„Unauflöslicher Widerspruch“: nationales Rechtssystem und Unionsrecht. Ein Simultankrimi

 Europäische Union, Grundgesetz, Verfassungsrecht, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für „Unauflöslicher Widerspruch“: nationales Rechtssystem und Unionsrecht. Ein Simultankrimi
Nov 032015
 

Europa-Recht. 24., neubearbeitete Auflage 2011. Buch. Textausgabe mit Einführung von Prof. Dr. Dieter Classen.
Beck-Texte im dtv, München 2011. Stand: 1. Januar 2011, hier Seite XI-XXVI, bsd. S. XV

Spannender als jeder Krimi ist die parallele Lektüre von a) dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und b) den Grundtexten des Europa-Rechts. Atemberaubend. Schade, dass in den Massenmedien fast nie mit konkreten Verweisen (mit klarem Hinweis auf Rechtstext im Wortlaut und Artikel) darauf Bezug genommen wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass fast niemand weiß, auf welcher Grundlage eigentlich „Brüssel“ funktioniert. Und wer es weiß oder wissen sollte, der gibt dies nicht zu erkennen.

So öffnet man denen Tür und Tor, die immer auf Brüssel schimpfen, wenn die eigene nationale Regierung sich kaltlächelnd über die Bestimmungen der Lissabon-Verträge hinwegsetzt.

Das Grundgesetz gibt es kostenlos in der Bundeszentrale, die wichtigsten Grundtexte des Europarechtes kann man sich für den Preis einer Pizza im Buchladen kaufen. Es lohnt sich – und man hat viele spannende Stunden vor sich!

Tatbestand: Wieder und wieder verstoßen gerade in diesen Tagen über viele Wochen hinweg die Staaten der EU (auch Deutschland) gegen grundlegende Bestimmungen des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, insbesondere natürlich gegen die Art. 77-79 (Grenzschutzpolitik, Asylpolitik, Einwanderungspolitik). Zugleich greift aber auch das EU-Recht unabweislich und ohne echte Abwehrmöglichkeiten in die klassische Domäne der Verfassungsstaaten ein, also die a) Territorialität, b) die Souveränität und die c) Legitimität der Einzelstaaten. Ergebnis: Die Staatlichkeit als solche ist in Gefahr.

Besonders zu empfehlen: das Lesen einer Einführung eines bekannten Staatsrechtlers, wie etwa des Prof. Dr. Classen (hier nur als Beispiel genannt). Der gerade jetzt immer wieder schroff hervortretende Widerspruch zwischen dem einheitlichen Geltungsanspruch des Unionsrechtes und dem Vorrangsanspruch des verfassungsrechtlich gesetzten einheitlichen Rechtssystems der Nationalstaaten wird sehr schön herausgearbeitet (Seite XV).

Bei den Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungsfragen treten derzeit diese konträren Geltungsansprüche beständig miteinander in Konflikt. Auch die gesamte Wirtschafts- und Währungsunion ist geradezu durchherrscht von miteinander nicht vereinbaren Geltungsansprüchen. Auch ohne Jura studiert zu haben, kann man nachweisen, dass in der Euro-Rettungspolitik fortgesetzte Rechtsbeugung gegen den AEUV-Vertrag begangen wird.

An diesen Grundfesten des gesamten EU-Systems arbeitet sich die Politik vergeblich ab. Ich rate: Wir Bürger sollten uns tief hineinknien ins Grundsätzliche, wir Bürger sollten sowohl die Rechtsordnung der EU wie auch die Rechtsordnung der Mitgliedsstaaten sehr genau studieren. Dies geschieht leider außerhalb der Fachkreise überhaupt nicht. Schlimmer noch: Ich habe selbst einige junge deutsche „Volljuristen“ nach ihrem 2. Staatsexamen danach befragt – die Lissabonverträge, das Europarecht waren Neuland für sie! Es, das Europarecht, war kein Pflichtfach im Jurastudium. Irre! So mogelt sich die Demokratie um ihren Fortbestand herum.

Wichtig ist mir: Man muss mit den Beschimpfungen aufhören. Die unlösbaren Widersprüche sind systemimmanent. Die „EU-Fans“, die „Euro Euro über alles“ jubeln und ihr Heil ausschließlich in der zentral gesteuerten „immer engeren Union“ suchen und den Verfassungsstaat transformieren wollen, haben ehrenwerte Gründe dafür. Sie meinen es ja gut! Sie sind Demokraten. Das sollten und müssen die „Grundgesetzfans“, die eher dem westlichen Verfassungsstaat mit seiner herkömmlichen Gewaltentrennung den Vorzug geben, anerkennen. Aber diese „Grundgesetzfans“ sollten auch nicht als Europafeinde oder Eurohasser beschimpft werden. Beide meinen es gut! Mindestens das sollten die beiden Seiten einander zugestehen, und dann sachlich, gelassen und nüchtern miteinander reden.

Es geht um sehr viel.

 Posted by at 13:57
Okt 312015
 

Eine Riesendebatte hatte, wie mir Bürger der wunderschönen lippischen Stadt erzählten, das reizvolle Blomberg erschüttert: Sollte der Hindenburgplatz umbenannt werden? Hatte Reichspräsident Hindenburg nicht als Steigbügelhalter und Wegbereiter Hitlers gedient?

Nun, ganz so war es nicht. Hindenburg war zwar sicher kein Anhänger der parlamentarischen Demokratie; er versuchte aber auch jahrelang, den berüchtigten „österreichischen Gefreiten“, mit seinen paramilitärischen Horden, von der Regierung fernzuhalten. Hindenburg wollte eine Art autoritäre, zentralistische Staatsführung, eine echte Präsidialverfassung mit Tolerierung durch den Reichstag. Heinrich August Winkler sagt, Hindenburg und seine Umgebung strebten einen „stillen Verfassungswandel“ an. Und das scheint mir eine sehr treffende Formulierung!

Die Blomberger haben sich für die Formulierung entschieden, Hindenburg habe die NS-Machtübernahme „aktiv unterstützt“, und sie haben die Umbenennung nach ausführlicher Debatte durchgesetzt. Der frühere Hindenburgplatz heißt nun „Am Martinsturm“. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.

Sie, die Blomberger – oder irgendein Blomberger – sind aber noch ein paar Schritte weitergegangen, denn sie haben das Adjektiv „deutsch“ aus dem Denkmal zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 am ehemaligen Hindenburgplatz, dem jetzigen Platz „Am Martinsturm“ weggehämmert. Nur noch mit dem Fingern lässt sich das ehemalige Adjektiv „deutsch“ ertasten. Wo jetzt nichts mehr ist, stand einmal „deutsch“. Eine echte Gedächtnisauslöschung des Deutschen. Id est vere damnatio memoriae nationis germanicae! So machten es schon die Pharaonen und die Cäsaren der Antike! Was ihnen nicht mehr in den Kram passte, wurde vom neuen Herrscher aus den Stelen und Säulen weggehackt.

Und mit dem Weghacken des Deutschen aus der deutschen Geschichte, wie es hier durch die Denkmalshacker in Blomberg oder auch anderswo vorexerziert wird, hätte Hitler postum sein finales Ziel erreicht: die Vernichtung des deutschen Volkes. Denn Hitler war der Meinung: „If one day the German nation is no longer sufficiently strong or sufficiently ready for sacrifice to stake its blood for its existence, then let it perish and be annihilated…“ (Bemerkung vom 27.11.1941). Die antideutsche Ideologie der Jetztzeit („Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“) erweist sich einmal mehr als reinrassige Testamentsvollstreckerin Hitlers.

Belege:
H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. Bonn 2002, S. 489
Zweites Zitat (Hitler) hier in Übersetzung wiedergegeben nach: Martin Amis, The Zone of Interest, Verlag Jonathan Cape, London 2014, S. 307

Foto: das Kriegsdenkmal für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im lippischen Blomberg, Aufnahme vom 24.10.2015Damnatio 20151024_092415

 Posted by at 14:00

Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?

 Europäische Union, Grundgesetz, Parlament, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?
Okt 272015
 

Es gelten in Europa keine Gesetze mehr„, so klagte gestern im Fernsehen bei „Hart aber fair“ der amtierende Präsident des Bayerischen Landkreistages. Ferner: „Wir sind hier in einem völlig rechtlosen Zustand„, beschwerte sich vor wenigen Tagen in Günter Jauchs Sendung aus dem Schöneberger Gasometer ein praktizierender Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter. Ein Richter an einem Bundesgericht, mit dem ich am Rande einer privaten Feier in kleinem Kreis zu plaudern Gelegenheit hatte, vertraute mir wiederum vor geraumer Zeit bereits einmal an, dass die Bundesgerichte sich seit langem schon in einem Limbus der Rechtsungewissheit bewegten; das durch die EU gesetzte Recht sei über weite Strecken methodisch, sprachlich und vor allem begrifflich nicht kompatibel mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch seien die Obersten Bundesgerichte gehalten, die Rechtsakte der EU bei der Urteilsfindung „ständig zu berücksichtigen“. Im Grunde bewegten sich die Richter der Obersten Gerichtsbarkeit des Bundes (Art. 95 GG) im Kleinen wie im Großen ständig auf einem schmalen Grat der „Rechtsunsicherheit nach beiden Seiten hin“; man wisse als amtierender Bundesrichter schlechterdings nicht, welche der Rechtsordnungen – die der EU oder die der Bundesrepublik – Vorrang habe, so ungeheuerlich das auch erscheinen möge. Ein juristisches Niemandsland, auf das man als Bundesrichter/als Bundesrichterin in keiner Weise vorbereitet sei!

Drei zufällig eingefangene Stimmen von ganz unten und von ganz oben in der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dazu kommt noch als I-Tüpfelchen: Durch Weisung der Exekutive – also durch eine Art „Notverordnung“ – wurden in diesen Wochen die geltenden Gesetze über die Kontrolle der Staatsgrenzen Deutschlands außer Kraft gesetzt. Jeder einzelne Bundespolizist steht also in einer Art Konfliktzustand. Was soll er durchsetzen: das Gesetz oder den Willen der Bundesregierung?

Herrscht also derzeit tatsächlich „Anomie“, „Chaos“, „Rechtlosigkeit“ in der Bundesrepublik Deutschland? So weit würde ich nicht gehen.

Für den in den drei Stimmen beschriebenen Zustand schlage ich stattdessen den Begriff der „methodischen Rechtsungewissheit“ vor; in der Politikwissenschaft hat sich für eine derartige schleichende Aushöhlung der geltenden Verfassung, wie sie beispielhaft ab 1930 in der Weimarer Republik zu beobachten war, der Ausdruck „Präsidialkabinett“ eingebürgert; angesichts eines andauernden krisenhaften Zustandes wurde damals allmählich, sicherlich jedoch ab dem Kabinett Brüning I (30.03.1930), die Legislative, also der Reichstag, zunehmend entmachtet, die Exekutive regierte gestützt auf die überragende Stellung des direkt gewählten Reichspräsidenten; das Recht der Ernennung des Reichskanzlers, das Recht der Notverordnungen und die ständige Drohung mit dem Recht der Reichstagsauflösung – die alle dem Reichspräsidenten zustanden – ließen den Reichstag schleichend zu einem Akklamations- und Abnickorgan herabsinken.

Wollen wir so etwas noch einmal erleben? Nein! Ich meine deshalb, in der jetzigen Lage sollten folgende, bisher in dieser Klarheit meines Wissens nirgendwo geforderten Grundsätze gelten:

1) Bundesrecht bricht Europarecht. Das EU-Recht ist im wesentlichen nur zwischenstaatliches Vertragsrecht. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland ist stärker; es ist hoheitlich gesetztes, durch das Grundgesetz und den repräsentativ über Organe geäußerten Volkswillen gestütztes Recht. Das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland genießen somit methodisch Vorrang vor allfällig entgegengesetzten Bestimmungen des EU-Rechts. Im Zweifelsfall bricht deutsches Recht Europarecht, so wie im Zweifelsfall Bundesrecht Landesrecht bricht (GG Art. 31).

2) Die Gesetzgebung und die Rechtssprechung gehen im Zweifelsfall der vollziehenden Gewalt vor, ebenso wie auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes den Gesetzen vorgehen (Art. 25 GG).

3) Die Exekutive, also die jeweilige Regierung, führt im wesentlichen nur aus, was die Legislative, also das jeweilige Parlament vorschreibt. Die Exekutive hat nicht das Recht, vom geltenden Recht abzuweichen oder Gesetze ohne rechtssicheren Grund außer Kraft zu setzen.

4) Zur Bewältigung der gegenwärtig drohenden Staats- und Verfassungskrise sind vorrangig die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Nachrangig sind auch die vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben.

Bibliographischer Hinweis:
„Das System der Präsidialkabinette“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 965

 Posted by at 11:12
Okt 122015
 

Im Gränzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelstaat verschwinden,
Sich aufzugeben, ist Genuß!

So mag es einem wohl spielerisch in den Sinn kommen, nachdem man mit Hochgenuß die späten politisch-moralischen Gedichte Goethes durchgelesen hat.

Von „entgrenzter Demokratie“ schreibt sehr packend, sehr überzeugend der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall. Er erkennt, dass Phämomene wie „Europäisierung“ (gemeint ist jedoch nur der absolute Vorrang der EU-Rechtsakte vor den Rechtsakten der EU-Mitgliedsstaaten) und „Globalisierung“ den herkömmlichen westlichen Staatstypus zunehmend ins Abseits manövrierten und potenziell handlungsunfähig machten; in der Tat, so meine ich, Altertümlichkeiten wie etwa die Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender, ausführender und rechtssprechender Gewalt werden in modernen Zeiten zunehmend außer Kraft gesetzt; gefragt ist in unseren Zeiten der wachsenden Anomie, der Widersprüchlichkeit unvereinbarer Rechtsordnungen wie etwa derjenigen der EU einerseits und der Nationalstaaten andererseits heute rasches, kühnes Zupacken, Raffen und Schaffen, auch wenn dieses „Schaffen“ oft nur ein „Abschaffen“ oder auch ein „Sich-Aufgeben“ ist, in diesem Fall also ein Abschaffen des herkömmlichen Souveränitätsgedankens der Territorialstaaten.

Wir zitieren Stefan Marschall (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„In der Gesamtschau spricht vieles dafür, dass die Globalisierung der Gesellschaften und staatlicher Politik einen Beitrag zur Entparlamentarisierung, zur Schwächung des Bundestages im politischen System Deutschlands leistet und damit an die Substanz der parlamentarischen Demokratie geht.“

In scharfen Tönen, die nicht frei von Polemik sind, spricht der hochangesehene ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust am 9.10.2015 von der „Kanzlerin ohne Grenzen“; der europäische Politiker Guy Verhofstadt wiederum geißelte kürzlich im EU-Parlament die derzeitige europäische Anomie als reinstes Chaos, in dem es nicht eine, sondern „mindestens zehn Unionen“ gebe.

Nun, ich meine: Die zutreffend erkannte „Entgrenzung“ oder auch Regellosigkeit der hohen Politik macht uns einfachen Bürgern zunächst einmal Angst. Wir einfachen Bürger wissen derzeit oft nicht mehr, woran wir sind – was gilt, beispielsweise in der Euro-Staatschuldenkrise, in der wirtschaftlichen Dauerkrise der Eurozone und der Massenmigration in die verschiedenen europäischen Sozialsysteme? Was hat Vorrang? EU-Recht? Deutsches Recht? Das Recht des Stärkeren? EZB-Recht? Eine Art permanentes Notfallrecht? Oder brauchen wir gar in Europa endlich wieder einmal eine starke Frau, die vernünftigen Sinnes alles lenkt und leitet, „legibus absoluta“, also oberhalb der Gesetze stehend, wie etwa Kaiserin Maria Theresia oder Zarin Katharina II.? Oder ist alles letztlich sowieso eins, im Sinne eines Goethe’schen „Eins und Alles“? Fragen über Fragen!

Hier meine ich: Wenn man manche Zuspitzung und im Eifer des Gefechts unterlaufende Übertreibung abzieht, sollte und müsste man die Bemerkungen und Einwürfe eines Johann Wolfgang Goethe, eines Stefan Marschall, eines Stefan Aust und eines Guy Verhofstadt durchaus ernst nehmen. Sind letztlich doch alles besonnene, welterfahrene Menschen!

Belege:

Stefan Marschall: „Die entgrenzte Demokratie – Europäisierung und Globalisierung“, in: Stefan Marschall: Das politische System Deutschlands. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 234-259, hier bsd. S. 247, S. 255, S. 257

Rede Guy Verhofstadts im EU-Parlament vom 07.10.2015
https://www.youtube.com/watch?v=D_VbHfgPVlg (hier besonders 4:47)

Stefan Austs Artikel vom 09.10.2015:
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147423831/Angela-Merkel-Kanzlerin-ohne-Grenzen.html

Goethes Gedicht „Eins und Alles“ (mit einigen schweren Schreibfehlern!):
http://gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/243

Bild:
Lascia dir la gente
e va per la tua strada (Dante). Bild vom Havelland-Radweg, unterwegs zu dem Ribbeck von Ribbeck auf Havelland.
20151004_090713

 Posted by at 10:54

EU-Recht bricht nationales Recht, oder: von der Selbstentmächtigung der Parlamente

 Europäische Union, Parlament, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für EU-Recht bricht nationales Recht, oder: von der Selbstentmächtigung der Parlamente
Sep 232015
 

Rechtssicherheit ist eine der Grundlagen staatlichen Zusammenlebens. Auch oberhalb der staatlichen Ebene, etwa in der EU, wird Rechtssicherheit verlangt. Oft herrscht dagegen im Gegeneinander von EU und Nationalstaaten Anomie, also ein Zustand der Rechtsunsicherheit bzw. der Rechtsabwesenheit.  Bei der Migrations-, Einwanderungs-, Flüchtlings-, Abschiebungs- und Asylpolitik tritt dies derzeit überdeutlich zutage. Man weiß als Bürger sehr oft nicht, was als Recht gilt: Dublin III oder nationales Recht? Es ist a bisserl so wie mit der überflüssigerweise krummgeprügelten (oder überflüssiger Weise krumm geprügelten?) mehrfach reformierten deutschen Rechtschreibung.  Keiner weiß mehr bescheid (Bescheid?).

Und hier gilt es nun laut und vernehmlich zu sagen: EU-Recht bricht nationales Recht! Die EU-Staaten haben nicht das Recht, EU-Recht zu ignorieren. Den Verordnungen und Richtlinien der EU ist Folge zu leisten. Insbesondere ist die EU-Kommission als oberste gesetzgebende, gesetzgebungsausführende und gesetzgebungsausführungsüberwachende Behörde anzuerkennen. Es gibt kein Abwehrrecht der Staaten und noch weniger ein Abwehrrecht der verfassungsrechtlich das Volk vertretenden Parlamente gegen die EU, wie es der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog einmal zu Recht (zu recht?) hervorgehoben hat.

Vorgaben der EU wollen wir 1 zu 1 umsetzen!” So steht es im derzeit geltenden, feierlich unterzeichneten Koalitionsvertrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD (S. 15)!  Und der einfache Bürger fragt: Und nun? Warum geschieht dies nicht? Warum lässt der Bundestag seiner hoch und heilig erklärten Selbstentmächtigung und Selbstunterwerfung unter die Vorgaben der EU nicht die entsprechenden Taten folgen? Das grenzt an Anomie!

Aus diesem Grund leitet – wie wir soeben erfahren – die EU-Kommission völlig  zu Recht 40 Vertragsverletzungsverfahren wegen der Asylpolitik gegen 19 EU-Staaten ein, darunter Deutschland, Frankreich, Ungarn und Italien. Die 19 Länder sind ihrer vertraglichen Pflicht zur Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht nicht nachgekommen.

Endlich! Was Recht ist, muß recht bleiben. Wo Rechtsunsicherheit oder Rechtsabwesenheit herrscht, muß Rechtssicherheit einkehren.

 Posted by at 10:14

Was ist europäischer Transformismus? Eine Definition

 Trasformismo europeo, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Was ist europäischer Transformismus? Eine Definition
Sep 122015
 

Unter europäischem Transformismus verstehen wir das allmähliche Umformen vorhandener institutioneller Regelungen und geltender Vereinbarungen auf EU-Ebene durch die Beförderung, das Zulassen oder das  Erdulden von Entwicklungen, die mit den bestehenden Regelungen unvereinbar sind oder diese nach und nach zu sprengen drohen. Es droht dann stets Anomie, also ein regelloser Zustand, der freilich mehr oder minder über Nacht ohne Einhaltung demokratischer Fristen und häufig ohne Beschreitung rechtsstaatlicher Bahnen unter Verweis auf den enormen Zeitdruck und unabweisbare Handlungszwänge geheilt wird. Es entsteht dann etwas unvermutet Neues, eine Art kontrafaktische Verfassungsnorm. Nicht durch Revolution vollzieht sich das, sondern durch teils schleichenden, teil sprunghaften Wandel.

So führt die faktisch vollständige gegenwärtige Öffnung der EU-Außengrenzen zu einem Zustand, in dem sowohl die vorhandenen Schengen-Verträge als auch die EU-Verordnung (EG) 604/2013 vom 26.06.2013 („Dublin III“) gleichzeitig nicht mehr einzuhalten sind. Die Staaten der EU verlieren in diesen Tagen die Kontrolle über ihr Territorium, ohne dass doch der Staatenverbund, die Europäische Union, imstande wäre, andere, umsetzbare Regelungen zu vereinbaren oder durchzusetzen.

Ähnlich geschah dies bereits mehrfach bei den Euro-Rettungsaktionen, zuletzt vor wenigen Wochen beim Griechenland-III-Rettungspaket.

Der Prozess des europäischen Transformismus ist iterativ, lässt sich also – im Gegensatz zu Revolutionen – beliebig oft wiederholen. Nicht zufällig erscheinen derartige Transformationsprozesse unter Serienfertigungsbezeichnung: Dublin I, II, III, Griechenlandrettung I, II, III – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, ebenso wenig wie dem zweiten Peanoschen Axiom, wonach auf jede natürliche Zahl n stets die Zahl n+1 folgen muss.

Die vermutlich klassische, mindestens zeitenüberdauernde Formulierung dieses europäischen Transformismus verdanken wir übrigens Jean-Claude Juncker, dem heutigen Präsidenten der EU-Kommission. Er hat bereits 1999, also recht früh erkannt, nach welchen Mechanismen der Trasformismo europeo funktioniert, und wir EU-Bürger sollten ihm und auch dem SPIEGEL-Redakteur Dirk Koch dankbar dafür sein, dass es zu dieser prägnanten, geradezu genial zu nennenden Formulierung gekommen ist.

Der SPIEGEL 52/1999 vom 27. Dezember 1999 (S. 136) veröffentlichte in der Tat folgende Äußerung von Jean-Claude Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Zitat:
Dirk Koch: Die Brüsseler Republik. Der Spiegel, 27.12.1999
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15317086.html

 

 

 Posted by at 18:39

„Powers divided mutually destroy each other“ – Hobbes‘ Urteil über die Gewaltentrennung

 Erosion des Staates, Geld, Gouvernance économique, Leviathan, Philosophie, Rechtsordnung, Staatlichkeit, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für „Powers divided mutually destroy each other“ – Hobbes‘ Urteil über die Gewaltentrennung
Aug 162015
 

Wir sind für Machtverteilung.“  So Konrad Adenauer vor der Interparlamentarischen Union 1949 in Bern. Er legte damit ein klares Bekenntnis gegen die Machtballung, die zentralistische Machthäufung und Machtkonzentration ab, wie sie die zahlreichen zentralistischen Führerstaaten Europas, darunter Deutsches Reich (1933-1945), Königreich Italien (1921-1943) und Sowjetunion  (ab 1919) kennzeichnete.

Weitgehende Machtballung, Machtkonzentration und Einheitlichkeit in der Machtausübung seien hier als Merkmale des monistischen Politikverständnisses angesehen.

Als wesentliches Merkmal der Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland muss dagegen in der Tat eine weitgehende Machtverteilung, Machtstreuung und Gewaltenteilung gelten.

Von besonderem Interesse ist heute, dass die Währung des Staates (also die D-Mark) streng unabhängig von der Politik gehalten wurde. Die Bundesbank war bis zur Errichtung der EZB weisungsunabhängig; die Währung bzw. die sie steuernde Zentralbank  war in der alten Bundesrepublik Deutschland kein Teil des politischen Systems, wie sie es hingegen seit jeher in Frankreich, Italien oder den USA ist.

Als Beleg für die These, dass die Währung kein Teil und kein Gegenstand  der Politik war, mag gelten, dass es durchaus brauchbare Darstellungen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gibt, die der Währung bzw. der Zentralbank keinerlei Aufmerksamkeit widmen, so etwa das Buch „Das politische System Deutschlands“ von Stefan Marschall, erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015.

Allerdings wurde genau deswegen die DM nie in Frage gestellt; sie stand abseits des Parteienstreits; alle Parteien, alle Bürger wollten die DM nach wenigen Jahren des Zweifelns; nicht zuletzt deshalb war die DM und die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik bis 1996 so erfolgreich. Umgekehrt war und ist der Euro vor, während und nach seiner Einführung in dem meisten EU-Ländern umstritten gewesen, heute sogar mehr denn früher. Er ist in schroffem Gegensatz zur früheren DM durch und durch politisiert.

So ist denn der EZB der Eurozone mittlerweile eine ungeheuerliche Machtfülle zugewachsen; ihre geldpolitischen Maßnahmen können der Eurozone den Garaus machen oder auch neues Leben einhauchen! Diese überragende Machtfülle der EZB manifestiert sich im offensiv eingeforderten Glaubenskenntnis des EZB-Chefs Mario Draghi: „Believe me … believe me … it will be enough.“ Der geforderte Glaube richtet sich bezeichnenderweise nicht auf das politische System des Euro, sondern auf eine und nur eine Person – den redenden EZB-Direktor selbst. Das ist politischer Monismus in Reinstform!

Zurück zur Bundesrepublik! Vertikal haben wir die Machtverteilung und Machtstreuung im dreistufigen Aufbau der Gebietskörperschaften nach Gemeinden, Bundesländern und der Bundesrepublik, horizontal haben wir die Machtverteilung in der systematischen Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt, wobei im parlamentarischen System eine gewisse Überlappung zwischen Legislative und Exekutive unvermeidlich ist. Legislative und oder Exekutive sehen sich jedoch stets einer unabhängig agierenden „anderen Gewalt“ gegenüber, der Gerichtsbarkeit, die sehr oft mit größter Selbstverständlichkeit gegen die Regierung entscheidet.

Insofern kann man durchaus von einem Dualismus sprechen, der das gesamte Staatsdenken und die politische Praxis der Bundesrepublik Deutschland durchzieht. Nie kann EINER oder EINE allein ihren Willen durchsetzen, stets muss die mächtigste Figur im Spiel – also etwa der Bundeskanzler – gewärtig sein, irgendwo ausgebremst zu werden. Ein echtes „Durchregieren“ der Mehrheit kann es in der Bundesrepublik nicht geben.

Die Bundesrepublik Deutschland ist also geprägt durch einen vielfältigen Dualismus oder auch Pluralismus an Entscheidungsträgern und Machtinstanzen. Sie ist das glatte Gegenteil eines monistisch aufgebauten Staates, wie ihn beispielsweise Thomas Hobbes forderte.

Typisch für das eindeutig monistische EU-Recht ist hingegen der größtmögliche Konzentrationsgrad an Entscheidungskompetenzen bei der Zentrale.  Dies gilt insbesondere für die Kommission als zentrale Macht- und Gesetzgebungsbehörde der EU. Sie ist ganz nach dem jahrhundertealten Muster der französischen Zentralverwaltung aufgebaut. Ein Blick auf Art. 17 des EU-Vertrages lehrt dies auf frappante Art.

Der Kommission stehen demnach unter anderem zu:
Rechtsetzung einschließlich des Initiativrechtes, Beteiligung an sämtlichen Rechtsetzungsakten der EU; Erlass von zwingenden Durchsetzungsbestimmungen; Erlass von zwingend einzuhaltenden Richtlinien; Entscheidungen im Verwaltungsvollzug; Kontrollaufgaben (Vertragsverletzungsverfahren; Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen; Genehmigung bzw. Nichtgenehmigung der Abweichungen von unionsrechtlichen Regeln).

Als ewig strahlender Vordenker eines monistischen Staatsverständnisses muss Thomas Hobbes gelten; Machtverteilung, Gewaltentrennung, ein System an „Checks and Balances“, wie es das westliche Demokratiemodell und insbesondere die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland auszeichnet, war ihm ein Symptom der Krankheit und des Zerfalls, ein Greuel, der letztlich zu Liederlichkeit, Staatsauflösung und verheerendem Bürgerkrieg geführt habe. Hobbes geißelt die Lehre von Gewaltentrennung sogar ganz ausdrücklich, nennt sie eine wahnhafte Ausgeburt der Gehirne  von Politlaien, von Juristen, die keine Ahnung von echter Machtausübung hätten. Es lohnt sich, seine Begründung im Original nachzulesen. Wir finden sie im Kapitel 29 des 2. Buches seines Leviathan von 1651:

There is a sixth doctrine, plainly and directly against the essence of a Commonwealth, and it is this: that the sovereign power may be divided. For what is it to divide the power of a Commonwealth, but to dissolve it; for powers divided mutually destroy each other. And for these doctrines men are chiefly beholding to some of those that, making profession of the laws, endeavour to make them depend upon their own learning, and not upon the legislative power.

 Posted by at 17:21

Die EU – Staatenverbund oder Träger vergemeinschafteter Souveränität? Zu BVerfGE 89,155

 Europäische Union, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Die EU – Staatenverbund oder Träger vergemeinschafteter Souveränität? Zu BVerfGE 89,155
Aug 162015
 

Kommt der Europäischen Union mittlerweile Souveränität im Sinne der klassischen Staatsrechtslehre zu, oder ist sie weiterhin ein Staatenverbund, der ausschließlich kraft vertraglicher Vereinbarungen zwischen Staaten, als den eigentlichen Legitimationsquellen, die rechtsetzende Gewalt ausübt?

Das ist die entscheidende Frage. Das Bundesverfassungsgericht bestreitet entschieden die Staatsnatur der Europäischen Union („Maastricht-Urteil“, BVerfGE 89, 155). Die Richter befinden sich damit erkennbar in einer Minderheitenposition gegenüber den heute maßgeblichen europäischen Politikern.

Demgegenüber beanspruchen europäische Politiker wie Juncker, Prodi, Hollande, Renzi, manchmal auch Merkel ganz offenkundig eine übergeordnete Rechtssetzungskompetenz der EU: die das nationale Recht der Verfassungsstaaten brechende Wirkung der EU. Sie ist zum Beispiel in folgendem Satz manifestiert, der ursprünglich in leicht anderer Fassung Christine Lagarde zugeschrieben wird: „We have to break the law to save the euro.“  Der Euro steht folglich über dem Recht. Er ist das summum bonum der EU-Politik.

Sie praktizieren bereits jetzt de facto die vergemeinschaftete Souveränität, welche laut deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit rechtswidrig wäre.  So wird die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gewissermaßen ausgehebelt und eingeklammert. Wollen wir das? Oder ist die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland erhaltenswert?

Zur Einführung empfohlen:
Matthias Herdegen: Das System der Europäischen Union als „Staatenverbund“, in: M. Herdegen: Europarecht. 13. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 72-76

 Posted by at 10:52

Der europäische Leviathan schwingt seinen Zauberstab

 Europäische Union, Leviathan, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Der europäische Leviathan schwingt seinen Zauberstab
Aug 142015
 

Leviathan 20150814_171225[1]

Ganz um den Begriff der „geteilten Souveränität“ kreist die lebhafte Debatte über das weitere Schicksal der Europäischen Union. Für die führenden Politiker Frankreichs und Italiens ist der Euro offenbar jetzt der entscheidende politische Hebel, um die ersehnte gemeinsame Souveränität der EU über die Mitgliedsländer der Eurozone zu erreichen. Maßgebliche Politiker Frankreichs und Italiens verlangen in zunehmend schärferem Tonfall das Verschmelzen der einzelstaatlichen Souveränitäten zu einer gemeinsamen Hoheit, zu gemeinsamer Entscheidungsmacht der EU über die Staaten. Sie wollen die EU als Neuen Leviathan, der über die nationalen Verfassungsorgane herrschen möge. Das scheint – der Presse in Italien und Frankreich nach zu urteilen – eindeutig die Linie zu sein, auf die sich mittlerweile Italien und Frankreich verständigt haben. Sie wollen offenbar den Widerstand der Bundesrepublik Deutschland gegen die schrankenlose Schulden- und Transferunion brechen, indem sie bereits jetzt die Schuld an einem, wie sie selbst einräumen, durchaus möglichen Auseinanderbrechen der Eurozone eindeutig und einseitig Deutschland zuschreiben. Belege dafür lassen sich zuhauf beliebig aus der Tagespresse entnehmen.

So schreibt heute in der französischen Le Monde Romano Prodi, der ehemalige Kommissionspräsident, auf S. 12: „Ne laissons pas l’Allemagne dénaturer le projét européen“ – „Wir dürfen nicht zulassen, dass Deutschland das europäische Projekt verdirbt.“ Prodi verlangt einen gemeinsamen Widerstand gegen das deutsche Konzept der „Einflusszonen“, nicht ohne daran zu erinnern, dass es die Politik der europäischen Integration gewesen sei, die es Deutschland erlaubt habe, „seine nationale Einheit wiederzufinden und eine ständig stärkere wirtschaftliche Stellung zu erreichen“. Mit anderen Worten: Ohne die europäische Integration hätte es keine deutsche Wiedervereinigung gegeben.

Leidenschaftlich, ja kämpferisch spricht sich Prodi dagegen aus, die Macht der Europäischen Kommission zu beschränken, wie dies Deutschland derzeit anstrebe.  Er beruft sich dazu auf Art. 17 des EU-Vertrages, der bekanntlich festlegt: „Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus. Die Mitglieder der Kommission dürfen unbeschadet des Artikels 18 Absatz 2 Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen.“

Prodi fordert: „Wir dürfen die Europäische Kommission nicht schwächen, denn dies würde zum Zerfall der Union führen.“

Schwächung der Europäischen Kommission mit anschließendem Zerfall der EU, das befürchtet Romano Prodi also von der Politik der Bundesrepublik Deutschland. Er fordert die anderen Länder der EU unmissverständlich dazu auf, Deutschland in den Arm zu fallen.

Aber auch ein Romano Prodi äußert sich nicht zur staatsrechtlichen Legitimität der EU-Kommission. Sicher, sie vereint in sich exekutive, legislative und judikative Befugnisse. Sie ist nämlich erstens wie eine Regierung politisch bestimmende und administrativ ausführende Behörde, die Verwaltungsakte erlässt, die unmittelbar geltende Rechtswirkung in den Mitgliedsländern entfalten können. Sie gibt laut EU-Vertrag – wie der Bundeskanzler – „die Richtlinien der Politik vor“. Sie ist zweitens wie ein Parlament gesetzgebende Gewalt, die Richtlinien erlassen darf, denen die Mitgliedsländer ohne Widerstandsrecht zu folgen haben. Und sie ist drittens die „Hüterin der Verträge“, also eine Art Gerichtshof über die Mitgliedsländer.

Sie wäre also genau die absolut über die Bürger herrschende Institution, die Thomas Hobbes für einen starken Staat, für seinen Leviathan  fordert: Bündelung der ausführenden, gesetzgebenden und richtenden Gewalt.

Die EU-Kommission ist ein Geschöpf aus dem Geiste eines Thomas Hobbes; sie ist dem Prinzip der Gewaltenteilung, wie es Montesquieu oder John Locke gefordert haben, diametral entgegengesetzt. Wollen wir das? Sollen wir uns diesem Neuen Leviathan unterwerfen?

Der Euro ist der machtvolle Hebel, mit dem der Neue Leviathan sein großes europäisches Projekt umzusetzen beginnt. Prodi ist einer der vielen Herolde des Neuen Leviathans.

In genau diesem Sinne schreiben – hier nur beispielhaft zitiert – am 31.07.2015 in der Monde Harlem Désir, französischer Staatssekretär für Europafragen, und Sandro Gozi, italienischer Staatssekretär für europäische Angelegenheiten:

L’euro est en effet bien plus qu’une monnaie. C’est un projet politique, une souveraineté partagée pour renforcer nos économies, notre croissance, l’emploi et donc finalement nos sociétés dans la mondialisation.

Source: L’euro n’est pas une question monétaire mais politique

Der Euro soll also als „politisches Projekt“ einer „geteilten Souveränität“ dazu dienen, „unsere Volkswirtschaften, unser Wachstum, die Beschäftigung und schließlich unsere Gesellschaften in der Globalisierung  zu stärken“.

Warum sollen wir einfachen europäischen Bürger diesen Schalmeientönen, dieser Begriffslyrik glauben? Nichts davon ist doch seit 1999 bzw. 2002 eingetreten! Nein. Der Euro – oder die Regierungszeit seiner Majestät des Euros – hat doch gerade in Italien, Spanien und Frankreich das Gegenteil herbeigeführt: Schrumpfung oder Stagnation der Volkswirtschaften, verheerender Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit, zu hohe Dauerarbeitslosigkeit, zu starker Anstieg der Staatsverschuldung, wachsender Rückstand gegenüber vergleichbaren Räumen.

Das ehrgeizige Projekt des Neuen Leviathans, die Europäische Union mit ihrem famosen Zauberstab, dem Euro in all seiner Glorie, wirft eine Vielzahl ungeklärter Fragen auf.

Wir einfachen europäischen Bürger wollen auch einmal gefragt werden!

 Posted by at 16:47

„Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“

 Europäisches Lesebuch, Haß, Staatlichkeit, Tugend, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für „Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“
Aug 102015
 

Schloss Wusterhausen20150808_173017

Unser denkwürdiger Besuch vorgestern im Jagdschloß Wusterhausen! Die ungelenken Malübungen des Königs, aufgehängt im Festsaal des Schlosses, verfehlten in all ihrer grotesken Übertreibung eine anrührende Wirkung nicht. Man merkt den Bildern an, aus welchen körperlichen und seelischen Schmerzen sie entstanden sein müssen. „Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen“, bemerkt der König selbstkritisch einmal. Der König hatte Wassersucht und Gicht, das Malen war seine Ergotherapie. „Nun malte König Friedrich Wilhelm seine Bauern, wie er vordem immer sein Gesinde zu porträtieren pflegte, als sei ein treues Gesicht so rar, daß man es festhalten mußte! Fünf Tage brauchte König Friedrich Wilhelm für ein Bild; und wenn er gar zu große Schmerzen hatte, ließ er sich auch noch die Umrisse vorzeichnen“, schreibt Jochen Klepper in seiner Biographie „Der Vater. Roman eines Königs“.

„Ich muß sagen das ich mich nit Ruinieren kan weitter mein geldt wegzuschmeißen und ich es vor Gott und meine kinder nit verandtworten kan da Preußen mir klug gemachet. graben Bauen viehe kauffen ist aus und werde mit Gottes hülfe kein pfen mer verquaquelen den ich die Risee bin gewehsen von der gantzen Weldt und meine schöne verfassung armée und alles übern hauffen zu gehen sehr sehr nahe gewesen“

So äußerte sich – hier in originaler Schreibung wiedergegeben – König Friedrich Wilhelm I., als ihm eins der kühnsten Infrastrukturprojekte des 18. Jahrhunderts, der Elbe-Havel-Kanal vorgelegt wurde. Die damals nur vorgedachte, durchgehend schiffbare Verbindung zwischen Elbe und Havel wurde erst im 20. Jahrhundert hergestellt.

Man sieht: der Staatsbankrott, die Zahlungsunfähigkeit des Staates waren zu Beginn der Regierung von Friedrich Wilhelm I. nicht nur ein Schreckgespenst, sie waren eine echte Gefahr! Die Mittel gegen den drohenden Staatszerfall, die im Laufe der Jahre 1713-1740 zum Erfolg führten, dürften zum Teil überzeitlich gültig sein: Pflichttreue, Sparsamkeit (beginnend bei der Hofhaltung), drastische Sparmaßnahmen, Landesausbau, Förderung und Ansiedlung der Gewerbe, Ausbildung der Bauern und Bäuerinnen in Haus- und Feldwirtschaft,  Ansiedlungsmaßnahmen in schwachbesiedelten Gebieten – etwa im Oderbruch und im pestverheerten Litauen, gezielte Ansiedlung und Aufnahme von Vertriebenen und Asylanten (15.000 Religionsflüchtlinge aus Salzburg!), Kampf gegen Korruption und Bestechlichkeit, Verwaltungsreformen, Straffung der Administration, Herausbildung einer absolut loyalen Beamtenschaft, Beschneidung der Privilegien der oberen Stände.

Dann aber auch der Haß, das tiefe, unheilbare Zerwürfnis mit dem eigenen Sohn! „- er eigensinniger, böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet!“, schreibt der Vater dem Sohn.  Klepper merkt an: „Der einundvierzigjährige Mann und der siebzehnjährige Jüngling saßen, durch wenige Stufen, Wände und Balken getrennt, am Schreibtisch und klagten sich in Briefen an, als gelte es, aller Welt und künftigen Zeit die Dokumente solcher Erbitterung zu überliefern.“

Die Briefe der beiden sind erhalten. Unfassliche Dokumente des abgrundtiefen Grams, die sich mühelos an die Seite der Gemälde des Königs stellen lassen.  Welches Bild des gequälten, verlassenen,  verworfenen Menschen tritt da hervor?

Quellen:
Jochen Klepper: Der Vater. Roman eines Königs. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 5. Aufl. 1986, hier bsd. S. 488-489, S. 613-614, S. 620-621

„Geschichtsmächtiger Sonderfall der territorialstaatlichen Entwicklung: Brandenburg-Preußen“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 916-920

Bild: Ansicht des Jagdschlosses in Königs Wusterhausen, Aufnahme vom 08. August 2015

 

 Posted by at 17:33

„Was willst du Böser denn für ein Europa, wenn du nicht an die Euro-Religion glaubst?“

 Europäische Union, Grundgesetz, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für „Was willst du Böser denn für ein Europa, wenn du nicht an die Euro-Religion glaubst?“
Jun 232015
 

morgan_goya_pesadilla
Bin ich böse? Ist der Euro das oberste Gut, das Summum bonum der scholastischen Theologie?

Die immer engere Einigung Europas, der Euro sind in meinen Augen kein oberstes Ziel und kein summum bonum.

Das oberste Ziel ist oder sollte sein ein Europa, in dem überall die Menschenrechte geachtet werden, ein Europa, in dem kein Krieg herrscht und das dem Frieden unter den Völkern dient, ein Europa, in dem kulturelle Vielfalt blüht und keine Armut und kein Elend herrschen. Ein Europa der Bürger, in dem alle Menschen das Gefühl haben dürfen, ein Leben zur Entfaltung des eigenen Potenzials nach freier Entscheidung führen zu dürfen. Das reicht vollkommen aus. Wir müssen uns keineswegs zu „immer engerer Union“ zusammenschließen. Die immer engere Union ist kein Ziel, das um jeden Preis zu erreichen wäre.

Politisch glaube ich unverrückbar an die Machtverteilung und an die Gewaltentrennung. Genau das besagt das berühmte „westliche“ Demokratiemodell. „Checks and balances“, der Grundsatz der US-Verfassung, ist hier das unumgängliche Wort. Ich meine: Alle staatliche Gewalt soll streng an die Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt gebunden sein. So fordert es auch das Grundgesetz. So wird das bei uns in der Bundesrepublik Deutschland auch gehandhabt.

Die Europäische Union hingegen kennt den so fundamentalen Unterschied der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung nicht, sondern arbeitet derzeit mit einem unkontrollierten Wildwuchs an Machtverschiebungen, Machtballungen, Machtverwässerungen und Machthäufungen. Mal ist es eine Troika aus EZB, IWF und Kommission, die das Sagen hat, dann heißt es: „Draghis Wille geschehe“. Dann ist es wiederum plötzlich neuerdings eine „Pentarchie“, eine Fünferherrschaft der fünf Präsidenten der EU-Kommission, des EU-Parlamentes, der Eurogruppe, des Europäischen Rates, der EZB. Es herrscht in der EU kein klares Regelwerk, sondern ein unkontrollierter Aufwuchs von Regelneusetzung oder Regelfortschreibung durch die Judikative des EUGH und die Exekutivelegislative bzw. Legislativexekutive der EU-Kommission, der „obersten Gesetzgebungsbehörde“ (was für ein eklatanter Widerspruch in sich selbst!).

Es herrscht in der EU ein institutionelles Durcheinander, in dem die Grundsätze der Gewaltentrennung missachtet werden.

Ich glaube:

Wir haben als Bundesrepublik Deutschland keinerlei Anlass, das politische System der Bundesrepublik Deutschland grundlegend umstülpen oder wesentlich transformieren zu lassen durch das ganz anders geartete System der Europäischen Union, das teilweise dysfunktional, teilweise erfolglos und widersprüchlich und teilweise undemokratisch ist und den Grundsätzen des demokratischen Verfassungsstaates widerspricht. Das angeblich „unvollendete Projekt“ der Europäischen Union ist kein Wert, der über den unverletzlichen Grundsätzen des demokratischen Staates stünde.

Das bestehende politische System der Bundesrepublik Deutschland, geschützt und verbürgt durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, ist meines Erachtens vollkommen demokratietauglich, durchaus zweckdienlich, höchst erfolgreich und gegen alle Angriffe von oben und unten, von innen und von außen in hohem Maße schützenswert.

Von einem grundlegenden Umbau der bestehenden politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, wie er allerdings nach jetziger EU-Politik unvermeidlich wäre, halte ich nichts; es gibt dafür keinen Grund.

Schlussfolgerung: Die EU muss sich reformieren, nicht die Bundesrepublik Deutschland.

Bild: Europa auf dem Stier – ein Albtraum? „Pesadilla“. Zeichnung von Francisco Goya. The Morgan Library Museum

 Posted by at 14:07

Ist’s Abendland, ist’s Morgenland?

 Der Westen, Europas Lungenflügel, Verfassungsrecht, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Ist’s Abendland, ist’s Morgenland?
Jan 272015
 

Was meint eigentlich der vielstrapazierte Begriff  „Abendland“, der „Westen“, the „West“, „l’Occident“?

In alten Holzschnitten und Landkarten steht oft „Abend“ gleichbedeutend mit Westen, „Morgen“ mit Osten,“ Mittag“ mit Süden, „Mitternacht“ mit Norden.

Ich schlage vor, die Wörter Abendland, Okzident und Westen für die Zwecke dieser Betrachtung weitgehend synonym zu verwenden – zumal in den „westlichen“ Sprachen Englisch, Französisch und Italienisch ohnehin keine Scheidung der beiden Begriffe „Westen“ und „Abendland“ möglich ist.

„Der lange Weg nach Westen“, so fasst Heinrich August Winkler seine magistrale zweibändige Gesamtschau der deutschen Geschichte von 1806 bis 1990 zusammen. Der „Westen“, die „westliche Wertegemeinschaft“ steht bei H. A. Winkler und bei unzähligen anderen, meinungsprägenden Gelehrten, Intellektuellen und Politikern für „Rechtsstaat, Verfassungsstaat, Bundesstaat, Sozialstaat, allgemeines Wahlrecht und Parlamentskultur“ (Bd. I., S.2). Aufklärung, Sittlichkeit, Rechtsstaat, Demokratie kommen von „Westen“ her nach Deutschland, das gewissermaßen hin- und herschwankend zwischen dem fortschrittlichen, aufgeklärten Westen (dem Abendland) und dem rückständigen, autoritären, autokratischen Osten mühsam und unter unsäglichen Opfern seinen Weg gefunden habe.

Erst mit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 habe Deutschland unverrückbar seinen Platz im Westen, im „Abendland“ also erhalten. Winkler schreibt: „Deutschlands Weg nach Westen war lang und auf weiten Strecken ein Sonderweg“ (Bd. II. S. 657). Wir dürfen das so verstehen, dass der Begriff des deutschen Sonderweges endgültig widerlegt sei: er sei gewissermaßen in sich erloschen.

Hochschätzung des europäischen Westens, Herabsetzung bzw. Unkenntnis des europäischen und asiatischen Ostens, das ist in der Tat eine fundamentale Grundkonstante unter den tonangebenden Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland. Das deutsche Vernichtungslager Auschwitz, dessen Befreiung durch die östlich-sowjetische Armee wir heute mit Tränen gedenken, wird so mitunter als Absage an die „westliche“, die „europäische“ Wertegemeinschaft gedeutet, als Verleugnung all dessen, was die „westliche Wertegemeinschaft“ ausmache, ja sogar als „asiatische Tat“ (Ernst Nolte). Ein absoluter Tiefpunkt! Darauf möchte man erwidern: Laßt uns weinen, umschränkt von Nacht; den Westen für gut und friedfertig zu halten, den Osten für gewaltgeneigt und rückständig – das ist eine allzu einfache, allzu holzschnittartige Darstellung. Könnte sie auch falsch sein?

Wie kam es aber zu diesem Spaltungsbewusstsein, zu dieser Dichotomie von Morgenland und Abendland, von Ost und West?

Eine entscheidende symbolische Wegmarke der Trennung Europas in „Abendland“ und „Morgenland“, in Westen und Osten, ist zweifellos das Morgenländische Schisma vom 16. Juli 1054: Papst Leo IX. lässt die Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia in Konstantinopel niederlegen, daraufhin beruft Patriarch Michael Kerullarios eine Synode ein und erklärt dem Papst seinerseits den Kirchenbann. Ostkirche und Westkirche hatten damit einander für ungültig, für minderwertig erklärt.

Seither herrscht eine scharfe, aber bis zum heutigen Tag wirksame Scheidelinie zwischen Ost und West in Europa. Der Westen, das Abendland, ist lateinisch geprägt, er übersetzt die Bibel aus dem Lateinischen in die Volkssprachen, der Osten ist griechisch-slawisch und zunehmend arabisch-türkisch geprägt, er übersetzt die Bibel aus dem Griechischen in die Volkssprachen.

Ein großer Teil des christlichen Morgenlandes wird in der unmittelbaren Folge des Morgenländischen Schismas islamisch erobert. In weiten Teilen des Ostens  gilt der Koran als Wort Gottes. Der seldschukische Sieg von Mantzikert/Malazgirt im Jahr 1071 und die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed den Eroberer im Jahr 1453 schaffen die Grundlage für das, was man früher gern als islamisch geprägtes „Morgenland“ bezeichnete.

Aus der europäischen, der weltgeschichtlichen Gesamtschau gehören  – so meine ich entgegen der Geschichtskonstruktion H.A. Winklers – die deutschen Territorien in politischer wie auch kultureller Hinsicht seit Otto I. stets unverrückbar zum europäischen Westen; zwischen Westen und Osten hin und her schwanken, einen west-östlichen Sonderweg beschreiten insbesondere die östlich von Deutschland gelegenen Gebiete, namentlich die Polnisch-Litauische Union unter den Jagiellonen und die Gebiete der heutigen Ukraine.

Die in der historischen Tiefenprägung wirksame Spaltung Europas in Osten und Westen wird auch heute noch bis in die tagespolitischen Verwerfungen hinein verhandelt, meist nur mit Worten und mit Schweigen; oft dreht sich der Streit um Schuld und Schulden;  aber leider wird derzeit auch mit Waffen gefochten.

Lese-Empfehlungen und Belege:
Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. München 2000 [Bd. I], hier vor allem S. 1-13; Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933-1990.München 2000 [Bd. II], hier vor allem S. 640-657
Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte. 35., völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg im Breisgau 2008, hier vor allem S. 609-619, S. 644

 Posted by at 14:58
Dez 102014
 

20141025_102612

Zu den Professoren an der Leukorea in Wittenberg zählte neben Melanchthon auch zeitweilig Giordano Bruno. Von ihm sah ich im Oktober dieses Jahres, hinter dickem Panzerglas ausgestellt, hingerissen seinen handschriftlichen Stammbucheintrag „Nihil sub sole novum“ im Lutherhaus. Ich hege keinen Zweifel, das Original dieses Eintrags gesehen zu haben.

Bruno lehnte den Begriff des radikal Neuen ab. Das, was uns als neu erscheint, erscheint eben nur so. „Von der Sonne aus betrachtet“, „im wesentlichen“, war es immer schon, ist immer, und wird auch wieder sein.

In der Weltgeschichte vermag man mit einigem Suchen mehr und mehr Spuren der Wiederkehr des Immergleichen zu erkennen. So wogt die Debatte über die verschleppte, die verschlafene EU-Reform derzeit um den Begriff des Wirtschafts-„Direktoriums“, des Directoire, wie es ähnlich bereits in den Jahren 1795-1799 in Frankreich installiert wurde.  Sinn des Directoire war es nach dem großen Terreur, durch ein mit 5 „Direktoren“, 8 „Ministern“ und 5 „Kommissaren“ besetztes Kontrollgremium den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Das Vorhaben scheiterte, der Staatsbankrott war so nicht abzuwenden, Napoleon ergriff die Macht; der Versuch der Lenkungswirtschaft führte zu einer Wiederauflage des Kaiser-Gedankens. Nil sub sole novum!, hätte Bruno wohl ausgerufen.

Giscard d’Estaing empfiehlt nun nachdrücklich in seinem neuen Buch „Europa“ eine Neuauflage der Directoire-Verfassung! Und er nennt das oberste Lenkungsgremium sogar ganz ausdrücklich Directoire.

Genau dieses „Directoire“ scheint auch die Keimzelle des Gedankens der „Gouvernance économique“, der „Wirtschaftslenkung“ zu sein, wie sie seit Jahren in der EU-Debatte gefordert wird und wie sie Jean-Claude Juncker offenkundig favorisiert.

In klarem Gegensatz zur Directoire-Verfassung steht der föderative Aufbau der sozialen Markwirtschaft, wie sie die Bundesrepublik Deutschland bis 1999 verkörperte. Dass der Zentralstaat lenkend und regelnd, steuernd und vorschreibend bis in die Löhne und Gehälter, bis in die Zentralbankzinsen hineinregiert, war in der Bundesrepublik früher undenkbar; erst seit wenigen Jahren ist es durch die aus französischem Geist erschaffene EU-Apparatur hoffähig geworden.

Schwenkt also die Bundesrepublik nach dem Zwischenspiel der „Sozialen Marktwirtschaft“ eines Konrad Adenauer oder Ludwig Erhard jetzt auf die wesentlich ältere Linie des Directoire, der Gouvernance économique ein? Bundesweite Mietpreisbremse, gezieltes Ankurbeln der Inflation, Aufkauf von Staatsanleihen, ABS, Quantitative Easing, Hochpuschen der Geldmenge  usw.usw.: es gibt viele Anzeichen für diese rückwärtsgewandte, diese im Wortsinn reaktionäre Wende der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die Keynesianer in den USA erwarten es von uns, die  hochverschuldeten Euro-Partner erwarten es von uns. Das Directoire, also der engere Führungszirkel der EU-Kommission, soll den größten Wirtschafts- und Währungsraum der Erde retten.

Lesehinweise:
„Das Direktorium“, in: dtv Atlas Weltgeschichte, München 2006, S. 299
„Die französische Verfassung von 1795“, in: Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Cornelsen Verlag, Berlin 2001, S. 119
Valéry Giscard d’Estaing: „Le parcours. La structure institutionelle d’Europa et le Directoire“, in: ders., Europa. La dernière chance de l’Europe. Paris 2014, S. 163-174

 

 

 Posted by at 08:17