Dass die Revolution in Russland so schnell und leicht gelang, sah sie nicht voraus. Für Deutschland rechnete sie mit längeren Zeiträumen – da das deutsche Proletariat schmachvoll versagt hatte, indem es die Kriegskredite bewilligt hatte.

Wie stünde Rosa Luxemburg zu Hartz IV, zu 1-Euro-Jobs und ähnlichen Entwürdigungen? Hierüber hat sie sich eindeutig geäußert. Sie fordert nämlich eine allgemeine Arbeitspflicht für alle. Arbeit, Arbeit, Arbeit! Sie schreibt in der Sozialisierung der Gesellschaft:

„Damit alle in der Gesellschaft den Wohlstand genießen können, müssen alle arbeiten. Nur wer irgendeine nützliche Arbeit für die Allgemeinheit verrichtet, sei es Handarbeit oder Kopfarbeit, darf beanspruchen, dass er auch Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse von der Gesellschaft bekommt. Ein müßiges Leben, wie es jetzt die reichen Ausbeuter führen, hört auf“ (Haug, a.a.O. S. 92).

Mit diesen und anderen Gedanken stand Luxemburg nicht allein: Ab Januar 1918 begann Lenin, ein weitgespanntes System an Arbeits- und Umerziehungslagern einzurichten, die teilweise die Politik der Massenhinrichtungen ersetzten. Es waren die Anfänge des GULAG.

Aber auch mit ihrer Lehre von der Unterwanderung der bestehenden Institutionen, mit ihrem nachdrücklichen Beharren auf Höherbildung und Umerziehung der unreifen Massen konnte sich Luxemburg letztlich doch durchsetzen. Nach 1945 gelangten viele europäische kommunistische Parteien nicht durch plötzliche Machtergreifung, sondern durch die Eliminierung konkurrierender Parteien aus Koalitionsregierungen heraus an die Macht. Wie Luxemburg vorgeschlagen hatte, leisteten sie die vollkommene Mimikry an ein parlamentarisches System, um dann ihr eigenes  System an die Stelle der von innen heraus gesprengten Ordnung zu rücken.

Rosa Luxemburg ist viel stärker in den Hauptstrom der kommunistischen Bewegung eingebunden, als dies manche Romantiker wahrhaben wollen.

Dies wäre auch die Kritik, die man an Haugs Buch anbringen könnte: Die Verfasserin unterschätzt die Wirkmacht Rosa Luxemburgs, sie deutet ihre Gedanken weithin so, als sei es reine Theorie der Revolution und nicht „revolutionäre Realpolitik“, wie Luxemburg ihren Ansatz selbst nannte.

Zu recht hat die Partei „Die Linke“ Rosa Luxemburg als Ikone geehrt, indem sie die ihr nahestehende Stiftung so benannte. Alle, die am Ziel eines Umsturzes der bestehenden Ordnung festhalten, werden aus den Schriften Rosa Luxemburgs reichlich Belehrung ziehen können. Man braucht nur Geduld, Zeit, Arbeit und Bildung der Massen.

Wer heute entspannt über den Rosa-Luxemburg-Platz mit seinem Denkzeichen schlendert, sollte aufmerksam die Sätze dieser herausragenden Revolutionärin lesen und in einen Zusammenhang einbetten. Ihre Zeit ist noch nicht abgelaufen. Für ein Franchising als RosadeLuxe – viel zu schade!

Zu diesem Thema findet statt:

Dienstag, 17. Februar 2009, 18.30 Uhr, Café Sybille, Karl-Marx-Allee 72, Friedrichshain.  Start der Gesprächsreihe “Politik ohne Phrasen – Vera Lengsfeld lädt ein” mit dem Titel:  ”Taugt Rosa Luxemburg als Ikone der Demokratie?” Diskussion mit Halina Wawzyniak (Linke), Prof. Manfred Wilke, Manfred Scharrer

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Aug. 172008
 

Der Urlaub im türkischen Kadikalesi nahe Bodrum brachte wunderbare Begegnungen, Entspannung, Spaß, Freude mit meinen russischen Schwiegereltern, aber leider auch den furchtbaren Schatten des Kaukasuskrieges, der sich über die letzte Woche legte. Wir kennen viele Georgier, die Georgier gelten in Russland als lustiges, lebensfrohes Völkchen, über das endlose Anekdoten kursieren. Und dann das! Längere Sitzungen am Internet waren unvermeidlich. Meine Türkischkenntnisse besserten sich rapide – jede Woche ein neues Wort! Unsterbliche Dialoge entspannen sich – auf russisch und türkisch gemischt, da ich als Russe galt und am „Russentisch“ saß, wie das Gevatter Thomas Mann genannt hätte. Einen dieser Dialoge will und darf ich euch nicht vorenthalten:

Türkischer Kellner Achmed: „Mozhna?“ (Das ist russisch, zu deutsch: „Darf ich den Teller abräumen, den Sie da eben so unordentlich leergegessen haben?“) Ich: „Evet!“ (Das ist türkisch, zu deutsch: „Ja, sehr freundlich von Ihnen und nehmen Sie doch bitte auch die Gabel mit.“) So leicht ist Türkisch!

Aber insgesamt waren die Türken sehr belustigt und erfreut, dass sich jemand mit ihrer Sprache Mühe gab. Ich glaube, das hatten sie noch nicht erlebt. Mein Sohn Wanja schwamm lange Strecken, baute Muskelmasse auf, und forderte alle möglichen Jungs zum Kräftemessen heraus. Sein Spitzname: Klitschko, Liebling der Türken. Als Klitschkos Vater hatte ich ebenfalls einen Stein im Brett. Im Hotel weilten ansonsten 50% türkische Gäste, 20% Russen und 30% Litauer und Letten. Was für eine Mischung – das ist das neue Europa!

Wir gaben auch zwei Zimmerkonzerte, Wanja und ich mit meiner Frau, denn wir Männer hatten unsere Geigen mitgenommen, sie ihre Stimme sowieso. Ich wage zu behaupten, dass ich der erste Mensch war, der Bachs g-moll-Solosonate in Kadikalesi spielte, und zwar zum Rufe des Muezzin, mein Sohn spielte „Hänschen klein“, wohl auch als Erstaufführung.

Kleinasien – das ist ja auch die Geburtsstätte Europas. Wir sind alle Kultur-Schuldner Asiens. Die herrliche europäische Leitkultur ist samt und sonders in Kleinasien entsprungen: Homer stammt von hier, Herodot sowieso, ionische Naturphilosophen Kleinasiens stellten die ersten Fragen nach dem Woher und Wozu. Erst später trat Athen in diese durch Asien gebahnten Denk- und Dichtwege.

Ein Ausflug führte uns nach Ephesus, das heutige Efes. Paulus, der eigentliche Schöpfer des Christentums, hatte sich hier auf den Marktplatz gestellt und den staunenden Bewohnern verkündet: „Ich bringe euch den unbekannten Gott!“ Sie glaubten ihm nicht. Aber – ich stellte mich unter den Tausenden von Touristen ebenfalls in die Überreste des antiken Bouleuterions, des Gerichts- und Versammlungstheaters, in dem Volksversammlungen, Gerichtsverhandlungen und künstlerische Darbietungen erfolgten. Was für ein Gefühl! 1200 Menschen passten hier hinein. Ich erprobe den Ruf, ein Satz fliegt mir zu – etwa von Göttin Diana? – ich spreche ihn laut aus in die sengende Hitze, und er klingt zurück von den steinernen Rängen, klar, vernehmlich, verstärkt. Er lautet:

„Wenn wir alle zusammenstehen, dann wird es gelingen!“ Das Foto zeigt mich in Ephesus, während ich eben diesen Satz ausspreche.

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Juni 132008
 

„Die Vaterstadt, wie find ich sie wieder …?“ fragte einst Bert Brecht bei seiner Rückkehr in seine zerbombte Heimatstadt Augsburg. War sie zerbombt, als ich vergangenen Samstag zurückkehrte? Nein, im Gegenteil! Verändert, gewandelt – ja, aber immer noch dieselbe aufgeräumte, maßvolle, überschaubare und im Grunde wohlgeordnete Welt! Die Wiederbegegnungen mit den Klassenkameraden offenbarten eine über all die Jahrzehnte hinweg eher noch vergrößerte Nähe – vermutlich ist uns allen klar, dass keine Zeit so prägenden Einfluss auf den Menschen ausübt wie die ersten zwanzig Lebensjahre. Das hält zusammen, auch wenn die Wege sich stark entfernen.

In der Predigt des Gottesdienstes hob Prior Pater Theodor hervor, wie fundamental das Christentum durch die Kultur der Erinnerung geprägt sei. Ich fügte in Gedanken hinzu: Das gilt auch für Judentum und Islam. „Ich bin mein Erinnern“, so Augustinus. In der Kirche durfte ich auf der Geige zwei Soli spielen: Das berühmte Air von Bach aus der Orchestersuite Nr. 3 D-Dur, und zusammen mit Irina Potapenko Vivaldis „Gloria patri“, Willi Hafner spielte die Orgel.

Bezeichnend der folgende Dialog mit dem neben mir stehenden Kameraden beim Gruppenfoto im Seminarhof: „Und wer bist du?“, fragte ich den neben mir Stehenden, der mir freundlich die Hand angeboten hatte. … Es war der Schuldirektor – also ein Großer, ein Mann, der sechs Jahre vor mir das Abitur gemacht hatte! Er erlaubte mir gleich, beim Du zu bleiben.

Dieses „Du“ ist bezeichnend für den Wandel: All die kirchlichen und weltlichen Autoritäten und Amtsträger von heute sind weit weniger distanziert, als ich sie damals erlebte. Sie sind zum Anfassen, man kann sie sozusagen duzen. Ich halte das für einen gesellschaftlichen Wandel, der nicht nur dadurch erklärbar ist, dass ich selber mittlerweile in die Altersgruppe der „Erwachsenen“ eingerückt bin.

Im St.-Gallus-Kirchlein, das wir unter kundiger Führung von Pater Theodor besichtigten, beeindruckte mich die Geschichte des Rochus von Montpellier: Er kümmerte sich um die Aussätzigen und Pestkranken, wurde angesteckt und durch Narben und Blattern entstellt. Bei der Rückkehr in seine Vaterstadt Montpellier, nach langen Wanderjahren, erkannte ihn niemand. Man warf ihn unter dem Vorwurf der Spionage ins Gefängnis. „Das ist ein Migrant ohne Personalausweis und ein Spion, den brauchen wir hier nicht!“, sagten die Bürger von Montpellier. Er schmachtete 5 Jahre in der Haft. Dann starb er.

Erst nach seinem Tode erkannten sie an einem bezeichnenden kreuzförmigen Muttermal: „Das ist einer von uns!“

rochus07062008.jpg

Unser Bild zeigt die Statue des Rochus von Montpellier in der Sankt-Gallus-Kirche in Augsburg.

„Das ist einer von uns!“, „Das gibt es bei uns auch!“ Unter dieses Motto stelle ich auch meine Tischrede im Ratskeller von Augsburg. In uralten Gewölben erhebe ich meine Stimme. Wie der mythische Antaios verspürte ich neue Kräfte beim Betreten der alten Erde! Wer hat hier, in diesem Prachtbau von Elias Holl, vor mir schon alles gegessen und geredet? Ich spreche über Persien in der Antike und den Iran heute, zitiere aus den „Persern“ des Aischylos und dem Buch Ester der Bibel. Kulturen bedrohen einander mit wechselseitigen Vorwürfen und Unterstellungen: „Ihr wollt uns alle vernichten!“ So damals wie heute. Aber die attische Tragödie des Aischylos versetzt sich in das Leid der ehemaligen Feinde hinein. Durch Erschütterung, Schmerz, Trauer bewirkt Aischylos eine befreiende Erfahrung: Wir können miteinander sprechen, uns ineinander hineinversetzen. Griechen und Perser – so unterschiedlich sie sind – erfahren einander als die „nächsten Fremden“. Gesang, Tanz, religiöse Erfahrungen wie etwa die Tragödie verbinden die Feinde von ehedem. Wir brauchen diese Haltung auch heute. Es lohnt sich, diese uralten Texte wieder und wieder zu lesen. Mein Griechischlehrer von damals sitzt unter den Zuhörenden, kommt nachher auf mich zu und pflichtet mir bei. Einen Heiterkeitserfolg erziele ich, als ich ein paar griechische Verse austeile und in Gruppenarbeit übersetzen lasse. Die Auflösung wird für das nächste Jahrgangstreffen angemahnt. So sei es, gute Sache das Ganze, danke an die Organisatoren, in zehn Jahren sehen wir uns wieder!

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Bittet, so wird euch gegeben

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Mai 302008
 

14-vorwort.jpg Merkwürdig! Am Morgen, nachdem ich das Buch „Warum tötest du, Zaid?“ gelesen habe, spreche ich in aller Herrgottsfrühe erst mit dem österreichischen Zeitungshändler, dann mit der deutschen Bäckerin, dann mit dem türkischen Gemüsehändler, die alle bei mir um die Ecke in meinem herrlichen Kreuzberg wohnen. Zu dem Türken sage ich: „Ja, so früh schlafen die meisten noch … wir aber sind schon wach!“ Er erwidert: „Ja, weißt du, in unserer Religion sagen wir: Wer früh aufsteht, dem schenkt Gott alles, was er will.“ Seltsam – ich hatte mit dem Mann nie über Religion gesprochen, sondern immer nur über Gesundheit und Krankheit, über das Wetter, über die Kinder und die Türkei, auch über einen Brand, der durch einen Kurzschluss verursacht worden war. Und jetzt plötzlich – ein Hinweis auf Gott! Ich erzähle beim anschließenden Frühstück einer Russin davon. Sie sagt: „Das gibt es bei uns auch. Wer früh aufsteht, dem gibt Gott, lautet ein russisches Sprichwort.“ Aha. Im Westen heißt es: The early bird catches the wormMorgenstund hat Gold im Mund. Heißt das, dass Türken und Russen „empfangender“, „gottergebener“ sind, und die Engländer mehr pushy, also handelnder, fordernder? So ein Vogel muss ja etwas tun für sein Glück …? Vielleicht ist da was dran …?

Jedenfalls versuchte ich mein Glück heute früh! Über die gut gemachte Website www.warumtoetestduzaid.de maile ich den Autor Jürgen Todenhöfer an und bitte um das Foto von der iranischen 33-Bogen-Brücke mit dem west-östlichen Sängerwettstreit. Dieses Blog berichtete über dieses Event am 23.05.2008. Und siehe da – 2 Stunden später landet es auf meinem Computer, mit netten Grüßen einer Mitarbeiterin. Ich kann es euch Leserinnen und Lesern im Lande (so ihr denn schon aufgestanden seid) nicht vorenthalten. Herzlichen Dank!

Foto veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Dr. Jürgen Todenhöfer

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Slawisches Volk stellt jetzt den Ministerpräsidenten in Sachsen

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Mai 292008
 

Stanislaw Tillich wurde gestern als Ministerpräsident Sachsens vereidigt. Ich sah die Bilder im ZDF heute-journal am Abend. Der Mann ist Sorbe, ist deutscher Staatsangehöriger und bekennt sich offen zur Zugehörigkeit zu dieser ethnischen Minderheit in Sachsen. Er spricht ganz normales Deutsch mit leichtem sächsischem Zungenschlag. Darüber hinaus ist er praktizierender Katholik, auch hierdurch gehört er im Land Sachsen einer kleinen Minderheit an. Ein doppelter Minderheitenvertreter erringt also das höchste Amt im Bundesland Sachsen! Gut!

Wer sind die Sorben? Die Sorben sind das letzte verbliebene autochthone slawische Volk im heutigen Deutschland. Noch bis ins 17. Jahrhundert hinein gab es darüber hinaus zahlreiche andere slawische Volksgruppen im Raum östlich von Elbe und Saale, also die „Elbslawen“, mithin war der gesamte Osten des früheren Deutschen Reiches in der Tat mehrsprachig. Aber die meisten Slawen haben sich dann vollständig – mehr oder minder gezwungen – assimiliert. Die Sorben zählen heute wohl nicht mehr als 70.000 Seelen, eine kleine Minderheit im heutigen Sachsen und in Brandenburg. Kann man Polnisch, versteht man eigentlich auch Sorbisch. „Mit Gottes Hilfe“ (so meine ich gehört zu haben) fügte Tillich auf Sorbisch dem zunächst auf Deutsch geleisteten Amtseid hinzu. Ich war beeindruckt, denn meines Wissens geschah dies zum ersten Mal, dass bei einer Vereidigung in Deutschland eine Minderheitensprache verwendet wurde.

Wie könnte man sich das für Berlin vorstellen? Das wäre so, als würde ein praktizierender Moslem, der einer hier seit Generationen siedelnden ethnischen Minderheit, z.B. den Türken oder Arabern angehört, an den auf Deutsch geleisteten Amtseid auf Arabisch die Wendung „so Gott will“ anfügen. Und wäre dann Regierender Bürgermeister. Werden wir das noch erleben? Alle demographischen Daten sprechen dafür. Ich meine also: Ja. Aber – es ist „in Gottes Hand“. Es wäre etwas Gutes. Wahrscheinlich würde dieser Türke oder Araber deutscher Staatsangehörigkeit dann ein leicht berlinerisch gefärbtes Deutsch sprechen.

Wie selbstverständlich zeigte sich Tillich gestern dann nicht „auf hohem Ross“, und auch nicht im standesüblichen dunkelgetönten Audi, sondern auf dem Fahrrad. Kein Zufall! Er präsentiert sich also von Anfang an als Ministerpräsident zum Anfassen, der auf Bürgernähe setzt. Bóh z vami, knježe Tillich!

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Nachrichten aus einer befestigten Siedlung

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Dez. 302007
 

Wir melden uns aus Hochzoll-Nord, einem gutbürgerlichen Wohnviertel Augsburgs. Hier besuchen wir meinen Vater und Angehörige. Soeben kehren wir von einem Spaziergang zurück. Da ich hier aufgewachsen bin, kann ich die Veränderungen über die Jahrzehnte hin gut feststellen. Wir waren 2 Stunden auf den Beinen und sind nur fünf Menschen begegnet. Von Kindern keine Spur mehr! Stattdessen nimmt die Größe und Wuchtigkeit der vor den Türen geparkten Automobile von Jahr zu Jahr zu: ich zähle mehrere Mercedes der S-Klasse, zahlreiche SUVs (also massige Geländewagen), zahlreiche Schilder: „Ausfahrt freihalten – auch gegenüber“. Ein anderes Schild: „Vorsicht – Hund beißt manchmal.“ Aha! Es gibt auch hier einen Anflug von Humor. Wo sind die Menschen zu den Autos, wo sind die Leute zu den beißenden Hunden? Wo sind die Kinder? Ab und zu huscht eine Gestalt vorbei, packt etwas ins Auto. Ich grüße die wenigen verbleibenden Menschen freundlich und ernte aus Blicken zunächst Erstaunen darüber, dass: da grüßt jemand!

Wanja bekommt einen Schreianfall, kaum dass wir die Kirche Heiliggeist erreicht haben. Er hat Hunger, möchte sofort nachhause! Eine ältere Frau, bei der mein Vater sich für seinen schreienden Enkel entschuldigen zu müssen glaubt, schimpft verständnisvoll: „Ja, bei uns im Haus gibt es auch SO ETWAS. DAS führt sich auch so auf. Zu unserer Zeit hat’s ja SO ETWAS nicht gegeben.“ Ich schweige. Die Hausbesitzer in Hochzoll-Nord staffieren ihre Häuser zunehmend mit festungsartigen Trutz- und Schutz-Elementen aus: hier ein Türmchen, da ein neuer, höherer Zaun, dort eine krönende Zinne – ein unglaubliches stilistisches Durcheinander mit lauter Anleihen an die Zeit, als die Kleinadligen sich noch mit Wimpeln, Kutschen, Karossen und Zugbrücken hervortaten! Das ganze Geld scheint heute in PS-starke Autos, Häuser und Warnschilder zu fließen.

An der Wand der Heiliggeist-Kirche hat jemand insgesamt vier gleichlautende Graffiti aufgesprüht: Das hebräische Tetragramm, also die Selbstbezeichnung Gottes aus dem Tanach. Das rabbinische Judentum vermeidet etwa seit dem 1. Jahrhundert, diese vier hebräischen Buchstaben auszusprechen und verwendet im Kult stattdessen Bezeichnungen wie Adonaj („mein Herr“) oder Ha-schem („der Name“).- Mein erstes Empfinden: Großartig – es gibt also noch Menschen mit Sinn für Unordnung. Diese Geste, die Botschaft dieser Graffiti bleibt aber für mich schwer zu deuten. Was mag wohl in dem Menschen vorgegangen sein, der in hebräischer Quadratschrift den hebräischen Namen G’TT auf die Wand sprühte? Dachte er etwa: „Gott der Juden und Christen und Muslime, erbarme dich dieses ganzen Viertels!“? Oder wollte er die Christen daran erinnern, dass sie nur ein Abkömmling, ein Reis vom Stamm des alten Israel sind? Ferner: Wird der Hausherr die Anordnung zur Löschung des „Namens“ geben? Er ist da ganz schön in Tsores geraten! (Tsores ist übrigens ein altes jiddisches Wort für Drangsal, Zwickmühle).

Aufnahme: Graffito an der Außenwand der Heilig-Geist-Kirche, Augsburg-Hochzoll, aufgenommen am 30.12.2007

Wir gehen mit Vater spazieren, der seinen Rollator mit Mühe durch die engen Bürgersteige steuert. Im Vergleich zu Berlin weist dieses Viertel noch sehr viele bauliche Barrieren auf. Kein gutes Pflaster für Gehbehinderte! Kinder und Jugendliche gibt es hier allem Anschein nach nicht mehr. Ich komme zu dem Schluss: Das ist eine mögliche Zukunft der deutschen Gesellschaft mit ganz wenigen Kindern, vielen Straßen, Autos und Verbotsschildern. Wollen wir das?

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Nov. 082007
 

Bei einem Empfang der Tunesischen Botschaft lernte ich Achmed Khammas kennen. Bald geraten wir in ein Gespräch über den Islam, den Westen, die gemeinsamen Wurzeln der Ein-Gott-Religionen. Ich frohlocke! Endlich jemand, der im Orient wie im Westen gleichermaßen zuhause ist, Arabisch und Deutsch als Mutter- und Vatersprache spricht. Achmed ist ein großer Erzähler; wenn er von dem Propheten Mohammed spricht, ist es, „als spräche er von seinem Oheim“. Ähnlich äußerte sich ja Hegel über seinen Plato. Achmed sendet mir seinen Text „Mohammed der CHRIST“ und erlaubt mir, ihn hier in meinem Blog zu veröffentlichen. Ich empfehle ihn sehr zur Lektüre.

Lesen Sie nachstehend den Gastbeitrag von Achmed A. W. Khammas:

Bildung tut not!

Zumindest den CHRISTEN unter den Islam-Hassern sollte man einmal klar und deutlich sagen, gegen WEN sie da eigentlich agieren: Denn der Prophet Mohammed war schließlich selber Christ, bevor er im Alter von 40 Jahren die erste Offenbarung empfing.

Jawohl – auch die Muslime hören dies (noch) nicht so gerne – und viele streiten es sogar vehement ab. Es ist genau das Gleiche wie die früheren Christen, die einfach nicht wahr haben wollten, daß Jesus ein Jude war.

Wie dumm nur, daß Mohammeds Vater unwidersprochen Abdallah hieß – also ‚Diener Gottes’ – denn Allah heißt ja nichts anderes als Gott. Auf Arabisch. Und WER hat um 600 n.Chr. seinen ‚Herrn’ wohl ‚Gott’ genannt (und nicht ‚Jahwe’)? Nun…?!!!

Dann sein Schwiegervater Waraqa bin Naufal (o. Nawfal), ein in Mekka bekanntes, gut beleumdetes und geehrtes Mitglied der urchristlichen Gemeinde. Denn noch heute sind überkonfessionelle Ehen eher selten – und damals war dies nicht anders. Hätte also Waraqa einer Ehe seine Einwilligung gegeben, in welcher sich seine geliebte Tochter mit einem ‚Götzenanbeter’ vermählt?!

Denn auch diese gab es damals, neben den Christen und den Juden.

Wenn wir moderne Begriffe nehmen, dann reden wir von paganen Religionen, deren (viele!) Götter damals Hubal oder Allāt, Manāt und ‘Uzzā hießen – letztere drei sind die Göttinnen, die Mohammed aus politischen Erwägungen fast (!) als ‚Töchter Allahs’ in dem (neuen) Islam integrieren wollte… doch dann schnell merkte, daß es darum ging, GERADE DIES nicht zu tun, weil Gott nicht geboren ist, nicht gebiert und ihm auch niemand gleich kommt (Koran, 112. Sure). Also hielt er am Monotheismus fest und sündigte damit auch nicht.

Mohammed hatte später auch eine Christin zur Frau, Miriam, von der er seinen einzigen Sohn bekam, den schon früh verstorbenen Achmed. Ich bin aber sicher, daß auch seine anderen Frauen zumeist Christinnen waren – zumindest bevor er den Islam verbreitete und es dann auch Musliminnen gab, die er heiraten konnte. Viele davon waren die schon älteren Witwen seiner gefallenen Kampfgefährten, für die eine Ehe mit dem Propheten die wohl ehrenvollste ‚Sozialversicherung’ darstellte, die man sich damals vorstellen konnte. Dies nur zum Thema ‚Lustmolch’…

Ein weiterer Punkt ist sein ausgesprochen befremdliches Verhalten als Geschäftsmann in den Jahrzehnten VOR der Offenbarung.

Er arbeitete für seine spätere erste Ehefrau als Spediteur. Seine diplomatischen Fähigkeiten und sein strategisches Denken verhalfen ihm zu dem Spitznamen ‚der Verläßliche’ – denn niemals verlor er eine Karawane durch Überfälle. Er sorgte vor und nach und begleitete die Sommer- und die Winterkarawane von Mekka bis nach Damaskus und zurück. Aber halt! Er hat Damaskus doch nie betreten … und erklärte dies mit den Worten, das Paradies nur ein Mal betreten zu wollen – nämlich erst NACH seinem Tod. Was wohl den Gipfel an fadenscheiniger Ausrede und gleichzeitig unübertroffener Höflichkeit gegenüber den selbstbewußten Damaszenern darstellte – immerhin bilden sie die Bevölkerung der am längsten ununterbrochenen bewohnten Stadt auf diesem Planeten!

In Sichtweite der Stadt hielt er auf einem kleinen Hügel in al-Qadam an (= der Fuß, wo in einer Moschee der entsprechende Abdruck im Stein noch heute zu sehen ist), verabschiedete sich und verschwand… zu einem christlichen Eremiten, dem Mönch Buheira, der in einer Höhle über dem heute israelisch annektierten Tiberias-See lebte. Dort verbrachte er die Tage und Wochen, in denen die Karawane abgeladen, ‚aufgetankt’ und neu beladen wurde. Er verbrachte diese Zeit mit Meditation und spirituellem Austausch … und zwar mit seinem christlichen Kontaktoffizier vor Ort!

Denn Mohammed – und hier beginne ich zu spekulieren – wurde schon früh dazu ausgebildet, eine URCHRISTLICHE Revolution gegen die inzwischen von Macht korrumpierte Liaison zwischen dem Rabbinat, den Resten des christianisierten Rom und den Herrschern von Byzanz durchzuführen.

Damaskus war ein viel zu heißes Pflaster für ihn, welches er deshalb tunlichst vermied, damit seine Tarnung als Geschäftsmann nicht aufflog.

Und so geht es weiter… mit den Texten des Koran selbst, die sich zum Teil nachweislich auf aramäische Gebete zurückverfolgen lassen (der Sprache Jesu, die selbst heute in drei Dörfern nördlich von Damaskus, sowie ein paar anderen in der Südtürkei und – noch – im Irak lebendig ist) … mit der Beschreibung seines siegreichen Einzugs in Mekka, aus dem er zuvor hatte fliehen müssen (womit übrigens die islamische Zeitrechnung begann), und wo er nun die Kaaba betrat, nach Wasser rief und den Befehl dazu gab, alle Bilder von den Wänden abzuwaschen (!), wobei er mit emporgereckten Armen bis zuletzt EIN Bild beschütze, dann aber zurücktrat und sagte: „Nun auch dieses!! … welches Maria mit dem Jesuskind darstellte – womit bewiesen ist, daß die Kaaba ursprünglich eine KIRCHE war, wie es auch der lange Zeit verfemte Theologe, Staatswissenschaftler sowie promovierter Arabist und Islamwissenschaftler Günter Lüling nachgewiesen hatte) … und … und …

Gerade heute, gerade in der Zeit der asymmetrischen Kriege, gerade in der Zeit des Zündelns und der wie irrsinnig zunehmenden Waffenexporte, gerade in der Zeit der Manipulation und der Verdummung durch die Medien, der ‚false flag operations’, des Schürens von Haß und des Errichtens von Apartheidmauern … gerade HEUTE – HEUTE – HEUTE (!) müssen wir alles dafür geben, daß die Menschen – einer nach dem anderen – die Wahrheit erfahren, daß es nur EINEN Gott gibt, und daß sie alle seine Propheten sind – Adam und Noah und Moses und Abraham und Jesus und David und Hiob …. und auch Mohammed, Sohn des Abdallah, aus christlichem Elternhaus, und Erneuerer des EINEN Glaubens an die EINE Macht.

Möge die Macht also mit uns sein – und mit allem was kreucht und fleucht und wächst und liebt auf diesem Planeten … wie auch überall sonst auf allen Planeten und in allen Galaxien!

Salam – Friede!

Achmed A. W. Khammas

Berlin, September 2007

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Dawkins The God Delusion

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Okt. 112007
 

Richard Dawkins‘ The God delusion is a fascinating read. For those who haven’t read it yet: The 2007 Black Swan paperback edition contains a footnote with particular reference to Germany. You won’t find this footnote in the 3rd German edition of Der Gotteswahn, which came out this year.

The footnote, at the end of chapter 1, states that in January 2007, a German Muslim woman had applied for a fast-track divorce because her husband repeatedly and seriously beat her. Judge Christa Datz-Winter turned down the application, citing the Qur’an. The Koran, she wrote, sanctions such physical abuse. – Dawkins takes this as a particularly striking example of what he calls „unparalleled presumption of respect for religion“.

Moreover, there is a Preface to the paperback edition. In one great magisterial sweep, Dawkins replies to his many critics. If you don’t have time to read the whole book, read just this preface to the paperback edition! It contains in a nutshell everything you always wanted to tell the author because you thought you knew better. Well … almost everything. I will get back to the book once I have read it thoroughly.

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Elastischer Islam – weitere Nachlese zum Orientalistentag

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Okt. 032007
 

Im Tagesspiegel vom 2./3. Oktober bespricht auch Andrea Dernbach den Orientalistentag. Jetzt lese ich schon den dritten Bericht dazu, fast ist mir, als wäre ich dabeigewesen! Das gehört nun mal dazu, wir sprechen hier über Erzähltes, Gewertetes, Berichtetes, als wären es die Sachen selbst. Aber die „Sachen selbst“ gibt es ja nicht, die Auslegungen des Geschehenen sind es, über die wir uns hier austauschen. Womit wir beim eigentlichen Thema wären, der Mannigfaltigkeit möglicher Auslegungen von Texten, hier also des Korans. Auch Dernbach weist ausführlich auf Patricia Crones Festvortrag hin, hebt insbesondere Sure 2, 256 hervor. Nach vielfältigen Erwägungen lautet der Schluss: „Der Islam ist so elastisch wie alles Alte, das überlebt.“ Insgesamt zeichnet also die Verfasserin unter den drei betrachteten Zeitungsartikeln (SZ, FAZ, Tagespiegel – dieser Blog berichtete) das freundlichste Bild: „Nimmt man das Programm dieses Orientalistentags als Maßstab, ist man längst auf gutem Weg“.

Was das Politische angeht, so zitiert Dernbach den Teheraner Philosophen Mohammed Mojtahed Shabestari mit folgender Feststellung: „Die richtige Frage ist nicht: Sind Islam und Demokratie vereinbar oder nicht? Die Frage ist: Sind die Moslems heute bereit, diese Vereinbarkeit entstehen zu lassen?“

Ich meine, wenn wir uns hier in Kreuzberg umsehen, muss die Antwort ganz klar Ja lauten.

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„Das gibt es bei uns auch!“ Fatih Akin „Auf der anderen Seite“

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Okt. 032007
 

Die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober sahen wir uns im Yorck-Kino den Film „Auf der anderen Seite“ an. Neben uns ein biertrinkender Single Mitte dreißig, hinter uns kichernde Mädchen. Bequeme Sessel mit verschiebbarer Sitzfläche, Popcorngerüche. Wir fläzen uns hin. Beste „Voraus-Setzungen“ für einen guten Kinoabend. Wunderbare anrührende Geschichte: zwei Familien, ausgespannt zwischen Bremen und Istanbul. Vater-Sohn, Mutter-Tochter, unvollständige Bruchstücke von Familienromanen. Von Schmunzeln über Schluchzen, vom hellen Auflachen bis zum beklommenen Schweigen spielt dieser Regisseur auf der Klaviatur meiner Gefühle. Auch in den Nebenfiguren zeigt Akin stets lebende Gesichter, offene Blicke. Seine Kamera verleiht allen Menschen Würde. Mir fällt auf: Die türkischen Gefängniswärterinnen – übrigens gespielt von echten türkischen Gefängniswärterinnen – werden ohne Häme, mit derselben Einfühlung gezeigt wie die Hauptfiguren, also die rebellische Ayten, die verzweifelte Charlotte. Er zeigt die beiden Länder Deutschland und Türkei ohne Verzerrungen, ohne Anklage, aber doch mit dem untrüglichen Blick für das Wesentliche und auch das Komische.

Ich schlage, zuhause angekommen, die Gestalten des Ismael im Koran und in der hebräischen Bibel nach. Das islamische Bayram-Fest bildet ja den Hintergrund für die letzte große Erzählbewegung des Films, in welcher der Sohn zum verlorenen Vater, die Mutter zur verlorenen Tochter zurückfindet. Im Islam war es Ismael, den Abram opfern sollte, nicht Isaak, den Zweitgeborenen, wie es in der hebräischen und der christlichen Überlieferung steht. Doch Gott erbarmte sich Abrams und sandte ein Opfertier. Hierin folgen sowohl Islam wie Christentum der Leitkultur des alten Israel. Sowohl Christentum als auch Islam haben den gütigen, sich erbarmenden, liebenden Gott vom alten Judentum übernommen. Die Umkehr, die Wende steht also nicht nur dem Menschen, sondern auch Gott jederzeit offen! Deswegen bleiben jüdische Bibel, Koran und christliche Bibel eine gemeinsame Schatzkammer, zu denen drei Pforten bereit stehen. Akins Film öffnet diese Pforten weit! Bezeichnend der Satz, den Charlottes Mutter beim Betrachten der Bayram-Gläubigen sagt: „Das gibt es bei uns auch!“ All jenen, die von einer unüberwindlichen Kluft zwischen Morgenland und Abendland reden, sei Sure III, 78 entgegengehalten: „Wir glauben an das, was auf uns herabgekommen ist und was herabgekommen ist auf Abram, Ismael, Isaak, Jakob und die Stämme, und an das, was Moses gegeben wurde und Jesus und den Propheten von ihrem Herrn; wir treffen keinerlei Unterscheidung zwischen ihnen, und wir sind ihm ergeben.“

Am Tag der deutschen Einheit empfinde ich große, nachhaltige Freude über den Deutschtürken Fatih Akin. Er hat etwas geschaffen, was ich bisher in dieser Deutlichkeit vor allem von Goethes West-östlichem Divan kannte: eine Versenkung und Verklammerung von zwei Schwesterkulturen im Geist der Liebe zu den einzelnen Menschen, der Liebe zwischen den Menschen.

Fühlst du nicht an meinen Liedern,

dass ich eins und doppelt bin?

Und der Regisseur fühlt sich – eigenem Bekenntnis nach – in unserem Deutschland sehr wohl und tief verwurzelt. Großartig, so etwas macht unser Land schöner!

 Posted by at 20:48
Sep. 292007
 

Lese einen aufschlussreichen Bericht vom deutschen Orientalistentag in der Süddeutschen Zeitung vom 29.09.2007. Verfasser ist Stefan Weidner, dessen Übersetzungen des Lyrikers Adonis mir sehr beim Eintreten in die orientalische Welt geholfen haben. Die islamistische Bedrohung habe das ganze Fach mittlerweile wachgerüttelt, freilich auf Kosten der Künste und der Literatur. Weidner referiert den Festvortrag von Patricia Crone: „Der Islam, darf man Crone deuten, ist in einem Teufelskreis gefangen: Ohne Säkularisierung kein Bruch mit dem tradierten Religionsverständnis; ohne Bruch mit dem traditionellen Verständnis keine Vereinbarkeit des Islams mit der säkularen Gesellschaft. Hoffnungsträger sind deshalb die Muslime, die im säkularisierten Westen leben; sie allein können ungefährdet aus diesem Kreis herausspringen.“ Darüber hinaus berichtet Weidner von einem Theologen, der die kühne These aufstellt, der frühe Islam sei eine christliche Sekte gewesen. „Mohammed (der Gepriesene) sei kein Eigenname, sondern bezeichne Jesus Christus.[…] Koranische Aussagen über die Einheit Gottes im Vergleich mit dem Deuteronomium und dem Nicaenischen Glaubensbekenntnis entpuppten sich als bewusster Gegenentwurf zu den christlich jüdischen Vorbildern.“ Ein sehr lesenswerter Artikel!

Diese drei aus Vorderasien stammenden Religionen, also zuerst das Judentum, daraus das Christentum und zuletzt der Islam, der beide zu überbieten versucht, gehören weiterhin zu den maßgeblichen Leitkulturen für riesige Gebiete der Erde, darunter unser Europa, der Nahe und Mittlere Osten, Nord- und Südamerika, Australien, Teile Südostasiens.

Spricht man mit Muslimen oder steckt man die Nase in den Koran, dann treten die Ähnlichkeiten und Abhängigkeiten zwischen jüdischen, christlichen und islamischen Aussagen sehr deutlich hervor.

Ich werde weiterhin das Gespräch mit Muslimen in Kreuzberg pflegen. Wir sind hier im Vergleich zu den Orientalisten unvergleichlich privilegiert, weil wir tagtäglich zum Nulltarif das Eigene im Anderen entdecken können – und das alles obendrein in Sichtweite des Jüdischen Museums, in das in sechs Jahren 4 Millionen Besucher aus aller Welt geströmt sind. Kreuzberg ist ein großartiger Platz – ich bin dankbar, dass ich hier lebe!

 Posted by at 13:53